Die Zeit - 25.07.2019

(WallPaper) #1

4 POLITIK 25. Juli 2019 DIE ZEIT No 31


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D


ie Proteste in Hongkong
gehen in die siebte Woche;
in der vergangenen Sonn-
tagnacht trat nun eine neue
Gruppe von Akteuren auf
den Plan: Maskierte Män-
ner in Weiß prügelten in einer u-Bahn- Sta-
tion mit Bambusstöcken auf Demonstranten
und Passanten ein. Es wurden 45 Menschen
verletzt. Die Polizei schaute tatenlos zu, was
den Verdacht nährt, dass es sich bei dem
schlagenden Mob um von der chinesischen
Führung angeheuerte Gangs handelte.
Man kennt so etwas vom Festland. Aus der
Sicht von Chinas Machthabern überschritten
aber auch die Demonstranten am Sonntagabend
eine Grenze: Erstmals richteten sie ihren Protest
nicht mehr nur gegen die Hongkonger Regie-
rung, sondern zielten mit Eiern und schwarzer
Farbe direkt auf das Vertretungsbüro der Zen-
tralregierung, dabei wurde das Emblem der
Volksrepublik beschmutzt. lokalen Medien
zufolge zieht die Stadtverwaltung mittlerweile
in Erwägung, den Ausnahmezustand über ein-
zelne Bezirke zu verhängen. Auf einen Einsatz
der Volksbefreiungsarmee will die kommunis-
tische Führung zwar weiter verzichten, so zitiert
die South China Morning Post aus Beratungen in
Peking. Die Hongkonger Polizei soll mit hartem

Durchgreifen für Ordnung sorgen. Aber ob es
damit gelingt, die Stadt wieder unter Kontrolle
zu bringen, ist fraglich. Mit jedem Tränengas-
einsatz stacheln die Polizeibeamten die Radika-
lisierung der Demonstranten weiter an.
Die Attacke des Schlägertrupps auf wehrlose
Passanten, darunter eine schwangere Frau und
Kinder, dürfte die zuletzt abgeebbte Solidarität
der Normalbevölkerung mit den Protestierenden
wieder stärken. Doch das Klima zwischen Hong-
kongern und Festlandchinesen wird unterdessen
schlechter: Nachdem Peking in den ersten Wo-
chen sämtliche Berichte über die Proteste zen-
sierte, ist es den offiziellen Medien inzwischen
gelungen, die Bewegung als Aufruhr separatis-
tischer unruhestifter darzustellen.
Auf viele Chinesen wirken Bilder von Stra-
ßenschlachten verstörend, zu tief sitzt die Angst
vor gesellschaftlichem Chaos. Eine Angst, die
nicht nur in der Regierung, sondern auch unter
den Regierten verbreitet ist.
Allein mit Propaganda ist nicht zu erklären,
warum weite Teile der chinesischen Bevölkerung
die Proteste in Hongkong ablehnen. Auch welt-
läufige, gebildete junge Chinesen zeigen wenig
Verständnis für die Gleichaltrigen in der Sonder-
verwaltungsstadt. Die Entschlossenheit der
Hongkonger rührt unangenehm an die Tatsache,
dass man sich in der eigenen Ohnmacht bequem

eingerichtet hat. und es gibt noch einen anderen
Grund: »Hongkonger sind verwöhnte Bälger,
die jetzt aufheulen, weil sie den Anschluss ver-
passt haben«, solche Sätze hört man in Peking,
Shanghai oder Shenzhen in diesen Tagen oft.
Dahinter steckt die nicht gänzlich un-
berechtigte Annahme, dass nicht nur die For-
derung nach Freiheit die Hongkonger antreibt,
sondern auch der unmut über den fortschrei-
tenden eigenen wirtschaftlichen Bedeutungs-
verlust. Eine Bedeutung, so argumentieren
Festlandchinesen, die Hongkong von den Acht-
zigerjahren an nur deshalb hatte, weil die
ehemalige britische Kolonie investoren als
Brücke zum Festland diente. Damals profitier-
te Hongkong mehr vom chinesischen Auf-
schwung als die Regionen im landesinneren.
inzwischen aber ist das Wachstum in Hongkong
auf ein Zehnjahrestief von 0,6 Prozent gefallen,
während Metropolen wie Shanghai und Shen-
zhen davonpreschen.
Das Naserümpfen vieler Hongkonger über
rüpelhafte Festlandtouristen verstehen man-
che in China außerdem als postkoloniale
Arroganz. Dass einige Aktivisten sich nicht
bloß von der chinesischen Regierung abgren-
zen, sondern überhaupt von allem Chinesi-
schen, trägt dazu bei, dass die Gräben tiefer
werden. XIFAN YANG

W


eil der 41-jährige Wolody-
myr Selenskyj nie etwas mit
der Politik zu tun hatte
und seine Partei auch nicht.
Selenskyj hat es geschafft,
seine politische unberührt-
heit und die idee seiner Komödien-Serie Diener des
Volkes, in der er einen Geschichtslehrer spielt, der
plötzlich Präsident wird, zu einer begehrten Marke
zu verschmelzen. Zu der gehört seine Partei, die
genauso heißt wie die Serie: »Diener des Volkes«.
So wie Wolodymyr Selenksyj die perfekte Projek-
tionsfläche war und Ende April einen historischen
Wahlsieg errang, so gewann nun »Diener des Vol-
kes« dermaßen viele Parlamentssitze wie keine
Partei je zuvor in der Geschichte der ukraine.
Dass die Kandidaten von »Diener des Volkes« teils
über Castings rekrutiert und in der Eile nicht hinrei-
chend überprüft wurden, nie zuvor im Parlament
saßen und zum Teil unbekannte sind, störte die
Wähler nicht. Wieder setzten sie unerfahrenheit mit
unverdorbenheit gleich. Selbst in den Wahlkreisen
gewannen die neuen Gesichter von »Diener des
Volkes« gegen lokale Größen. Die Wähler stimmten
für die Marke Selenskyj, die mit dem Versprechen
vom Neuanfang lockte.
Wolodymyr Selenskyj könnte diesen Neuanfang
wagen. Die Machtbasis dazu hat er, zum ersten Mal
könnte eine Partei ohne Koalition im Parlament
regieren. inhaltliche Festlegungen hat er bisher ver-
mieden, aber an seinem Erfolgsrezept scheint er fest-
zuhalten: so wenig altbekannte Politiker wie möglich
in die Politik zu lassen. Zum Premierminister will
er einen »Wirtschaftsguru« ernennen, der bislang
keine hohen politischen Ämter innehatte, womit die
liste mit möglichen Namen, die seit Wochen kur-
sieren, sogleich überschaubarer wird. Er versprach
außerdem, Referenden einzuführen, die immunität
der Abgeordneten aufzuheben, die Amtsenthebung
des Präsidenten gesetzlich zu regeln. Er will den Ge-
neralstaatsanwalt neu ernennen, den Geheimdienst-
chef und vermutlich fast alle Minister. Bislang
blockierte dies das Parlament. Also flüchtete sich
Selenskyj in populistische Gesten, die ihn zumindest
symbolisch von den alten Eliten distanzierten (und
davon ablenkten, dass noch immer unklar ist, wie
seine frühere Geschäftsbeziehung mit einem Oligar-
chen nachwirkt). Die pompöse Militärparade am
unabhängigkeitstag wurde abgesagt, die Feier soll
in einem »neuen Format« stattfinden; Beamte der
alten Regierung sollen »durchleuchtet« werden,
manche von ihnen warf Selenskyj bereits raus, vor
laufender Kamera. Das kam gut an. Doch nun hat
er keine Blockade mehr zu befürchten, allenfalls
durch die eigene Partei, die politische Heimat für so
unterschiedliche Menschen geworden ist, dass ihm
womöglich Opposition aus der eigenen Fraktion
drohen könnte.
Selenskyj trägt eine immense Verantwortung.
Die Hoffnung der ukrainer, dass sich etwas zum
Positiven ändern werde, ist gewaltig. ihre un-
geduld aber auch. Bereits am Morgen nach der
Parlamentswahl versammelten sich vor Selenskyjs
Amtssitz Hunderte Demonstranten. Einige ver-
langten, dass er das Kirchennamensgesetz seines
Vorgängers kassiere: Das schreibt vor, dass die mit
dem Moskauer Patriarchat verbundene ukraini-
sche Orthodoxe Kirche ihre Zugehörigkeit zu
Russland in ihrem Namen deutlich machen muss.
Andere Demonstranten forderten, dass sie nun,
da eine neue Elite die Macht erhält, endlich für
ihre lebensbedrohliche Rettungsarbeit nach der
Explosion im Tschernobyl-Reaktor 1986 ent-
schädigt werden.
Wolodymyr Selenskyj hat jetzt viele Themen
und keine Ausreden mehr. Sollte er scheitern, dann
an sich selbst und seiner Partei. ALICE BOTA


R


und drei Monate ist es her, da brach-
te die Demokratiebewegung im Su-
dan den Diktator Omar al-Baschir
zu Fall. Rund drei Wochen ist es her,
da vereinbarten Führer der Massen-
proteste ein Übergangsabkommen
mit dem Militärrat, der nach Baschirs Sturz die
Macht übernommen hatte und sie dann nicht
mehr hergeben wollte. Der Anfang vom guten
Ende ist das noch lange nicht. Aber fürs Erste kann
die sudanesische Zivilgesellschaft einen histori-
schen Erfolg verbuchen, der über die Grenzen des
landes hinausstrahlt: Die arabischen Rebellionen
sind mitnichten beendet und gescheitert.
Was zuallererst an den Demonstranten liegt.
Anders als in libyen ist die Bewegung gut organisiert,
angeführt von einem Bündnis unterschiedlicher
Berufsgruppen mit maßgeblicher Beteiligung von
Frauen. Anders als die Ägypter haben sich die Suda-
nesen nicht mit dem Fall des Diktators zufrieden-
gegeben, sondern den Druck auf Geheimdienst,
Militär und vor allem Paramilitärs aufrechterhalten
und die Übergabe der Macht an eine zivile Regierung
gefordert. und anders als in Syrien hat sich das Bünd-
nis mit dem Namen »Kräfte für Freiheit und Wandel«
nicht in die Falle des bewaffneten Widerstands locken
lassen. unter seinem Schirm befinden sich zwar Re-
bellengruppen aus Aufstandsprovinzen wie Darfur.
Doch die haben nie in die Demonstrationen ein-
gegriffen. Auch dann nicht, als am 3. Juni über 100
Teilnehmer eines Protestcamps in Khartum durch
Paramilitärs getötet wurden. Die Folge: Noch mehr
Menschen gingen auf die Straße. Die Taktik des
Terrors war gescheitert.
um die Generale zu einem Übergangsabkommen
zu zwingen, war Hilfe von außen nötig. Vertreter der
Afrikanischen union und des Nachbarlandes Äthio-
pien vermittelten. Großbritannien und die uSA
übten Druck auf den Militärrat und seine unter-
stützer aus: Ägypten, Saudi-Arabien und die Vereinig-
ten Arabischen Emirate.
Das Abkommen, vereinbart am 5. Juli und zwei
Wochen später unterzeichnet, sieht einen Übergangs-
rat aus sechs Zivilisten und fünf Militärs vor, der eine
zivil geführte Übergangsregierung einsetzen soll.
Nach gut drei Jahren sollen freie Wahlen stattfinden.
Doch es droht Gefahr von einem Mann: General
Mohammed Hamdan Dagalo, genannt Hemeti.
Einst Anführer einer der gefürchteten Reitermilizen,
die in Darfur im Auftrag von Baschir Massenmorde
verübten, ist Hemeti zum wirtschaftlich wie militä-
risch mächtigsten Mann im Militärrat aufgestiegen.
Er kontrolliert den lukrativen Goldschmuggel sowie
die Finanzspritzen aus den Golfstaaten. Seine »Rapid
Support Forces« (RSF) vermietet er als Bodentrup-
pen an Saudi-Arabien für den Krieg im Jemen. in
Khartum dominieren die RSF derzeit die Straßen
und werden für das Massaker am 3. Juni verantwort-
lich gemacht.
Hemeti könnte sabotieren, was eine neue Über-
gangsregierung dringend in Angriff nehmen müsste:
wirtschaftliche Reformen mit einem transparenten
Staatshaushalt, um Hyperinflation, Korruption und
die jahrzehntelange ökonomische Verelendung von
Randprovinzen wie Darfur zu bekämpfen. Es geht
ihm nicht nur um seine Pfründen. laut Abkommen
soll eine unabhängige Kommission das Massaker vom


  1. Juni untersuchen. inzwischen kursiert jedoch eine
    Klausel, die hochrangigen Militärs wie ihm absolute
    Straffreiheit zusichern würde.
    Nicht mit uns, rufen immer mehr Mitglieder des
    Demokratiebündnisses. Einige Rebellengruppen
    wollen das gesamte Abkommen in seiner jetzigen
    Form nicht unterstützen. Weitere Gespräche zwi-
    schen Militärs und dem Demokratiebündnis wurden
    vorerst verschoben. Viele Sudanesen bereiten sich auf
    neue Proteste vor. ANDREA BÖHM


... lehnen Festlandchinesen die


Demokraten in Hongkong ab?


... wä hlen d ie


Ukrainer solche


Anfänger?


... protestieren


die Sudanesen


immer noch?


Der Ex-Komiker Selenskyj ist jetzt ein Präsident
mit komfortabler Parlamentsmehrheit

Ein junger Demonstrant in Khartum
zeigt seinen Optimismus

Oppositionelle in der ehemaligen britischen Kolonie reagieren auf die Polizeigewalt mit Militanz

Fotos: Danil Shamkin/imago (r.); Geovien So/ZUMA/dpa (Ausschnitt, m.); Mahmoud Hjaj/AP/dpa (l.)
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