Süddeutsche Zeitung - 02.03.2020

(Nora) #1

Panorama


Das Volk der Samen und der Rest


Schwedens streiten um die Jagd


auf Rentiere 8


Feuilleton


Steven Levy hat ein Buch über Mark


Zuckerberg und seinen Konzern


geschrieben. Ein Interview 11


Das Politische Buch


Der einstige SPD-Vorsitzende


Sigmar Gabriel rechnet


mit seiner Partei ab 13


Wissen


Heftige Brände wie die in Australien


könnten künftig zur Normalität


werden – eine Bilanz 14


Wirtschaft


Fachkräfteaus dem Ausland


können jetzt leichter


in Deutschland arbeiten 15


Medien, TV-/Radioprogramm 20,
Schule und Hochschule 12
Kino · Theater im Lokalteil
Rätsel 20
Traueranzeigen 19


Der Tagbeginnt im Osten mit etwas Re-
gen, es bleibt meist trocken. Im Westen zie-
hen rasch neue Regenfälle heran, die bis
zum Abend etwa eine Linie von Schleswig-
Holstein bis zu den Alpen erreichen. Drei
bis zwölf Grad.  Seite 13 und Bayern

München –Einen Tag nach dem Friedens-
abkommen zwischen den USA und den Ta-
liban hat sich der afghanische Präsident
von einem Teil der Vereinbarung distan-
ziert. Aschraf Ghani sagte am Sonntag in
Kabul, die im Vertrag genannte Freilas-
sung von 5000 inhaftierten Taliban-Kämp-
fern solle Teil der Gespräche mit den Auf-
ständischen werden, die seine Regierung
nun führen wolle.
Die Islamisten hatten zuvor darauf be-
harrt, dass diese Passage Bedingung für
die weiteren Gespräche sei. Auch bestehen
unterschiedliche Meinungen zum Thema
Waffenruhe. Während die Kabuler Regie-
rung darauf pocht, diese gelte bis zum Ver-
handlungsbeginn mit den Taliban weiter,
sehen sich die Islamisten nach eigener Dar-
stellung nicht daran gebunden.

Nach 18-monatigen bilateralen Gesprä-
chen zwischen US-Diplomaten und Vertre-
tern der Taliban hatten beide Parteien am
Samstag in Doha eine mehrstufige, an Be-
dingungen geknüpfte Übereinkunft unter-
zeichnet. Diese soll den seit 2001 herr-
schenden Konflikt beenden. Auf Druck der
Taliban hatte die afghanische Regierung
nicht an den Gesprächen in Doha teilge-
nommen. Das Abkommen soll nun in ei-
nen innerafghanischen Friedensprozess
münden, der innerhalb von zehn Tagen
aufgenommen werden müsse. In dem Do-
ha-Dokument heißt es, die noch in Afgha-
nistan stationierten 13 000 US-Soldaten
und ihre westlichen Verbündeten – darun-
ter auch gut 1100 Bundeswehrsoldaten –
sollten schrittweise bis April 2021 das Land
am Hindukusch verlassen.

Im Gegenzug sichern die Taliban zu,
von Afghanistan solle keine Terrorgefahr
mehr ausgehen. Die USA waren nach den
Anschlägen des 11. September 2001 in das
Land einmarschiert, weil das damals herr-
schende Taliban-Regime Al-Qaida-Chef
Osama bin Laden nicht auslieferte.
Der US-Diplomat Zalmay Khalilzad und
der Chef der Mitbegründer der Taliban,
Mullah Abdul Ghani Baradar, unterzeich-
neten das Abkommen in Doha. Auch US-
Außenminister Mike Pompeo war zu der
Zeremonie gekommen sowie zahlreiche
Außenminister der Region. Ebenfalls am
Samstag traf sich Präsident Ghani in Kabul
mit US-Verteidigungsminister Mark
Esper. Um einen anhaltenden Frieden zu
erreichen, „müssen alle Seiten Geduld und
Kompromissbereitschaft zeigen“, sagte

Esper. US-Präsident Donald Trump teilte
mit, Ziel sei es, „Amerikas längsten Krieg
zu beenden und unsere Soldaten zurück
nach Hause zu bringen“. Trumps ehemali-
ger Sicherheitsberater John Bolton griff
den Präsidenten scharf an. Das in Doha ge-
schlossene Abkommen schade den USA
und sende die falsche Botschaft an Terror-
gruppierungen wie den „Islamischen
Staat“ und al-Qaida.
Der Konflikt zwischen den Taliban und
der vom Westen unterstützten Regierung
in Kabul war jahrelang festgefahren gewe-
sen: Keiner Seite gelang es, die andere zu
bezwingen. Nach einer Erhebung der ame-
rikanischen Brown-Universität sind im Af-
ghanistan-Krieg mehr als 150 000 Men-
schen gestorben. Eine exakte Zahl gibt es
nicht.tobias matern  Seiten 4 und 7

München– Das Coronavirus breitet sich
in Deutschland aus. Seit Freitag sind sie-
ben neue Fälle allein im Großraum Mün-
chen bestätigt worden. Neuansteckungen
wurden auch aus Mittelfranken und dem
Ostallgäu sowie anderen Bundesländern
gemeldet. An diesem Montag gehen in Bay-
ern die Winterferien zu Ende, das Kultus-
ministerium empfiehlt Schülern, die in
Norditalien im Urlaub waren, zu Hause zu
bleiben. sz  Seite 6 und Bayern

München– Wenn deutsche Unternehmen
Personalsoftware einsetzen, um Mitarbei-
ter zu analysieren, könnte das in der Praxis
oft rechtswidrig sein. Das geht aus einer
Studie der Organisation Algorithm Watch
hervor, die derSüddeutschen Zeitungvor-
liegt. Demnach bedarf der zunehmende
Einsatz solcher Programme in vielen Fäl-
len der Zustimmung der Mitarbeiter oder
einer Betriebsvereinbarung. So etwas liege
oft nicht vor.aha  Wirtschaft

Sinsheim– Das 6:0 des FC Bayern am
Samstag bei der TSG Hoffenheim ist von
Protestaktionen der Münchner Anhänger
überschattet worden. Nachdem Schmäh-
plakate gegen TSG-Mäzen Dietmar Hopp
hochgehalten wurden, unterbrach der
Schiedsrichter zweimal die Partie. Viele
Funktionäre der Liga zeigten sich anschlie-
ßend solidarisch mit Hopp. FCB-Klubboss
Karl-Heinz Rummenigge sagte: „Ich schä-
me mich.“ sz  Seite 4 und Sport

Washington –Nach seinem Vorwahl-Sieg
in South Carolina hofft der demokratische
Präsidentschaftsbewerber Joe Biden auf
den „Superdienstag“. Niederlagen in Iowa,
New Hampshire und Nevada hatten den
früheren Vizepräsidenten beinahe aus
dem Rennen um die Kandidatur geworfen,
Biden selbst betonte nach dem Sieg am
Samstag, er sehe seine Kampagne als
„sehr lebendig“ an. Der frühere Stellvertre-
ter von Barack Obama holte dreimal so vie-
le Delegierte in South Carolina wie die
Nummer zwei hinter ihm, der Linke Bernie
Sanders. Der Blick richtet sich nun auf den
„Super Tuesday“, wenn Vorwahlen in 14 US-
Staaten von Maine bis nach Kalifornien
stattfinden. Dann wird auch der Milliardär
Mike Bloomberg bei den Demokraten ein-
steigen, der 500 Millionen Dollar für Wahl-
werbung in den „Superdienstag“-Staaten
ausgegeben hat. Biden hat dort im Ver-
gleich wenige TV-Anzeigen geschaltet. Au-
ßerdem hat er weniger Freiwillige als San-
ders und Bloomberg. Unter schwarzen De-
mokraten verfügt Biden aber über viel
Rückhalt. Der Ausstieg des Milliardärs
Tom Steyer kommt Biden möglicherweise
ebenfalls zugute. sz  Seiten 4 und 7

12 °/-3°


Schon der erste gemeinsame Urlaub war
eine Katastrophe.Die ganze Zeit nichts
als Stress, Nörgelei und Unzufriedenheit.
Die Zeit verging zäh, in den Streitpausen
herrschte Schweigen, und der Tag der Ab-
reise entpuppte sich zunehmend als Sehn-
suchtstermin. Dann die Rückreise, sie
glich einem weiteren Gang durch das Fe-
gefeuer der Beziehungshölle. Gemein-
sam eingesperrt im Auto. Hitze, Stau und
das Gefühl, gleich zu explodieren. Bis zur
Trennung verging trotzdem noch viel Zeit


  • und zurück blieb die quälende Frage:
    Was hat einen nur so lange in dieser Zwei-
    er-Tragödie verharren lassen, die mehr
    Folter als Liebe war?
    Romantische Beziehungen leben von Il-
    lusionen, in guten wie in schlechten Zei-
    ten. Gut möglich also, dass nicht nur das
    Auflodern der Verliebtheit am Beginn ei-
    ner Beziehung, sondern auch der katastro-
    phale Pärchenurlaub in der Phase des Nie-
    dergangs übertrieben gesehen wird. Wie


Psychologen um Aidan Smyth von der Car-
leton University in Kanada berichten, deu-
ten wir Menschen ein gescheitertes Pär-
chendasein in der Rückschau oft um und
verleihen ihm eine unangemessene nega-
tive Färbung. Zu Beginn betrachten Lie-
bende einander durch die rosa Brille. Zer-
bricht das Glück, tauschen sie die Sehhilfe
gegen eine mit dunkel getönten Gläsern.
„Es ist relevant, wie man über seine Ex-
Partner denkt“, schreiben die Wissen-
schaftler imJournal of Social and Perso-
nal Relationships. Sich rückblickend von
einer zerbrochenen Partnerschaft zu dis-
tanzieren, wirke wie eine Art Psychohygie-
ne. Die gemeinsame Zeit nach einer Tren-
nung zu entwerten, mindert den Verlust.
Wer eine Trennung zur Befreiung umdeu-

tet, braucht nicht zu trauern. Das Bedürf-
nis nach emotionaler Stabilität prägt die
Erinnerung. Als die Liebe lebte, war der
Partner ein abenteuerlustiger, spontaner
und romantischer Gefährte. Nach der
Trennung verwandelt sich der Ex-Part-
ner nach und nach in einen sprunghaften,
chaotischen Egoisten. Das hatte doch von
Beginn an keine Zukunft! Manche For-
scher argumentieren sogar, eine schmerz-
hafte Trennung ohne nachträgliche nega-
tive Umdeutung sei kaum zu verarbeiten.
Eine ähnliche Art des „motivierten Den-
kens“ haben Psychologen auch in der An-
bahnungsphase romantischer Beziehun-
gen beobachtet. Wird erotisches Interes-
se zurückgewiesen, finden die Enttäusch-
ten die zuvor Angeschmachteten plötz-

lich oft gar nicht mehr so attraktiv: So in-
teressiert war man ja nun doch nicht.
Wenn etwas unerreichbar ist, dann wer-
tet man es eben ab. So lässt sich eine Plei-
te leichter verdauen.
Die Psychologen um Smyth stellten
aber auch fest, dass der Blick in die Ver-
gangenheit sogar in stabilen Beziehun-
gen übertrieben trüb ausfallen kann. So
glaubten viele der Teilnehmer der Studie,
dass sie einige Monate zuvor weniger
glücklich gewesen waren, als sie seiner-
zeit tatsächlich zu Protokoll gegeben hat-
ten. Auch dahinter verberge sich eine un-
bewusste PR-Abteilung im Kopf, argu-
mentieren die Psychologen um Smyth.
Auf diese Weise erzählen sich Partner klei-
ne Erfolgsgeschichten: Klar, es mag ein
paar Unstimmigkeiten gegeben haben,
aber diese sind überwunden und innigen
Gefühlen gewichen. Ob das stimmt, ist
egal, Liebe interessiert sich kaum für Rea-
lität. sebastian herrmann

von moritz baumstieger
und boris herrmann

München –Nach derAnkündigung der
Türkei, flüchtende Menschen nicht mehr
an der Ausreise nach Europa zu hindern,
verschärft sich die Lage an den EU-Außen-
grenzen. Nach Angaben der UN harren fast
13 000 Menschen an Übergängen nach
Griechenland und Bulgarien aus. Grenzbe-
amte beider EU-Staaten versuchen, illega-
le Einreisen zu verhindern. Die griechische
Polizei feuerte am Wochenende wieder-
holt Tränengas und Blendgranaten ab.
Die Zahl von mehr als 76 000 Geflüchte-
ten, die laut dem türkischen Innenministe-
rium bis Sonntagmittag über die Provinz
Edirne in die EU gereist seien, bestätigten
Athen und Sofia nicht. Das griechische Mi-
grationsministerium gab an, 9600 Einrei-

sen verhindert zu haben. Ankünfte melde-
te die griechische Polizei nur aus der Ägäis.
Etwa 500 Menschen sei die Überfahrt auf
die Inseln Samos, Lesbos und Chios gelun-
gen. Bulgariens Verteidigungsminister sag-
te, „kein einziger Migrant“ habe die Gren-
ze illegal überquert. Regierungschef Boiko
Borissow reist am Montag nach Ankara,
um mit dem türkischen Präsidenten Recep
Tayyip Erdoğan zu sprechen.
Durch die Grenzöffnung will Erdoğan of-
fensichtlich den Druck auf Europa erhö-
hen, seine Syrienpolitik zu unterstützen.
In der Provinz Idlib stellt sich seine Armee
einer Offensive der Assad-Truppen entge-
gen, vor der seit Dezember 950 000 Men-
schen in Richtung der türkischen Grenzen
flüchteten. Bereits heute beherbergt die
Türkei 3,6 Millionen Syrer. 2016 hatte das
Land in einem Abkommen zugesagt, illega-

le Migration zu unterbinden. Im Gegenzug
sollte die EU Hilfszahlungen leisten.
Athen wirft Ankara nun vor, den Trans-
port von Flüchtlingen an die Grenze zu or-
ganisieren, was einen eklatanten Bruch
des Abkommens bedeuten würde. Bei ei-
ner Sondersitzung wollen die EU-Außen-
minister am Donnerstag in Zagreb über
das weitere Vorgehen beraten.
Während Politiker wie Österreichs Bun-
deskanzler Sebastian Kurz warnen, dass
sich eine Massenmigration wie 2015 nicht
wiederholen dürfe, warb der Vorsitzende
des Auswärtigen Ausschusses des Bundes-
tags, Norbert Röttgen, um Verständnis für
die Türkei. Die Drohung, die Grenzen zu
öffnen, sei eine Art „Hilferuf“. Nordrhein-
Westfalens Ministerpräsident Armin La-
schet forderte während seines Israel-Be-
suchs die EU auf, „humanitäre Lösungen“

mit der Türkei und Russland zu suchen, da-
mit „man nicht mit Flüchtlingen spielt und
Flüchtlinge quasi als Druckmittel gegen
Deutschland und Europa einsetzt“.
Die Linken-Politikerin Sevim Dağdelen
nannte Erdoğans Vorgehen im Gespräch
mit derSüddeutschen Zeitung„eine Fort-
setzung seiner Erpressungspolitik“. Erdo-
ğan könne „kein Partner mehr für die Bun-
desregierung sein“. Der SPD-Außenpoliti-
ker Nils Schmid sagte, eine Grenzöffnung
seitens der Türkei wäre „extrem kurzsich-
tig“, sie würde einen „enormen Sogeffekt“
auf neue Flüchtlinge in das Land ausüben.
Grünen-Chefin Annalena Baerbock schlug
eine EU-Kontingentlösung zur Aufnahme
von Migranten von der türkisch-griechi-
schen Grenze vor, für die auch Deutsch-
land seine Flüchtlingsunterkünfte wieder
aktivieren solle.  Seiten 2 und 4

HEUTE


Die SZ gibt es als App
für Tablet und Smart-
phone: sz.de/zeitungsapp

Mitarbeitersoftware


kann rechtswidrig sein



NACHTS

Illusion Liebe


Warum die Erinnerung an verflossene Beziehungen oft so trüb ist


Türkei setzt Europa unter Druck


Erdoğan lässt Migranten ausreisen und erzeugt damit Tumulte an den Außengrenzen der EU.


Berlin will Moskau verstärkt dazu drängen, den Syrienkrieg zu beenden


Friedensabkommen zwischen USA und Taliban wackelt


Die afghanische Regierung sperrt sich gegen die geplante Freilassung gefangener Islamisten


Coronavirus: Schulfrei


für Italien-Rückkehrer


FC Bayern kritisiert


Schmähplakate der Fans


DAS WETTER



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Sie sitzen fest: Geflüchtete bei Edirne an der türkisch-griechischen Grenze. FOTO: OSMAN ORSAL/GETTY IMAGES

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ES (Kanaren): € 3,80; dkr. 29; £ 3,50; kn 30; SFr. 4,

Die große Verunsicherung: Wohin mit dem Ersparten? Die Seite Drei


Gewinnzahlen vom Wochenende
Lotto(29.02.): 3,8, 9, 10, 29, 42
Superzahl: 0
Toto:0, 1, 2, 1, 2, 1, 0, 2, 1, 1, 0, 1, 0
Auswahlwette:1, 7, 11, 13, 16, 27
Zusatzspiel: 31
Spiel 77: 7631914
Super 6:6 0 3 6 6 6 (Ohne Gewähr)
 Weitere Gewinnzahlen:
Wirtschaft, Seite 18

Joe Biden wieder


unter Favoriten


Vorwahlen in den USA gehen
in die entscheidende Phase

(SZ) Die Legislative gilt als ordnende Kraft
höheren Ranges, sie gilt als eine im Grunde
gütige Gewalt, die das ganze Land am Lau-
fen hält. Es ist doch so: Wo immer Steuer-
schlupflöcher klaffen, wo immer Sozialleis-
tungen zu gering ausfallen oder Drohnen
herumbrummkreiseln, stemmen Men-
schen Hände in Hüften und rufen nach
niemand anderem als dem Gesetzgeber,
denn einzig der könne das jetzt regeln. Von
genau diesem Gesetzgeber aber ist immer
häufiger zu lesen, er sei überfordert. Kin-
derschutz, künstliche Intelligenz, Hasskri-
minalität im Internet – physiologisch be-
trachtet ist der Gesetzgeber viel zu tief und
schon viel zu lange im anaeroben Bereich,
er kommt deswegen nicht mehr hinterher,
und manche Kommentatoren haben ihn so-
gar schon hoffnungslos hinterherhinken
sehen. Vermutlich ist die Legislative mitt-
lerweile zu schwach, aus eigener Kraft eine
Art Gesetzgeberstärkungs- und -leistungs-
steigerungsgesetz (GsulG) zu beschließen
und sich auf diese Weise selbst zu helfen.
Die Erfahrung, nicht hinterherzukom-
men, kann demütigend sein. Als Lance
Armstrong einst unter Missachtung aller
Leistungssteigerungsgesetze auf der Fahrt
nach L’Alpe d’Huez davonzog, müssen in
der Seele von Jan Ullrich ein paar Speichen
gebrochen sein. Ähnlich gut lässt sich noch
immer mit dem armen Hasen fühlen, der
erst nicht dahinterkommt, dass er es mit
gleich zwei Igeln aufgenommen hat, und
der diesen Igeln deswegen nie wird hinter-
herkommen können. Anders gelagert sind
die Dinge beim sogenannten Siedeverzug,
wenn zum Beispiel dickliche Soßen später
Blasen schlagen, als die Temperatur es zu-
nächst erwarten ließe. Schwer vorzustel-
len, wie das so ist, als Blase, wenn man erst
einmal nicht hinterherkommt, vielleicht ja
aber auch ganz entspannend.
In jedem Fall kann es nicht schaden, Er-
fahrungen des Nicht-Hinterherkommens
öffentlich zu machen. Immerzu kommt
irgendwer irgendwomit nicht hinterher,
und der Trick in der Bewältigung solcher
Herausforderungen liegt in dem Wissen,
dass es anderen ähnlich geht. So singt der
Liedermacher Gisbert zu Knyphausen,
manchmal glaube er, „dass ich zu langsam
bin für all’ die Dinge, die um mich herum
geschehen. / Doch all’ die Menschen, die
ich wirklich, wirklich gerne mag, sie sind
genauso außer Atem wie ich.“ In dieser ge-
meinschaftlichen Erschöpfung liegt zum
einen die Einsicht, dass der Lauf der Welt
nichts anderes ist als ein nie endendes Rat-
tenrennen, und es liegt zum anderen darin
ein schöner Anfang. Die Erschöpften kön-
nen frohen Mutes aus dem Rennen aus-
steigen und einander stützen. Am besten
ginge das bestimmt bei einem großen Festi-
val, natürlich mit langen Pausen im Pro-
gramm und Slow-Food-Ständen. Falls der
Gesetzgeber hier mitliest, er steht beim ers-
ten Hintertreffen 2020 natürlich auf der
Gästeliste. Am Freitag geht’s los, aber wer
will, kann natürlich gerne nachkommen.


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