Die Welt - 02.03.2020

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Investitionen des Bundes

Quelle: Statistische Bundesamt

In Millionen Euro

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Baupreisindizes für Wohngebäude und Straßenbau

Quelle: Statistische Bundesamt

Veränderung gegenüber dem Vorjahresquartal in Prozent



       











 Wohngebäude (Neubau,
konventionelle Bauart)

Straßenbau, Ingenieurbau

Staatliche Investitionen ����

Quelle: Statistische Bundesamt

In Milliarden Euro

Bund ��,�

Länder ��,�

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versicherungen

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is zum kommenden Sonn-
tag soll der Investitions-
plan der Bundesregierung
stehen. Eine Arbeitsgruppe
aus hochrangigen Vertre-
tern von SPD, CDU und CSU um Bun-
desfinanzminister Olaf Scholz (SPD)
und Kanzleramtsminister Helge Braun
(CDU) haben unter anderem die Aufga-
be, bis dahin „neue Investitionsbedarfe
zu identifizieren“. Am 8. März will der
Koalitionsausschuss die von der Ar-
beitsgruppe präsentierten Vorschläge
absegnen.

VON KARSTEN SEIBEL

Vor allem SPD und Die Linke zeich-
nen gerne das Bild von einem Land am
Abgrund, mit unbefahrbaren Straßen,
maroden Schulen und viel zu langsa-
mem Internet. Der Staat müsse sehr
viel mehr Geld ausgeben, wird die SPD-
Parteispitze aus Norbert Walter-Bor-
jans und Saskia Esken nicht müde zu
betonen. Sie wirbt für eine 450 Milliar-
den Euro teure „Investitionsoffensive
für Deutschland“, die sich über die
kommenden zehn Jahre erstreckt.
Die Linke hat mehrere Anträge zu
dem Thema in den Deutschen Bundes-
tag eingebracht, um die es zu Wochen-
beginn auch in einer öffentlichen Anhö-
rung einer Reihe von Wirtschaftspro-
fessoren vor dem Haushaltsausschuss
gehen soll. Einer läuft unter dem Titel
„Investitionsstau beenden – Schulden-
bremse aus dem Grundgesetz strei-
chen“. Darin fordert die Fraktion, dass
der Staat in Zukunft wieder ohne Be-
schränkungen Schulden aufnehmen
und Geld ausgeben darf.
Bei allen Unzulänglichkeiten, die es
im Land gibt, bei allen Investitionen,
die auch in den kommenden Jahren nö-
tig sind, deckt sich die Erzählung, dass
der Staat auf seinem Geld sitzt und viel
zu wenig davon ausgibt, nicht mit den
offiziellen Zahlen. Laut Statistischem
Bundesamt steckt Deutschland bereits
mitten im größten Investitionsboom
seit der Wiedervereinigung.
In den vergangenen fünf Jahren sind
die jährlichen Bruttoinvestitionen des
Staates, also von Bund, Ländern, Ge-
meinden und Sozialeinrichtungen, von
60 Milliarden Euro auf 85 Milliarden
Euro gestiegen. Das ist ein Plus von 42
Prozent. Der Großteil davon floss in
den Bau. Diese Ausgaben erhöhten sich
von gut 34 Milliarden Euro auf etwas
mehr als 47 Milliarden Euro im Jahr –
ein Zuwachs von knapp 37 Prozent.
„Die Zahlen zeigen, dass ein Um-
steuern stattgefunden hat“, sagt Claus
Michelsen, der die Konjunkturabtei-
lung des Deutschen Instituts für Wirt-
schaftsforschung (DIW) leitet. Nicht
nur an den absoluten Zahlen, sondern
auch in Relation zur Wirtschaftsleis-
tung des Landes wird die Steigerung
deutlich: Im vergangenen Jahr lagen
die Investitionen bei 2,5 Prozent des
Bruttoinlandsprodukts nach 2,1 Pro-

zent im Jahr 2014. Nach der Jahrtau-
sendwende war die Quote sogar zwi-
schenzeitlich auf unter zwei Prozent
abgesackt. Der deutliche Ausgabenan-
stiegbedeutet nicht, dass dafür eins zu
eins neue Straßen gebaut, Breitbandka-
bel verlegt und Schulen saniert wur-
den. Ein Teil geht auch darauf zurück,
dass der Staat, genauso wie jeder priva-
te Bauherr, heute mehr Geld für die
gleiche Arbeit an eine Baufirma zahlen
muss. Die Preise stiegen laut Statistik
wegen des Immobilienbooms im ver-
gangenen Jahr für den Wohnungsbau
um 3,8 Prozent, beim Straßenbau
schlug der Preisanstieg mit 4,6 Prozent
zu Buche. Die Bauinvestitionen des
Staates erhöhten sich alleine 2019 aller-
dings um fast zwölf Prozent. Das be-
deutet: Es wurde tatsächlich mehr ge-
baut als ein Jahr zuvor.
Die Forderung nach noch höheren
Ausgabenalleine bringt wenig. Torsten
Schmidt, stellvertretender Konjunktur-
chef des RWI Leibnitz-Instituts für
Wirtschaftsforschung in Essen, rekla-
miert angesichts der Steigerungen, dass
in der Politik nach höheren Investitio-
nen gerufen wird, ohne sich überhaupt
einig zu sein, für was das Geld ausgege-
ben werden soll.
„Die Verantwortlichen von Bund,
Ländern und Gemeinden müssen den
anstehenden Strukturwandel gestalten:
Wie soll das Energiesystem aussehen,
wie die Mobilität?“ Erst planen, sprich
den Bedarf ermitteln, und dann das
Geld ausgeben, sei die richtige Reihen-
folge. Auch vor Jahren bereits angesto-
ßene Projekte gehörten vor dem eigent-
lichen Baubeginn noch einmal auf den
Prüfstand, schließlich veränderten sich
die Bedürfnisse über die Zeit, sagt
Schmidt. Eine Fortschreibung des Aus-
gabentrends der zurückliegenden fünf
Jahre hält er aus zwei Gründen für un-
möglich: Da sind zum einen die gerin-
gen Kapazitäten, zudem geht er davon
aus, dass die öffentlichen Einnahmen
wegen einer schwächelnden Konjunktur
eher zurückgehen.
Auch Oliver Holtemöller, stellvertre-
tender Präsident des Leibniz-Instituts
für Wirtschaftsforschung Halle (IWH),
warnt davor, die Investitionen blind zu
steigern. Generell stellten derzeit Eng-
pässe in der öffentlichen Verwaltung
und im Bausektor ein Problem für zu-
sätzliche öffentliche Investitionen dar,
viele zur Verfügung gestellte Mittel
flössen kaum ab.
Und noch etwas gibt Holtemöller an-
gesichts der Investitionswut einiger Po-
litiker zu bedenken. „Der Staat sollte
bei seiner Investitionstätigkeit den zu
erwartenden Bevölkerungsrückgang an-
tizipieren“, sagt er. Nicht dass jetzt
neue Gebäude geplant oder alte saniert
werden, die in einigen Jahren nicht
mehr gebraucht werden. Als Beispiel da-
für nennt er etwa den Verkehrsbereich.
„Die Investitionen in die Verkehrsinfra-
struktur sollten nicht nach politischen
Überlegungen erfolgen, sondern dort,

wo Engpässe bestehen, also hauptsäch-
lich in den Ballungszentren“, sagt Hol-
temöller. Der IfW-Steuerexperte Jens
Boysen-Hogrefe, der beim Institut für
Weltwirtschaft Kiel (IfW) die Analyse
öffentlicher Haushalte verantwortet,
sieht den Engpass vor allem auf Ebene
der Kommunen. Bundesprogramme
würden oft nicht abgerufen, weil gerade
klamme Kommunen keine Planungska-
pazitäten mehr hätten. Umso wichtiger
sei, dass die Bundesländer, die für die
Finanzausstattung der Kommunen zu-
ständig sind, die Verschuldung ihrer
Kommunen ordnen.
Der Bund sollte gleichzeitig aufhö-
ren, die Sozialausgaben den Kommunen
zu überlassen und sie stattdessen selbst
komplett übernehmen. Auch Holtemöl-
ler vom Leibniz-Institut in Halle weist
auf einen Reformbedarf bei der Aufga-
benverteilung zwischen Bund und Kom-
munen hin. Der Bund müsse die Kom-
munen von Aufgaben entlasten, dies er-
mögliche eine stetigere und nachhalti-
gere Investitionstätigkeit auf kommu-
naler Ebene.
Wobei sich auf der Ebene der Kom-
munen die Bruttoinvestitionen in den
vergangenen Jahren sogar leicht über-
durchschnittlich entwickelt haben. 2014
investierten die Kommunen gut 21 Milli-
arden Euro, im vergangenen Jahr waren
es annähernd 32 Milliarden Euro. Das
ist ein Zuwachs von 47 Prozent. Auch
der Bund kommt im Fünf-Jahres-Zeit-
raum auf einen Anstieg von 47 Prozent.
Die Länder weisen seit 2014 dagegen le-
diglich ein Investitionsplus von 31 Pro-
zent aus. Einschränkend muss aber ge-
sagt werden: Der reine Blick auf die
Bruttoinvestitionen gibt nicht das voll-
ständige Bild wieder. Auch die Abschrei-
bungen müssten berücksichtigt werden,
quasi der Verschleiß, sagt DIW-Experte
Michelsen. Wenn die Abschreibungen
über den Bruttoinvestitionen liegen,
heiße dies nichts anderes, als dass Stra-
ßen oder Schienen unbefahrbar werden,
Schulgebäude verfallen.
Dies sei in der Vergangenheit zu lan-
ge geschehen. Die deutlichen Steigerun-
gen der Investitionen in den zurücklie-
genden Jahren sei deshalb kein Grund,
sich zurückzulehnen. „Es geht um die
Verstetigung der investiven Ausgaben,
um einerseits den Verschleiß der Ver-
gangenheit auszugleichen und anderer-
seits den Wirtschaftsstandort wettbe-
werbsfähig zu halten“, sagt Claus Mi-
chelsen
Die kommenden Tage wird das The-
ma im politischen Berlin für reichlich
Diskussionen sorgen. Wobei die aktuel-
le Entwicklung rund um das Coronavi-
rus dazu führen könnte, dass die bishe-
rigen Prognosen zu Wirtschaftsent-
wicklung und damit auch zu Steuerein-
nahmen und Sozialausgaben deutlich
nach unten korrigiert werden müssen.
Dies könnte allzu üppigen Investitions-
wünschen innerhalb und außerhalb der
Bundesregierung dann ein jähes Ende
bereiten.

Der übersehene


Investitionsboom


In Deutschland hat sich der Eindruck


festgesetzt, dass der Staat zu wenig Geld


für Straßen, Schulen und Internet ausgibt.


Dabei zeigen neue Zahlen etwas anderes


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02.03.20 Montag,2.März2020DWBE-HP


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DIE WELT MONTAG,2.MÄRZ2020 SEITE 9

WIRTSCHAFT


Der Handel mit gebrauchten


Smartphones Seite 11


Second Handy


EX-PUMA-CHEF

Jochen Zeitz führt
Harley-Davidson

Der Chef er kriselnden US-Motor-
rad-Ikone Harley-Davidson, Matt
Levatich, nimmt seinen Hut. Als
Nachfolger ernannte das Unterneh-
men den früheren Chef des deut-
schen Sportartikelherstellers Puma,
Jochen Zeitz. Er sitzt seit 2007 im
Aufsichtsrat von Harley-Davidson.
Zeitz soll den Spitzenjob aber nur
vorübergehend übernehmen, bis
eine dauerhafte Lösung gefunden
ist. „Der Verwaltungsrat und das
Führungsteam von Harley-Davidson
werden bei der Suche nach einem
neuen Vorstandschef eng zusam-
menarbeiten“, kündigte Zeitz an.
Der 56-jährige deutsche Topmana-
ger hatte 1993 im Alter von nur 30
Jahren den Chefposten bei Puma
übernommen und den Adidas-Riva-
len in seiner 18-jährigen Amtszeit zu
einem Konzern mit Milliarden-
umsatz aufgebaut.

CINVEN/ADVENT

Aufzugsgeschäft


soll wachsen


Die Finanzinvestoren Cinven und
Advent wollen das Aufzugsgeschäft
nach der Übernahme von Thyssen-
krupp ausbauen. „An Geld für den
Ausbau weltweit fehlt es nicht. Das
können durchaus einstellige Milliar-
denbeträge sein“, sagte der
Deutschland-Chef von Cinven, Bru-
no Schick, dem „Handelsblatt“. Sein
Kollege von Advent, Ranjan Sen,
betonte, dass sie beim Kaufpreis im
selbstgesteckten Rahmen geblieben
seien. Am Donnerstag hatte Thys-
senkrupp seine Aufzugssparte für
17,2 Milliarden Euro an die Finanz-
investoren Advent und Cinven so-
wie die RAG-Stiftung verkauft.

LUXEMBURG

Gratis-Nahverkehr
im ganzen Land

Als erstes Land der Welt hat
Luxemburg den kostenlosen öffent-
lichen Nahverkehr eingeführt. Mit
Ausnahme der ersten Klasse in der
Bahn und bei einigen Nachtbussen
muss künftig niemand mehr für
eine Fahrt mit Bus, Bahn oder Stra-
ßenbahn zahlen. Gleichzeitig sollen
Bus- und Straßenbahnlinien aus-
gebaut werden. Der Einnahme-
ausfall von jährlich 41 Millionen
Euro soll über Steuern ausgeglichen
werden. Luxemburg will damit fi-
nanzschwächere Einwohner unter-
stützen und die Menschen dazu
bringen, stärker auf ihr Auto zu
verzichten. Bisher sind Staus an der
Grenze sowie im Zentrum der
Hauptstadt an der Tagesordnung.
Die Fahrkartenautomaten in
Luxemburg sollen nun nach und
nach abgebaut werden.

EISWEIN

Erstmals kompletter
Jahrgang ausgefallen

Die Liebhaber von Eiswein gehen in
dieser Saison leer aus. „Der Wein-
jahrgang 2019 wird hierzulande als
der erste Jahrgang in die Geschichte
eingehen, in dem die Eisweinlese
bundesweit ausgefallen ist“, sagt
Ernst Büscher vom Deutschen
Weininstitut in Bodenheim bei
Mainz. In keinem der 13 deutschen
Weinbaugebiete sei die für eine
Eisweinlese erforderliche Mindest-
temperatur von minus sieben Grad
Celsius erreicht worden. Die meis-
ten Betriebe hatten es wohl schon
so kommen sehen: Bei der Land-
wirtschaftskammer Rheinland-Pfalz
meldeten nur 50 Betriebe für ihren
2019er-Jahrgang Rebflächen von
insgesamt 42 Hektar für eine mögli-
che Eisweinlese an. Für sie bedeutet
der ausgebliebene Frost einen To-
talverlust. 2018 waren es noch rund
683 Winzer gewesen. Vor einem
Jahr konnten noch in acht deut-
schen Weinbaugebieten Trauben für
Eiswein gelesen werden.

KOMPAKT


R


und 50.000 zusätzliche Zollagen-
ten benötigt Großbritannien bis
zum Jahresende. Sie werden ge-
braucht, um Unternehmen beim Ausfül-
len der wegen des Brexit nötigen Unter-
lagen zu helfen. Doch Fachleute sind
überzeugt, dass es kaum möglich sein
wird, diese Stellen rechtzeitig zu beset-
zen und genug Personal zu schulen.

VON CLAUDIA WANNER
AUS LONDON

Den zusätzliche Personalbedarf hat
der Transportverband Road Haulage
Association (RHA) berechnet. Der Ver-
band geht davon aus, dass mit Ende der
Übergangsfrist für den EU-Austritt zum
Jahresende bis zu 200 Millionen Aus-
fuhrdeklarationen nötig werden. Dann
also, wenn Zölle und andere Ausfuhrre-
gelungen gültig werden. Im Parlament
bestätigte Vizepremier Michael Gove
vergangene Woche die Schätzungen.
Die Zahl der benötigten Zöllner sei
„nicht weit“ von der Realität entfernt,
hieß es aus seinem Ministerium. Not-
wendig wird das zusätzliche Grenz-Per-
sonal, um die drohende Extra-Bürokra-
tie abzuwickeln. Die gefragten Zoll-
agenten arbeiten teilweise in Bera-
tungsunternehmen, teilweise für Logis-
tiker oder Transportunternehmen.
Zudem werden auf staatlicher Seite
Zollbeamte gebraucht, um Unterlagen

zu prüfen. Zusätzliche Tierärzte und
Biologen müssen lebende Tiere und
landwirtschaftliche Produkte untersu-
chen. Jahrzehntelang waren Zollfach-
leute nur im Handel mit Nicht-EU-Staa-
ten gefragt. Nun muss das Land in Kür-
ze Expertise aufbauen, da bald voraus-
sichtlich für alle Handelsbeziehungen
außerhalb der Insel Ein- und Ausfuhrde-
klarationen notwendig werden. „Die
klare Botschaft ist: Es wird mehr For-
malitäten geben“, sagte Pauline Basti-
don, zuständig für Europapolitik beim
Frachtverband Freight Transport Asso-
ciation. Das gilt für alle Formen eines
Freihandelsvertrags zwischen Großbri-
tannien und der EU, die im Moment
denkbar scheinen. Doch die Details wer-
den erst im Laufe der Verhandlungen,
die am Montag beginnen, klar werden,.
Laut offizieller Verhandlungsmanda-
te streben beide Seiten einen Handels-
vertrag ohne Zölle und Höchstquoten
an. Doch von der ursprünglichen Leitli-
nie, einen möglichst reibungsfreien
Handel mit den EU-27 zu gewährleis-
ten, hat sich die Regierung unter Pre-
mierminister Boris Johnson in den ver-
gangenen Monaten entfernt. Von Vor-
gaben der EU möglichst deutlich abzu-
weichen, gilt inzwischen als zentrales
Ziel des Brexit. Damit werden beim
grenzüberschreitenden Handel unwei-
gerlich mehr Formalitäten und Prüfun-
gen notwendig. Noch dringlicher ist der

zusätzliche Personalbedarf seit Anfang
Februar geworden. Damals hatte Gove
angekündigt, dass ab 2021 im Verhältnis
zur EU „Symmetrie“ gelten solle. An
britischen Grenzen sollten also die glei-
chen Zollverfahren durchgeführt wer-
den wie auf EU-Seite. „Sie müssen ak-
zeptieren, dass es Reibungsverluste ge-
ben wird. Wir werden sie gering halten,
aber sie sind durch unseren Ausstieg
unumgänglich. Ich unterschätze nicht,
dass das eine grundlegende Verände-
rung ist, aber wir haben jetzt Zeit um
diese Änderung umzusetzen.“ Zuvor

rung ist, aber wir haben jetzt Zeit um
diese Änderung umzusetzen.“ Zuvor

rung ist, aber wir haben jetzt Zeit um

hatten die Briten betont, für eine Über-
gangszeit nur minimale Checks durch-
zuführen, um den Handel nicht zu be-
hindern. Hauptsächlich Agrarprodukte
wären von der alten Regelung betroffen
gewesen. „Das hat alles grundlegend ge-
ändert“, sagt Bastidon.
Damit ist auch klar, dass auf offiziel-
ler Seite zusätzliche Vorkehrungen ge-
troffen werden müssen. Um die Kon-
trollen durchzuführen, braucht der bri-
tische Zoll zusätzliches Personal. Au-
ßerdem müssen Flächen ausgewiesen
werden, in den Häfen und im Hinter-
land, wo die Überprüfungen durchge-
führt werden. Während etwa französi-
sche Häfen zahlreiche Vorkehrungen
getroffen haben, ist in Großbritannien
bisher wenig passiert. Betroffen sind
vor allem die Verladehäfen für LKW-
Transporte, Dover im Südosten, die Zu-

fahrt zum Eurotunnel in Folkestone
und Verbindungen nach Irland von Ho-
lyhead, Fishguard oder Liverpool. Die
Hafenbetreiber drängen auf Details,
was sie künftig erledigen sollen, um
bauliche Vorbereitungen treffen zu kön-
nen. So wird im schottischen Hafen
Cairnryan an der Grenze zu Nordirland
geprüft, ob Kontrollen auf dem Hafen-
gelände stattfinden oder auf eine frühe-
re Flugpiste verlegt werden müssen.
Häfen an der Westküste mit Verbin-
dungen nach Nordirland haben mit ei-
ner zusätzlichen Unsicherheit zu kämp-
fen. Boris Johnson hat zuletzt immer
wieder betont, dass beim Transport
nach Nordirland keine Kontrollen nötig
seien. Das Austrittsabkommen mit der
EU sieht diese Prüfungen aber vor. So
sollen Kontrollen an der inneririschen
Grenze obsolet werden.
Sein Unternehmen stelle sich grund-
sätzlich darauf ein, künftig Platz für die-
se Zollkontrollen zur Verfügung zu stel-
len, sagte Ian Hampton von Stena Line
kürzlich der BBC. Das Unternehmen
betreibt Fähren in der Irischen See und
drei Häfen entlang der Küste. Für Un-
ternehmen, die künftig von Kontrollen
betroffen sein werden, ist immerhin ein
staatliches Budget vorgesehen, um Trai-
nings zu finanzieren. Insgesamt 26 Mil-
lionen Pfund (30 Millionen Euro) sieht
die Regierung bis Anfang 2021 für solche
Kurse vor. Ein beträchtlicher Teil des

Geldes wurde seit dem vergangenen
Herbst schon abgerufen.
Trotz solcher Anreize seien viele Un-
ternehmen zurückhaltend, erläutert
Bastidon. Schließlich hätten sich viele
bereits mehrmals – im vergangenen
März, April und Oktober – auf einen
chaotischen Brexitvorbereitet, der je-
weils abgewendet wurde. All diese Maß-
nahmen seien mit Kosten verbunden
gewesen. „Die haben sich schon blaue
Flecken geholt. Viele glauben einfach
nicht mehr, dass Ende Dezember tat-
sächlich die endgültige Deadline ist.“
Vor allem kleineren Unternehmen, die
nur mit der EU handeln, sei oft auch
nicht klar, was die künftigen Zoll- und
Grenzformalitäten für sie bedeuteten.
Nach Schätzungen der britischen Steu-
erbehörde HMRC fallen bis zu 250.
Unternehmen in diese Kategorie. Er-
schwerend kommt nun die rasche Aus-
breitung des Coronavirus hinzu, auf die
Transportunternehmen reagieren müs-
sen. Das lenkt wiederum von den Bre-
xit-Vorbereitungen ab. Klarheit über die
künftige Ausgestaltung von Zollaktivi-
täten sei dringend nötig, appelliert Bas-
tidon. „Jeder Tag ohne eine klare Ant-
wort ist ein verlorener Tag.“ Die Ansage
der Regierung, dass das Land bis 2025,
wenn neue IT-Systemeeingeführt sein
sollen, über die „beste, smarteste und
effizienteste Grenze der Welt“ verfügen
wird, bietet da keine Erleichterung.

Briten suchen bis zum Brexit 50.000 neue Zöllner


Der EU-Austritt Großbritanniens fordert Wirtschaft und Politik. Nun droht die britische Regierung an einem Personalproblem zu scheitern


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