Die Welt - 02.03.2020

(Brent) #1

D


ie politische Linke, insbesondere
die deutsche, muss eine ihrer
momentan prägenden Lebens-
lügen überwinden. Diese besteht
in der Annahme, dass Diskurs-
hoheit einfach mit selbstbewusst
vorgetragenen Haltungen her-
beizureden sei. Was der politischen Linken gerade
abgeht, ist Kärrnerarbeit und Wirklichkeitsbezug. Es
ist ein Unterschied, ob man auf die Wirklichkeit
politische Antworten sucht oder meint, richtige
Werte zu haben, die man der Wirklichkeit über-
stülpen will. Der Handwerkerspruch „Was nicht
passt, wird passend gemacht“ funktioniert in der
Politik nicht. Das „Was sein soll“ darf sich nie von
dem „Was ist“ völlig entkoppeln. Die Arbeit an poli-
tischen Antworten ist dabei genauso anstrengend
wie die Arbeit daran, sich ein differenziertes und
genaues Bild der Wirklichkeit zu machen.
Eine Verantwortungslinke weiß, wie schwer folg-
lich Politik ist, und widersetzt sich dem postdemo-
kratischen Trend der Platzierung von möglichst
stimmungsvollen Kommunikationskampagnen. Wer
Werbeagenturen auf den Leim geht, die meinen,
man könne mit ein paar coolen Slogans von heute
auf morgen alles neu erfinden, der weiß nicht mehr,
was Politik ist.
Der linke öffentliche Fokus liegt heute zu sehr auf
Kommunikation und Marketing anstatt auf der Ar-
beit an Themen. Und es liegt ein zu großer Fokus
der politischen Linken, insbesondere bei der SPD,
auf Fragen der eigenen postulierten Werte anstatt
auf materiellen Interessen ihrer Repräsentierten
und der breiten Masse. Das Materielle – nicht nur
als Sozial- und Steuerpolitik, sondern auch als Um-
welt-, Wirtschafts- und Migrationspolitik – muss sie
zurück in das Zentrum rücken. „Kampf gegen
rechts“, Werbung für die neue bunte Vielfalt der
Gesellschaft, Plädoyers gegen Ausgrenzung und für
Toleranz, sind nett gemeinte Anstandsbekundungen,
wirken aber zunehmend wie ein Leerformeldemo-
kratismus, der als Placebo dient, um nicht in die
offenen Kontroversen der Gegenwart aktiv und
mutig eingreifen und dort mit überlegten Konzepten
und neuen Ideen Stellung beziehen zu müssen.
Hart gesprochen: Diese Art der linken und links-
liberalen Themensetzung ist eine Art Feigenblatt.
Denn man kann so kaschieren, dass man sonst the-
matisch sehr nackt ist. Der Leerformeldemokratis-
mus ist ein Symbol für die heutige Krise der Demo-
kratie und den nahezu logischen Aufstieg des Popu-
lismus in einer Zeit der Leere der Parteien der Mit-
te. Wer glaubt, in mantraartigen Wiederholungen
des Immergleichen die Rückkehr demokratischer
Stabilität herbeireden zu können, der irrt nicht nur,
sondern der geht auch mit seinen Beschwörungen
unter. Die Dominanz einer solchen Weltbildpolitik
schadet insbesondere der politischen Linken – da
diese sich als Avantgarde eines richtigen Weltbildes
präsentiert.
Das kann und sollte man beklagen. Doch der
Zeitgeist hängt in der romantischen Beschwörung,

in der munteren Wiederholung von Glaubensätzen,
in einer Art postmodern-liberalem Biedermeier.
Nennen wir diese momentane geschichtliche Phase
die „postmoderne Romantik“. Diese Romantik wird
abgelöst werden müssen von einem neuen Realis-
mus. Das war schon im 19. Jahrhundert so, wo auf
die Romantik und das Biedermeier nach der Revo-
lution 1848eine neue Phase des Realismus folgte.
Wir erleben eine Wiederholung der Geschichte.
Und in einem normativen Sinn müssen wir auf die
Wiederholung der Geschichte hoffen, nämlich da-
rauf, dass ein neuer Realismus abermals das ro-
mantische Biedermeier überwindet. Aber die politi-
sche Linke muss das bald begreifen. Sonst werden
die neuen Realisten von rechts kommen – zumin-
dest aber die Konservativen werden die neuen Rea-
listen sein.
Die politischen Linken, die einst als Realisten
begannen, man denke nur an Ferdinand Lassalleund
später Rosa Luxemburg, müssten nur zu ihren Ur-
sprüngen zurückfinden. Sie würden sich mit einer
Abkehr vom postmodernen Biedermeier nicht selbst
verraten – vielmehr ist es so, dass sie sich in der
postmodernen Epoche selbst täuschen und „ent-
fremdet“ sind von ihren Ursprüngen. Diese Ent-
fremdung müssen sie nun überwinden.
Machen wir es an einem Beispiel konkret und
fragen, warum die postmoderne Dominanz der Lin-
ken insgesamt schadet. Nehmen wir den „Kampf
gegen rechts“. Dieser Kampf ist sicherlich ange-
sichts steigender rechtsextremer Tendenzen, nicht
nur in Rhetorik und Weltsicht, sondern auch in
Gewalttaten, ein demokratischer Akt der Verteidi-
gung der Grundwerte des Grundgesetzes. Allerdings
gehen mit der postmodernen Form dieses „Kampfes
gegen rechts“ Begleiterscheinungen einher, die die
politische Linke sogar schwächen. Die eigene An-
maßung dieser selbstbezogenen und selbst vor-
genommenen Zuweisung wird selten reflektiert. So
kann die Linke keine Verantwortung tragen. Verant-
wortung impliziert nicht nur Reflexion, sondern
auch eine Urteilskraft, die im Modus des Suchens
agiert.
Verantwortung impliziert, nicht nur im eigenen
Saft zu kochen und zu denken, dass nur alle so den-
ken müssen wie man selbst, damit alles gut werde.
So ist die Realität nicht. Mit selbstreferenziellem
Schulterklopfen sind auch keine politischen Mehr-
heiten zu gewinnen. Vielmehr ist es sogar so, dass
„moralisierende Ächtungskommunikation“ (Heinz
Lynen von Berg) zu nichts anderem führt, als eine
Welle der Abwendung von der Linken auszulösen.
Aus einem moralischen Empörungsdiskurserwächst
nur eine Ausgrenzung derer, die mit guten Argu-
menten zumindest auf Zeit für die politische Linke
zu gewinnen wären.

TNils Heisterhagen (Jg. 1988) ist Politologe
und Publizist. 2014 trat er in die SPD ein. Er war
Grundsatzreferent der IG Metall und der SPD-Land-
tagsfraktion in Rheinland-Pfalz. Gerade ist sein
Buch „Verantwortung“ erschienen (Dietz).

ESSAY


Besseres


NILS HEISTERHAGEN

Die politische


Linke in


Deutschland ist


aus dem Tritt


geraten. Statt


an Themen


zu arbeiten,


setzt sie auf


Marketing und


den „Kampf


gegen rechts“.


So schafft


man keine


gesellschaftliche


Mehrheit


Wer sich für etwas


schreckt die Wähler


hält,


ab


2


02.03.20 Montag,2.März2020DWBE-HP


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2 FORUM *DIE WELT MONTAG,2.MÄRZ


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IMPRESSUM

WWWas Corona für dieas Corona für die


WWWeltwirtschaft bedeuteteltwirtschaft bedeutet


MARCEL FRATZSCHER

H


at die Weltwirtschaft gerade
ihren „Corona-Moment“
erlebt, also den Beginn eines
systemischen, weltweiten Wirt-
schaftsabschwungs? Ähnlich wie nach

systemischen, weltweiten Wirt-
schaftsabschwungs? Ähnlich wie nach

systemischen, weltweiten Wirt-

der Pleite der Investmentbank Leh-
man Brothers im September 2008
könnte der massive Einbruch der
globalen Finanzmärkte – verursacht
durch die Ausweitung des Coronavi-
rus nach Europa und in die USA – der
Auslöser für eine Verhaltensverände-
rung von Investoren, Unternehmen
und Konsumenten weltweit sein, die
im Extremfall eine Rezession aus-
lösen könnte. Man kann nur hoffen,
dass die Politik aus den eigenen Feh-
lern der globalen Finanzkrise 2008/
09 gelernt hat und diesmal dem Ab-
schwung entschlossen entgegenwirkt.
Viele mögen den Vergleich zwi-
schen der Insolvenz von Lehman
Brothers 2008 und der jüngsten Kor-
rektur der Finanzmärkte für über-
trieben halten. Zugegeben, die Aus-
gangslage damals war eine andere als
heute: Viele Banken und Schatten-
banken hatten hohe Risiken in ihren
Bilanzen und nicht das nötige Eigen-
kapital, um sich gegen Verluste ab-
zusichern. Das Finanzsystem und
seine Institutionen sind heute un-
gleich stärker und stabiler. Allerdings
befindet sich die Weltwirtschaft auch
ohne den Coronavirus bereits in einer
prekären Lage. Handelskonflikte,

Brexit, geopolitische Konflikte und
Probleme einiger Branchen wie der
deutschen Automobilbranche machen
die Weltwirtschaft enorm verletzlich.
Hinzu kommen Finanzmärkte, die
sich in den vergangenen Jahren –
auch getrieben durch die global ex-
pansive Geldpolitik – von der Re-
alwirtschaft abgekoppelt haben und
in vielen Segmenten massiv über-
bewertet sind.
Dabei entsteht der bei Weitem
größte wirtschaftliche Schaden nicht
durch die Ansteckung mit dem
Coronavirus, sondern durch die An-
steckung mit einem psychologischen
Virus: der Angst vor dem Ungewis-
sen. Für den Einzelnen in Europa
mag das Risiko größer sein, mit Grip-
pe als durch den Coronavirus an-
gesteckt zu werden. Wirtschaftlich ist
das größte Risiko, dass ein Herden-
verhalten der Finanzmarktteilnehmer
und Verbraucher die Wirtschaft in
eine Abwärtsspirale ziehen könnte,
die schwer zu stoppen ist.
Bis Anfang Februar hatten die In-
vestoren an den weltweiten Finanz-
märkten den Coronavirus noch fast
völlig ignoriert, und die Aktienindizes
jagten von Rekord zu Rekord. Erst die
Ansteckung einiger Menschen in
Italien hat dann dieses Herdenver-
halten umgedreht und einen massi-
ven Einbruch an den Finanzmärkten
verursacht, der schwer zu stoppen
sein könnte. Narrative, Gerüchte und
Ängste könnten dieses Verhalten über
zwei Mechanismen stark potenzieren.
Zum einen entsteht ein Vertrauens-

verlust bei Unternehmen, die sich
sorgen, ob sie notwendige Vorleis-
tungen noch erhalten, ob sie für ihre
eigenen Produkte noch bezahlt wer-
den oder ob sie notwendige Kredite
erhalten. Dies reduziert die Investi-
tionen, den Welthandel und kostet
auch Arbeitsplätze. Für Deutschland
könnte dies vor allem mehr Kurz-
arbeit und möglicherweise einen
Anstieg der Arbeitslosigkeit bedeu-
ten.
Hinzu kommt die zunehmende
Sorge von Verbraucherseite über die
Ausbreitung des Coronavirus. Ge-
rüchte zirkulieren, manche Güter
oder Dienstleistungen könnte knapp
werden. Wichtige Messen wie die ITB
Tourismusmesse in Berlin wurden
abgesagt. Verbraucher verschieben
den Kauf eines neuen Autos, eine
Reise oder den nächsten größeren
Einkauf im Shoppingcenter. So ist
beispielsweise die Nachfrage nach
Neuwagen in China in den letzten
beiden Monaten um bis zu 90 Pro-
zent im Vergleich zum Vorjahr einge-
brochen. Nicht nur einzelne Bran-
chen wie Fluglinien und Reisever-
anstalter oder Städte wie Berlin lei-
den unter der einbrechenden Nach-
frage – es wird die gesamte Volkswirt-
schaft treffen.
Drei Prioritäten sollte die Bundes-
regierung aus wirtschaftlicher Per-
spektive setzen. Zum einen muss sie
versuchen, Stabilität zu gewährleis-
ten, und darf nicht selbst eine Panik
und das Herdenverhalten befeuern.
Grenzschließungen zum Beispiel
könnten über das Ziel hinausschie-
ßen: Sie wären wohl nicht nur recht
ineffektiv, sondern könnten eine
Überreaktion noch verstärken.
Als Zweites sollte die Bundesregie-
rung ein Konjunkturprogramm an-
kündigen und umsetzen. Der Fokus
sollte auf Investitionen liegen, selbst
wenn viele der Maßnahmen erst nach
Monaten oder Jahren greifen mögen.
Dies wäre jedoch ein wichtiges Signal,
dass die Politik nicht nur die Dring-
lichkeit verstanden hat, sondern auch
langfristig die Perspektiven der Un-
ternehmen verbessern hilft. Steuer-
senkungen für Unternehmen wären
dabei wohl recht ineffektiv, denn
diese würde nichts an der Nachfra-
geschwäche ändern. Eine Entlastung
von Konsumenten mit geringen Ein-
kommen dagegen könnte zumindest
einen kleinen stabilisierenden Effekt
haben.
Als Teil dieses Pakets sollte die
Politik den Unternehmen helfen,
Arbeitsplätze zu sichern und Kurz-
arbeit zu finanzieren. Dies war ein
wichtiges Erfolgsrezept während der
globalen Finanzkrise 2008. Dies er-
fordert auch, dass die Politik den
Menschen reinen Wein einschenkt
und sich endlich von der schwarzen
Null verabschiedet. Das dritte Ele-
ment einer wirtschaftspolitischen
Antwort auf den Coronavirus ist eine
internationale Kooperation der G-20-
Länder, um den globalen Handel zu
stärken, Handelskonflikte auszuset-
zen und gemeinsam mit abgestimm-
ten Konjunkturprogrammen die Welt-
wirtschaft zu stabilisieren.
Wenn das größte wirtschaftliche
Risiko des Coronavirus das Herden-
verhalten der Marktteilnehmer und
im schlimmsten Fall eine Panik an
Finanzmärkten sind, bei Unterneh-
men und Bürgerinnen und Bürgern,
dann ist Vertrauen in diesen Zeiten
der Unsicherheit die allerwichtigste
Währung. Dieses Vertrauen muss die
Politik vermitteln, indem sie deutlich
signalisiert, dass sie alle Möglich-
keiten zur Stabilisierung der Märkte
ergreifen wird. Ein kluges und in-
ternational abgestimmtes Konjunk-
turprogramm sollte hierfür ein zen-
trales Element der Strategie der Bun-
desregierung sein.

TDer Autor leitet das Deutsche In-
stitut für Wirtschaftsforschung und
ist Professor für Makroökonomie an
der Humboldt-Universität zu Berlin.

GASTKOMMENTAR


WIR ERLEBEN EINE


SITUATION, DIE


RECHTFERTIGEN


WÜRDE, SICH VON


DER SCHWARZEN


NULL ZU


VERABSCHIEDEN


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