Die Welt - 02.03.2020

(Brent) #1

M


it einem Hochleis-
tungsfernglas auf der
Suche nach Flüchtlin-
gen: So standen Helfer
der NGO Lighthouse
Relief bis heute noch an der Nordküs-
te von Lesbos und suchten die Meer-
enge zwischen Griechenland und Tür-
kei nach übersetzenden Flüchtlings-
boten ab. Mittlerweile hat die Polizei
sie weggeschickt: Wer jetzt noch an-
kommenden Migranten hilft, droht in
Gewahrsam genommen zu werden.

VON MARION SENDKER
AUS LESBOS

Seitdem die türkische Regierung
vor drei Tagen die Grenzen geöffnet
hat, setzen immer mehr Flüchtlinge
auf die Ägäisinsel über. In der vergan-
genen Nacht haben es 200 Migranten,
knapp doppelt so viele Menschen wie
sonst. Behörden und NGOs rechnen
mit tausenden weiteren. Die Bewoh-
ner der Insel machen mobil: „Wir sind
Christen!“, soll Augenzeugen zufolge
eine Gruppe einem ankommenden
Boot am Morgen entgegen gebrüllt
haben. Die Insulaner sollen die Mig-
ranten dann daran gehindert haben,
an Land zu gehen.
Mit Öffnung der Grenzen nach Eu-
ropa verstößt die Türkei gegen einen
elementaren Teil ihres Deals mit der
EU aus dem Jahr 2016. Der sieht vor,

dass Europa der Türkei sechs Milliar-
den Euro zur Verfügung stellt, womit
sie die Flüchtlinge versorgt und von
einer Weiterreise nach Europa abhält.
Zwar klagt Ankara schon länger, dass
die EU das Geld nicht schnell genug
schicke. Tatsächlich sind aber alle fi-
nanziellen Mittel schon vertraglich an
Projekte in der Türkei gebunden. An-
gesichts der unruhigen Lage in Syrien
war zeitweise sogar von einer Neuauf-
lage des Deals die Rede. Die könnte
jetzt aber, nach dem provokanten Öff-
nen der türkischen Grenzen nach Eu-
ropa, erst mal vom Tisch sein. Die
Türkei entfernt sich immer weiter
vom Flüchtlingsdeal, fürchtet der Mi-
grationsexperte Friedrich Püttmann
vom Ideenforum „Turkish Europe Mi-
gration Policy Initiative“.
Dennoch kann er die Türkei verste-
hen: „In Nordsyrien ist mehr als eine
Million Menschen auf der Flucht vor
Bomben in Richtung Türkei – und die
beherbergt jetzt schon in absoluten
Zahlen die meisten Flüchtlinge der
WWWelt. Ohne eine Lösung in Nordsy-elt. Ohne eine Lösung in Nordsy-
rien wird sich die Flüchtlingskrise
wiederholen.“ Die Türkei meldet hohe
VVVerluste in Nordsyrien. Ankara willerluste in Nordsyrien. Ankara will
ganz offenbar mit der neuen Migrati-
ons-Provokation davon ablenken. Der
türkische Staatschef Erdogan wandte
sich am Samstag an Deutschland.
WWWährend es auf Lesbos noch ruhig ist,ährend es auf Lesbos noch ruhig ist,
war die Lage an der türkisch-grie-

chischen Landgrenze am Wochenen-
de eskaliert. Zehntausende Flüchtlin-
ge harren dort bei eisiger Kälte an der
Grenze aus. Es sind vor allem Afgha-
nen, aber auch einige Iraner und Ira-
ker, die teils in von der Türkei bereit-
gestellten Bussen an die Grenze ge-
fffahren sind. In der Türkei droht ihnenahren sind. In der Türkei droht ihnen
die Abschiebung, in Griechenland ist
die Anerkennungsquote, insbesonde-
re für Afghanen hoch.
Griechenland und Bulgarien haben
derweil an ihren Grenzen aufgerüstet:

Am türkisch-griechischen Grenzfluss
Evros steht Militär, viele Migranten
harren dort im Niemandsland aus.
Nur ein paar Hundert Migranten
schafften es offenbar über den Land-
oder Flussweg in die EU. So auch am
Samstagabend 17 Afghanen, mit denen
die griechische Justiz nach ihrer An-
kunft kurzen Prozess machte: Sie
wurden im Schnellverfahren zu drei-
einhalb Jahren Haft wegen illegalen
Grenzübertritts verurteilt. Ein Exem-
pel, das abschrecken soll – und die

Stimmung an der Landgrenze weiter
verschärfen dürfte. Die Menschen
fffühlen sich von der türkischen Regie-ühlen sich von der türkischen Regie-
rung missbraucht und belogen. In ih-
rer Wut werfen manche mit Steinen
nach Grenzbeamten. In der Türkei
machen Vorschläge die Runde, die
Menschen nach Deutschland auszu-
fffliegen. Damit spielt man mit der Sor-liegen. Damit spielt man mit der Sor-
ge der deutschen Regierung vor einer
Wiederholung der Lage von 2015.
Davor fürchten sich auch die Be-
wohner der Ägäisinsel Lesbos. Die
griechische Küstenwache rechnet mit
tausenden Menschen, die übersetzen
werden. Längst patrouillieren mehr
als 50 Schiffe der Küstenwache und
des Militärs in der Meerenge. Nach
der geltenden europäischen Rechts-
auslegung dürften die Schiffe aufge-
griffene Migranten aber nicht zurück
in die Türkei bringen. Sie müssten
nach Griechenland gebracht werden –
und dürften dort Asylanträge stellen.
AAAuf die Bearbeitung solcher Anträ-uf die Bearbeitung solcher Anträ-
ge warten derweil auf den Ägäisinseln
schon 42.000 Menschen. In dem Ört-
chen Moria auf Lesbos hausen mitt-
lerweile 21 Mal so viele Flüchtlinge
wie Insulaner: 21.000 Flüchtlingesind
in dem Registrierungslager, das Kapa-
zitäten für 3.000 Menschen hat. Die
meisten leben im „Dschungel“: So
heißt umgangssprachlich die An-
sammlung von notdürftig und unter
Zuhilfenahme von blauen Flaschende-
ckeln und weißgrauen Planen zusam-
mengezimmerten Zelten, die um das
eigentliche Aufnahmelager herumge-
wuchert sind.
Hier ist rechtsfreier Raum: Selbst
die griechische Polizei traut sich nach
Angaben von NGO-Vertretern nicht
mehr in die von Clans regierte Paral-
lelwelt. Manchmal würden Menschen
einfach verschwinden, heißt es. Viel-
leicht habe die Polizei sie in Abschie-
behaft gesteckt. „Letzte Nacht wurde
wieder jemand erstochen“, erzählt der
1 6-jährige Sultan. Der Afghane ist seit
fffünf Monaten auf sich allein gestelltünf Monaten auf sich allein gestellt
im Camp. Er habe er Angst – und keine
AAAhnung, wie es weitergehen soll. Et-hnung, wie es weitergehen soll. Et-
was weiter im Lager sitzt Ahbdi auf ei-
nem Stein. Der Wind ist eisig, es reg-
net nicht mehr. Der 23-Jährige hält
Zahnbürste und Zahnpasta in der
Hand. Ein Stück Normalität mitten im
AAAusnahmezustand, der für den Mannusnahmezustand, der für den Mann
aus Somalia vor neun Monaten in Mo-
ria begann. „Manchmal endet ein
Streit über Steckdosen in Gewalt.
Letzte Nacht ist der Stromkasten in
Flammen aufgegangen.“ Den Men-
schen im Camp fehlt es nicht nur an
Steckdosen, sondern auch an Heizung,
Toiletten, Medikamenten – und vor al-
lem: Gewissheit über die Zukunft.
Um der Lage wieder Herr zu wer-
den, will die Zentralregierung in
Athen auf Lesbosein geschlossenes
Lager für neu ankommende Flüchtlin-
ge errichten. Dort sollen 5.000 Mig-
ranten quasi eingesperrt werden. Das
neue Lager ist weit von der nächsten
Ortschaft entfernt, als wolle man die
Menschen aus Augen und Sinn schaf-
fffen. Das ist für Vertreter von Nichtre-en. Das ist für Vertreter von Nichtre-
gierungsorganisationen und Insula-
ner nicht nur eine Verletzung von
Menschenrechten. Mit dem geplanten
Internierungslager würde der Status
quo der Insel als Flüchtlingscamp ze-
mentiert. Also haben sie vor Tagen die
Baustelle besetzt und zum General-
streik aufgerufen.

Als dann die griechische Sonderpo-
lizei anrückte, versank Lesbos für ei-
ne kurze Zeit in Straßenschlachten.
Der Grünen-Europapolitiker Erik
Marquardt hat die Proteste direkt auf
der Insel miterlebt. Auf seinem Handy
zeigt er ein Video aus den sozialen
Medien, verdreht die Augen und
spricht von Szenen wie aus einer Star-
WWWars-Episode. Auf dem Mitschnittars-Episode. Auf dem Mitschnitt
von Ende Februar ist zu sehen, wie
sich die Ladeklappe eines Fährschiffes
öffnet. Im Gleichschritt marschieren
dann etwa 200 Männer auf die Insel
Lesbos. Mit ihren weißen Helmen und
den roboterhaften Bewegungen sehen
sie von oben tatsächlich aus wie
Stormtrooper aus dem „Krieg der
Sterne“-Epos.
Die Spezialeinheiten sind mittler-
weile zwar aufs Festland zurückge-
kehrt, aber die Lage bleibt ange-
spannt. Selbst bei den friedliebenden
NGOs ist die Stimmung gekippt. Auf
Fragen von Journalisten reagieren
viele Mitarbeiter gereizt und verwei-
sen auf ihre Pressesprecher, die sich
dann mit nichtssagenden Worten aus
der Affäre ziehen. Die Abwehrhaltung
der Freiwilligen resultiert aus der
WWWut der Insulaner auf sie. „Ohne dieut der Insulaner auf sie. „Ohne die
NGOs hätten wir die letzten fünf Jah-
re zwar nicht überstanden“, sagt Ta-
sos Balis, ein Berater des Bürgermeis-
ters der Inselhauptstadt Mytilini, zu
dessen Einzugsbereich Moria gehört.
„Die Menschen geben ihnen die
Schuld daran, dass immer mehr Mig-
ranten kommen.“ Dabei seien sich
Linke wie Rechte, Insulaner wie
NGOs in einem einig: „Das Problem
auf Lesbos sind nicht die Flüchtlinge
an sich, sondern die Bearbeitung ihrer
Asylanträge.“
Hier hängt der griechische Staat ge-
waltig hinterher: Es gibt mehr als
9 0.000 nicht erledigte Anträge. Ur-
sprünglich sollten die Geflüchteten
auf den griechischen Inseln, die nach
einem individuellen Asylverfahren
nicht als individuell Verfolgte aner-
kannt werden, gemäß EU-Türkei-Ab-
kommen in die Türkei zurückgebracht
werden. Das geht, weil Brüssel die
Türkei als sicheren Drittstaat ansieht.
Migrationsexperte Püttmann weiß
aber: „Dieser Status ist in grie-
chischen Gerichten umstritten, die
insbesondere bei Nicht-Syrern ohne
Asylgrund argumentieren, dass mit
ihnen in der Türkei nicht entspre-
chend internationaler Standards um-
gegangen würde, und dann gegen eine
Rückführung in die Türkei entschei-
den.“ Das sei ein Grund für die hohe
Zahl an Migranten auf den Inseln.
AAAbhilfe sollte ein neues Asylgesetzbhilfe sollte ein neues Asylgesetz
schaffen, das seit Jahresbeginn in
Kraft ist, den Menschen auf den In-
seln eine Residenzpflicht auferlegt
und die Verfahren massiv beschleuni-
gen soll. Binnen weniger Wochen soll
jeder Fall abgearbeitet sein. Bisher
brauchten die Behörden zum Teil Jah-
re pro Antrag. Tasos Balis aus Lesbos
fffasst die letzten Entwicklungen soasst die letzten Entwicklungen so
zusammen: „Während Griechenland
mit den neuen Asylregeln Grundla-
gen schafft, um das Flüchtlingsab-
kommen konsequent umzusetzen,
verabschiedet sich die Türkeide facto
davon.“ Niemand will sich vorstellen,
was passiert, wenn gerade jetzt auch
noch Tausende Menschen über das
Meer auf die griechischen Inseln
kommen.

Die Angst,


dass sich 2015


wwwiederholtiederholt


Auf den griechischen Inseln ist es schon vor der


türkischen Grenzöffnung zu Gewalt


gekommen. Die Ankunft neuer Flüchtlinge


könnte die Lage eskalieren lassen


GRIECHENLAND
Täglich kommen Menschen auf
der Insel Lesbos an, dieser Mann
wärmt sich mit einer Decke

AFP

/ ARIS MESSINIS

7


02.03.20 Montag,2.März2020DWBE-HP


  • Zeit:----Zeit:Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Zeit:-Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: ---Zeit:---Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: :Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: Zeit:Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe: -Belichterfreigabe:
    Belichter: Farbe:Belichter: Farbe:Belichter:






DW_DirDW_DirDW_Dir/DW/DW/DW/DW/DWBE-HP/DWBE-HP
02.03.2002.03.2002.03.20/1/1/1/1/Pol4/Pol4 PKRUEGE1 5% 25% 50% 75% 95%

DIE WELT MONTAG,2.MÄRZ2020* POLITIK 7


W


as lachst du, Erdogan?, frag-
ten am Samstagabend viele
türkische Bürgerinnen und
Bürger. Der Hashtag #NeGülüyorsun-
Erdoğan stand am Abend mit über
200.000 Tweets auf Platz zwei der welt-
weiten Trending Topics, also der am
meisten genutzten Hashtags. Der Hin-
tergrund: Türkische Oppositionelle
werfen dem Staatspräsident Recep
Tayyip Erdogan mangelnde Anteilnah-
me und fehlende Ernsthaftigkeit vor.

VON DENIZ YÜCEL

Nach dem Angriff der syrischen
Luftwaffe in der Islamistenenklave Id-
lib am Donnerstagabend, bei dem laut
jüngsten Zahlen 36 türkische Soldaten
starben, überließ es die türkische Re-
gierung einem Provinzgouverneur, die
Öffentlichkeit zu informieren. Auch
am Freitag, als die Türkei die Grenzen
nach Europa öffnete, blieb der sonst
nicht gerade schweigsame Staatspräsi-
dent abgetaucht. Umso größer fällt
nun die Verwunderung nach seinem
ersten Auftritt aus.
Insbesondere eine Stelle seiner 37-
minütigen Rede vor Parlamentsmitglie-

dern im Istanbuler Dolmabahce-Palast
erregt die Gemüter. Darin gab Erdogan
ein Gespräch mit US-Präsident Donald
Trump wieder: „Gestern Nacht hat
Trump mich gefragt: ‚Was will Putin da?‘
Ich habe gesagt: ‚Die haben in Qamisch-
li eine Öl-Sache.‘ Er hat gefragt: ‚Da gibt
es Öl?‘ Ich habe geantwortet: ‚Ja, da gibt
es Öl. Aber nicht so viel wie in Deir ez-
Zor.‘“ Die Stadt Qamischli liegt im kur-
dischen Nordosten Syriens; das ostsyri-
sche Deir ez-Zor wird ebenfalls von kur-
dischen Milizen kontrolliert. Während
die USA im Oktober ihre Truppen aus
den kurdischen Gebieten größtenteils
abgezogen haben, wurden die US-Ein-
heiten in Deir ez-Zor verstärkt. Darauf
spielte Erdogan an.
Und dieser Witz gefiel ihm offenbar
so gut, dass er ihn lachend erzählte.
Auch das Publikum – Istanbuler Abge-
ordnete seiner Partei für Gerechtigkeit
und Entwicklung (AKP) – quittierte den
Witz mit Beifall und lautem Lachen.
Seither kursieren in den sozialen Me-
dien Videoschnipsel und Fotos des la-
chenden Erdogan, manchmal kombi-
niert mit Bildern seines Schwieger-
sohns Berat Albayrak. Der türkische
Wirtschaftsminister, der ebenfalls im

Publikum saß, schien sich besonders
gut zu amüsieren.
„Während 82 Millionen weinen und
seit Tagen nicht schlafen können, sind
es nur eine Handvoll Leute, die lachen,
und nur einer, der sie zum Lachen
bringt“, twitterte etwa Canan Kaftan-
cioglu, die Istanbuler Vorsitzende der
sozialdemokratischen CHP. Und der
linke Abgeordnete Baris Atay meinte:
„Habt ihr gedacht, niemand würde ‚Was
lachst du, Erdogan?‘ fragen, wenn Kin-
der anderer Leute für die Interessen der
Regierung wie Lämmer auf die
Schlachtbank geschickt werden?“
Und es ist nicht dieser Spruch allein.
Befremdlich und in dieser Situation un-
passend finden es auch viele, dass Erdo-
gan auf ganz andere Themen, etwa auf
die Erfolge der Tourismusindustrie, zu
sprechen kam – oder eine alte Geschich-
te von den Gezi-Protesten vom Früh-
jahr 2013 hervorkramte. „Sie haben die
Valide-Sultan-Moschee drei Tage lang
besetzt. Dort haben wir danach Bierfla-
schen und -dosen aufgesammelt.“
Tatsächlich hatten damals Demons-
tranten für einige Stunden Zuflucht in
der Moschee im Stadtteil Besiktas ge-
funden. Bald darauf kolportierten regie-

rungsnahen Medien, die Demonstran-
ten hätten in der Moschee Bier getrun-
ken. Der Imam der Moschee wider-
sprach und wurde prompt aufs Land
strafversetzt.
Erdogan griff diesen Vorwurf wieder
und wieder auf, um die Demonstranten
und säkulare Oppositionelle generell zu
diskreditieren. Doch dass er jetzt, fast
sieben Jahren nach den Gezi-Protesten,
aber nur anderthalb Tage nach den dra-
matischen Ereignissen in Idlib und an
der türkisch-griechischen Grenze, diese
Geschichte erzählte, verwunderte dann
doch: „Uns fällt es schwer, Sätze zu bil-
den, der Staatspräsident spricht im ge-
fühllosen Ton von Touristenzahlen und
Bier in der Moschee“, twittert beispiels-
weise Yavuz Agiralioglu, Sprecher der
nationalistischen IYI-Partei. „Möge
Gott euch Verständnis und Mitgefühl
und uns Geduld schenken.“
Dazwischen äußerte sich Erdogan
auch zu den drängenden Fragen: „Wir
haben gestern die Tore geöffnet und
werden sie auch nicht schließen“, sag-
te er im Hinblick auf die Öffnung der
Grenze für Flüchtlinge, die nach Euro-
pa möchten. 18.000 Menschen hätten
am Freitag die Grenze überquert, im

Laufe des Samstags könne diese Zahl
noch auf 25.000 bis 30.000 steigen.
Die Türkei könne so viele Flüchtlinge
nicht versorgen und ernähren, die Eu-
ropäische Union müsse ihr Wort ein-
halten und ihren Beitrag leisten. Die
EU-Gelder für die Türkei zur Unter-
stützung der Flüchtlinge kämen zu
langsam an. Er habe Bundeskanzlerin
Angela Merkel darum gebeten, dass die
Mittel direkt an die türkische Regie-
rung gezahlt werden.
Zur Eskalation in Syrien sagte er:
Die Türkei habe dort auf Einladung
des syrischen Volkes interveniert.
„„„Wir haben nicht die Absicht, uns zu-Wir haben nicht die Absicht, uns zu-
rückzuziehen, solange das syrische
VVVolk nicht sagt: ‚Gut, die Sache ist er-olk nicht sagt: ‚Gut, die Sache ist er-
ledigt.’“ Den russischen Präsidenten
Putin habe er aufgefordert, aus dem
WWWeg zu gehen, damit die Türkei demeg zu gehen, damit die Türkei dem
syrischen Regime „von Angesicht zu
Angesicht“ begegnen könne.
Schließlich brachte Erdogan auch sei-
ne Trauer über die getöteten Soldaten
zum Ausdruck. Das klang dann so: „Je-
des unserer Kinder, das in diesem
Kampf als Märtyrer fällt, schmerzt un-
ser Herz. Der Hügel der Märtyrer wird
niemals leer bleiben.“

Der türkische Präsident Recep Tayyip
Erdogan spricht in Istanbul

AP

WWWarum Erdogans Rede für Empörung sorgtarum Erdogans Rede für Empörung sorgt


Das erste Auftreten des türkischen Präsidenten seit der Tötung der Soldaten in Idlib wirkt auf viele seiner Landsleute befremdlich


© WELTN24 GmbH. Alle Rechte vorbehalten - Jede Veröffentlichung und nicht-private Nutzung exclusiv über https://www.axelspringer-syndication.de/angebot/lizenzierung DIE WELT -2020-03-02-ab-22 e53bee7aea52df6615f4b0822f46794c

UPLOADED BY "What's News" vk.com/wsnws TELEGRAM: t.me/whatsnws

Free download pdf