Süddeutsche Zeitung - 02.03.2020

(Nora) #1
Wagners „Walküre“ stand in diesen Tagen
auf demProgramm des Teatro Real, des
Opernhauses in Madrid. Doch nicht die
moderne Inszenierung – ein Heerlager mit
Soldaten in Tarnanzügen, Schnellfeuerge-
wehren und echten Jeeps – war das große
Gesprächsthema in den Pausen, sondern
die jüngste Zuspitzung im Fall Plácido
Domingo. Der Aufsichtsrat der Oper hatte
nach Berichten der Madrider Presse hinter
verschlossenen Türen seine Ausladung be-
schlossen, er sollte im Mai in fünf Auffüh-
rungen von Verdis „La Traviata“ singen.
Doch habe man diese Entscheidung nicht
öffentlich gemacht, sondern dem Star-
sänger nahegelegt, selbst von dem Vertrag
zurückzutreten.
Weniger zurückhaltend ging man in der
Mittelmeermetropole Valencia vor, wo er
künstlerischer Leiter der Oper gewesen
und noch im vergangenen Jahr bejubelt
worden war: Das Ausbildungsstudio für
junge Sänger, das seinen Namen trägt,
wird umbenannt.

Zuvor war bekannt geworden, dass eine
Untersuchung die Vorwürfe wegen sexuel-
ler Belästigung und Nötigung bestätigt
hat, die im vergangenen Sommer mehrere
Sängerinnen und Tänzerinnen in den USA
gegen ihn erhoben hatten. Eines gilt als
sicher: Das Ende der Karriere des 79-jähri-
gen bekommt eine tragische Dimension.
Bislang hatte die Direktion des Teatro
Real unter Berufung auf die Unschulds-
vermutung an dem mit Domingo vorgese-
henen Programm festgehalten. Doch der
Sänger selbst hat den Dingen eine neue
Wendung gegeben, als er in der vergange-
nen Woche erklärte, er übernehme die „vol-
le Verantwortung“ für sein Verhalten und
bitte um Vergebung für „den Schmerz“,
den er Frauen zugefügt habe. Insgesamt
27 Frauen haben zu Protokoll gegeben,
dass er sie an den Opernhäusern von New
York und Los Angeles begrapscht und sie
gegen ihren Willen geküsst habe. Mehrere
von ihnen berichteten, er habe bei Erfül-
lung seiner sexuellen Wünsche Unterstüt-
zung bei der Karriere versprochen, sich
aber bei Zurückweisungen gerächt, indem
er erst als Startenor und später als Operndi-
rektor dafür gesorgt habe, dass diese Frau-
en von den Besetzungslisten gestrichen

worden seien. In diesen Tagen meldete
sich auch erstmals eine spanische Mezzoso-
pranistin zu Wort, wollte ihren Namen
aber nicht in den Medien sehen: Domingo
habe bei der Auswahl seiner Gesangspart-
nerinnen diese stets aufdringlich von oben
bis unten gemustert, als seien die Körper-
maße ein Maßstab für die Qualifikation. Es
wurde auch bekannt, dass die 2018 verstor-
bene katalanische Diva Montserrat Cabal-
lé sich beklagt habe, Domingo habe sie als
„zu dick“ herabgesetzt.
Die Madrider Presse weiß zu berichten,
dass die Entscheidung des Aufsichtsrats
des Teatro Real keineswegs einstimmig
gefallen sei, vielmehr habe Domingo dort
nach wie vor energische Fürsprecher.
Doch letztlich hätten sich die Vertreter des
Kulturministeriums, das einen Teil des
Budgets finanziert, rigoros durchgesetzt.
Seit Januar regiert in Madrid eine Koaliti-
on aus Sozialisten und dem linksalter-
nativem Bündnis Unidas Podemos. In der
kommenden Woche stellt die Ministerin
für Gleichstellung Irene Montero ein Geset-
zesprojekt über die Strafbarkeit sexueller
Belästigung vor. Sie ist die Lebensgefähr-
tin von Podemos-Chef Pablo Iglesias, dem
Mann mit dem Pferdeschwanz, in dessen
Partei immer wieder die Streichung der
Subventionen für die Oper als Hort der Eli-
tenkultur gefordert wird. Es war somit zu
erwarten, dass der als „Spaniens Musikbot-
schafter in der Welt“ mit höchsten Orden
ausgezeichnete Domingo keine politische

Unterstützung bekommt. Auch unabhän-
gig von dem Skandal haben sich in Madrid
schon seit geraumer Zeit immer wieder
Stimmen vernehmen lassen, dass man
Domingo nicht länger auf der Bühne sehen
wolle. Er hätte schon längst abtreten
sollen, weil seine Stimme seit Langem
verschlissen sei, argumentieren sie, den
Abschied in Ehren habe er verpasst.
Plácido Domingo gehörte zu den Tenö-
ren, die nach dem kometenhaften Aufstieg


  • mit 27 Jahren sang er das erste Mal eine
    Hauptrolle an der Met in New York – zu oft
    aufgetreten sind. So hat seine Stimme bald
    ihre ursprüngliche Leuchtkraft verloren,
    das hohe C, das zur Grundausstattung all
    der Helden bei Verdi und Puccini gehört,
    bereitete ihm irgendwann immer größere
    Schwierigkeiten. Auf Youtube wurden
    Audioanalysen eingestellt, deren Autoren
    im Detail anführen, dass die Produzenten
    bei manchen Schallplatten Domingos die
    Spitzentöne manipuliert haben. Auch un-
    ter Madrider Opernkritikern gilt dies als
    verbürgt.
    Seine Stimme wurde immer dunkler
    und schwerer, vor einem Jahrzehnt wech-
    selte er ins Baritonfach. Doch fehlte ihm da-
    für die Breite und Tiefe; seine vor sieben
    Jahren erschienene Platte mit Verdi-Arien
    bekam zwar den eigentlich für leichte Mu-
    sik gestifteten Latin Grammy Award, aber
    auch viele teilweise gnadenlose Verrisse.
    Auch seine Bühnenauftritte in den schwe-
    ren Baritonpartien Verdis, etwa als Mac-
    beth oder Rigoletto, enervierten die Beck-
    messer der Fachpresse. Doch sein Name
    zog weiter die Massen an, die Opernhäuser
    konnten Spitzenpreise für die Eintrittskar-
    ten verlangen.
    So auch das Teatro Real. Aus dessen Ku-
    lissen ist zu hören, dass Domingo dort im-
    mer charmant zu den Frauen gewesen sei,
    Klagen des weiblichen Personals wurden
    bislang nicht bekannt. Dafür wird ein simp-
    ler Grund genannt: Seine Frau Marta Orne-
    las, heute 85 Jahre alt, sei fast immer dabei
    gewesen. Mit 21 Jahren hatte er die Sopra-
    nistin geheiratet, die ihre Karriere als So-
    pranistin aufgab, um sich den Kindern zu
    widmen und ihm den Rücken freizuhalten.
    Erst als sie schon fast 60 Jahre alt war, be-
    gann sie, Opern zu inszenieren, erst in Pu-
    erto Rico, dann auch an anderen Häusern,
    darunter Bonn. Zu dem Domingo-Skan-
    dal, wie es die links orientierten Medien
    nennen, hat sich Marta Ornelas nicht öf-
    fentlich geäußert. Es heißt nur, sie sei sehr
    bekümmert. thomas urban


Kontroversen werden im französischen
Kinomilieu gern mit Witzeleien glattg-
ebügelt. An Spannung mangelte es vor der
César-Vergabe mit dem wegen Vergewal-
tigung angeklagten Roman Polanski als
Hauptpreisverdächtigem nicht. Seit Wo-
chen tobte der Streit, ob er einen Preis ver-
dient. Das Viertel um den Veranstaltungs-
ort musste am Freitag von der Polizei
gegen Protestkundgebungen abgeriegelt
werden, die mit Parolen wie „César der
Schande“ oder „Violanski“ antraten. Femi-
nistinnen hatten mit einer Zeremonie der
„Tocards“, einer Würdigung für männliche
Wüstlinge, dem Filmautor im Voraus den
Preis der Pädokriminalität zuerkannt.

Doch all das solle nun einmal kurz ver-
gessen werden, versicherte die Komikerin
Florence Foresti als Zeremonienmeisterin
des Abends. Sie habe keine Lust, mit „How
dare you“ die Greta Thunberg des Kinos zu
spielen. Zumal Polanski und sein Team der
Veranstaltung ferngeblieben waren.
Heitere Laune wollte dennoch nicht
aufkommen. Denn diese Veranstaltung
zeigte, wie sehr die französische Kinowelt
durcheinander ist. Zwar mochte so gut wie
kein Star Polanski öffentlich anfeinden.
Werk und Privatleben seien zweierlei Din-
ge, hieß es. Als praktisch einzige warnte
die Schauspielerin Adèle Haenel, die als
Anwärterin auf den Preis für die beste
Schauspielerin bei der Zeremonie im Saal
saß, öffentlich vor einer Ehrung Polanskis.
So etwas wäre ein Schlag ins Gesicht all
seiner Opfer, sagte sie. Im Herbst hatte sie
schon mit Mut, Haltung und Augenmaß
dem Filmautor Christophe Ruggia sexuel-
le Übergriffe ihr gegenüber vorgehalten. In
einem Interview in derNew York Times
erklärte sie nun, Frankreich habe aus der
„Me Too“-Debatte nichts gelernt.
Als am Freitagabend nach zwei zuvor
vergebenen Preisen auch jener für die bes-
te Regie an Polanskis Film „J’accuse“ („In-
trige“) ging, verließ sie den Saal. Einige
folgten ihr nach, andere applaudierten mü-
de dem abwesenden Preisträger. Und der
anwesende Kulturminister Franck Riester
verzog mit seinem Schulaufsehergesicht

keine Miene. Am Wochenende erklärte er
dann, diese Entscheidung sei bedauerlich.
Die Krise nicht des französischen Kinos,
wohl aber seiner Berufsorganisation, sitzt
jedoch tiefer. Im Kreuzfeuer der Kritik
steht die Akademie der seit 1976 vergebe-
nen César-Preise. Vor zwei Wochen traten
der langjährige Vorsitzende Alain Terzian
und das Führungsgremium abrupt zu-
rück. In einer offenen Erklärung hatten
vierhundert der rund 4700 Mitglieder der
Akademie dem Gremium undurchsichtige
Buchhaltung und obskure Ernennungen
durch Kooptation auf Lebzeiten vorgewor-
fen. Zu den Unterzeichnern gehörten die
Filmautoren Bertrand Tavernier, André Té-
chiné, Mathieu Amalric oder die Schauspie-
lerinnen Chiara Mastroianni und Jeanne
Balibar. Sie riefen zu einer Umgestaltung
der Akademie auf und beklagten, dass die
César-Vergabe über ihre Köpfe hinweg or-
ganisiert werde. Dabei haben sie in zwei
Fernwahlgängen zuerst über die Nominie-
rungen und dann die Preisträger in den gut
ein Dutzend Sparten zu entscheiden.
Zusätzliches Unbehagen kam auf, als
der Frauenanteil in der Akademie bekannt
wurde: gerade mal ein Drittel. Vom Alt-
herrengehabe, mit dem Alain Terzian un-
längst noch erklärte, so etwas wie die Wein-
stein-Affäre wäre in Frankreich unmög-
lich, denn da lege man Wert auf den künst-
lerischen Aspekt der Filme, möchte man
wegkommen. Doch nun platzte es am Frei-
tag doch wieder in die Veranstaltung. Nicht
wenige Prominente sagten ihren Einsatz
als Preisverkünder ab, sodass die Zeremo-
nienmeisterin Florence Foresti wiederholt
einspringen musste. Es sei unglaublich,
wie beschäftigt die Filmleute am Freitag-
abend seien, kicherte sie ins Mikrofon: Bei
all den Leuten, die an dem Abend offenbar
auf Dreh seien, müsse es dem französi-
schen Kino vorzüglich gehen. Das tut es im
Grunde auch. Bei aller Polemik spiegelt
das Ergebnis beachtliche Qualität.
Die jeweils drei Preise für den Film „Les
Misérables“ („Die Wütenden“) von Ladj Ly,
für „La Belle Epoque“ von Nicolas Bedos
und auch für „Intrige“ von Roman Polan-
ski sind verdient. Zu kurz kam hingegen
der nur mit dem Preis für die Kamerafüh-
rung ausgezeichnete schöne Film „Porträt
einer jungen Frau in Flammen“ von Céline
Sciamma mit Adèle Haenel als Hauptdar-
stellerin. joseph hanimann

Ein blondes Mädchen rennt eine nächt-
licheStraße entlang, barfuß, in einem
kurzen weißen Regenmantel. Sie ist aus
einer Anstalt geflohen, trägt ein schreck-
liches Geheimnis mit sich, vom Ende
der Welt, der Büchse der Pandora. So
beginnt „Kiss Me Deadly“ von Robert
Aldrich, 1955, der ultimative Film noir,
nach dem Roman von Mickey Spillane,
„Rattennest“ hieß der Film in Deutsch-
land. Mike Hammer ist ein Privat-
schnüffler, der vor allem schäbige Schei-
dungsfälle abwickelt, ein mieser Fa-
schist, sagt Robert Aldrich. Aber seine
Bösartigkeit ist infantil, und wie Ralph
Meeker ihn verkörpert, bleibt am Ende
nur Verstörung, Fragilität, Traurigkeit.
Das Mädchen von der Straße ist nach
wenigen Minuten tot, brutal gefoltert.
Der Film entwickelt sich als Requiem
für eine Frau, die nach einer romanti-
schen Dichterin getauft wurde, Christi-
na Rossetti. „Remember me“, ist ihr
Auftrag an Mike Hammer. Die neue
Poesie der Katastrophe, das ist: Manhat-
tan Project, Los Alamos, Trinity. Ralph
Meeker hat nie den Sprung vom TV ins
Kino geschafft, er lebt heute weiter in
den Figuren von Quen-
tin Tarantino, der ihn
verehrt, in dem Boxer
Bruce Willis in „Pulp
Fiction“, und Leonar-
do DiCaprio in „Once
Upon a Time... in
Hollywood“. (Koch
Media)


Noch mal Film noir, einer, der sich auf
abwegige Genrepfade begibt, in Techni-
color: „Dangerous Mission / Blut im
Schnee“, 1954, von Louis King. Ein
Gangster wird erschossen in einem
Nachtclub in New York, eine junge Frau
ist Zeugin, Piper Laurie, sie flieht in den
Glacier Nationalpark, Montana. Ihr auf
den Fersen ein Killer und ein FBI-Beam-
ter. Am Drehbuch haben W. R. Burnett
und Horace McCoy mitgemacht, die
großen amerikanischen Hard-Boiled-
Autoren. (Daredo)


Ein deutscher Dichter und seine Frau,
„Requiem für eine romantische Frau“,
von Dagmar Knöpfel, nach einem Treat-
ment von Hans Magnus Enzensberger.
Eine überstürzte Heirat: Clemens Bren-
tano und Auguste Bußmann (Janina
Sachau und Sylvester Groth), sie ist
siebzehn, hat eine verkorkste Ehe hin-
ter sich, in Kassel, Regensburg, Lands-
hut. Eine Fille fatale, apart und naiv,
quengelig und kindisch. Entweder bist
du blöd oder wahnsinnig, motzt er ge-
nervt. Auguste will die Liebe absolut,
Brentano und die Männer um ihn,
Achim von Arnim und die Brüder
Grimm, dichten und singen lieber von
ihr, und man sieht: auch die Poesie ist
ein mühsamer Job. (Alamode)


Eineinhalb Jahrhunderte später disku-
tiert das deutsche Kino, „How girls love
men of today“, das ist der Untertitel des
ersten Spielfilms von Eckhart Schmidt,
„Jet Generation“. Die Stadt der Jet Gene-
ration ist München, Ludwigstraße, Hof-
bräuhaus, Tierpark, Nymphenburg. Bei
der Kamera hat Josef Vilsmeier mitge-
macht, der vor Kurzem verstorbene
Filmemacher. Dginn Moeller ist eine
junge blonde Amerikanerin, die ihren
Bruder sucht, Roger Fritz, einen erfolg-
reichen Fotografen, der Menschen mani-
puliert, weil er sich nicht erpressen
lassen will, durch Geld oder die Liebe.
Schmidt wollte ursprünglich Marianne
Faithfull, aber die war nicht gut drauf.
Es geht immer um die Liebe, sagt
Schmidt, in all seinen Filmen und Fanta-
sien, das kommt von Dante, dessen
„Göttliche Komödie“
er in der Jugend las:
Die Liebe bewegt die
Sonne und alle Ster-
ne. Die Restauration
des Films ist so span-
nend wie die eines
Stummfilms. (Sub-
kultur)


Junge Liebe in Amerika, 1957, „Motor-
cycle Gang /Lederjacken rechnen ab“,
eine AIP-Produktion. Die Frauen haben
ihre Unabhängigkeit, sie sitzen nicht
mehr auf dem Beifahrersitz, sondern
fahren selbst ihre Maschinen. Der Regis-
seur Edward L. Cahn hat in den Dreißi-
gerjahren ein paar wahnsinnig aufregen-
de, präzise und sehr politische Filme
gemacht, allerdings rutschte er nach
dem Krieg ins B-Movie-Feld ab. Wenn
die frustrierten Jungs am Ende ein
Städtchen terrorisieren, schaut das bil-
lig und traurig und clownesk aus – wie
ein Zirkusakt. (Vintage Movies Classics)


Noch mal ein Dichter und seine Frau:
„Nuestro Tiempo“ von Carlos Reygadas.
Juan und Ester züchten Kampfstiere in
Mexiko, er sammelt Preise für sein
Schreiben ein in aller Welt, sie hat eine
Beziehung mit einem amerikanischen
Cowboy. Er meint, er käme mit der
absoluten Freiheit in der Ehe zurecht,
aber dann fängt er doch an, ihr Handy
zu kontrollieren und nachzufragen. Er
möchte herausfinden, wie weit man in
der Zerstörung des Geliebten gehen
kann, um es wieder aufleben zu lassen,
sagt Carlos Reygadas. Er spielt selber
Juan, eine schmächtige Figur unter
einem großen schwar-
zen Hut. Die schönste
Szene aber ist, wenn
der Vater sich neben
den Sohn ins Bett legt,
der am nächsten Tag
fort muss an die Univer-
sität. (Absolut Medien)
fritz göttler


von christiane lutz

W


enn es so etwas wie einen Sinn
des Lebens gibt, dann liegt er
darin, authentisch zu sein. Die
Gesellschaft ist nämlich schwer verliebt in
alles, was echt ist. Authentisch sein gilt für
die Berufs- wie für die Partnerwahl, man
muss sich permanent fragen, wer man
eigentlich ist und die Biografie dann ent-
sprechend modellieren, sonst wird man
unglücklich. Ganze Wirtschaftszweige ver-
dienen ihr Geld damit, den Menschen zu
ihrem wahren Selbst zu verhelfen. Denn
dort hat man sein zu wollen.
Vermutlich hat der Authentizitätswahn
etwas mit dem Wunsch zu tun, sich an et-
was festzuhalten – und das Echte scheint
unverrückbarer als das Unechte. Sicher
hat er auch mit dem Internet zu tun, wo es
einerseits sehr leicht ist, etwas unechtes
als echt zu verkaufen. Andererseits unfass-
bar schwer. Jeder, der schon mal versucht
hat, ein Foto seines Mittagessens auf Insta-
gram zu stellen, weiß, wie aufwendig Echt-
heit inszeniert sein will.

Solche Gedanken kommen einem bei
René Polleschs neuem Stück „Passing –
It’s so easy, was schwer zu machen ist“, mit
dem der künftige Volksbühnen-Intendant
nach sieben Jahren an die Münchner Kam-
merspiele zurückkehrt. Pollesch spricht in
„Passing“, vom englischen „to pass“, aber
nicht von Authentizität, er wirbt praktisch
für ihr Gegenteil: vom Durchgehen als
jemand, der man gar nicht ist. You could
easily pass as a Yoga teacher / a happy
couple / a busy employee. Für ihn kein
Beschiss, sondern eine große Freiheit.
So beschäftigt sich das Ensemble, ge-
kleidet wie das Personal eines Westerns,
vor allem mit dem Behaupten von Figuren,
Situationen, Zuständen, Zusammenhän-
gen, die echt sein könnten. Sofern man im
Theater, Hochburg der Behauptung, über-
haupt von Echtheit sprechen kann. Ist Ki-
nan Hmeidan jetzt Metzger oder Sheriff?
Redet Kamel Najma arabisch, weil das zu
ihm gehört und somit voll authentisch ist,
oder drückt er sich einfach nur ums
Lernen des deutschen Textes? Ist Thomas
Schmauser der Regisseur des Ganzen oder
doch eher Theaterwissenschaftler, der al-
les krampfhaft einordnen will? Kathrin An-
gerer, vom Pollesch aus Berlin importiert,
blubbert pausenlos vor sich hin und spielt
die Allesinfragestellerin. Mal tut sie so, als
wäre man in einem Western oder immer-

hin im Wilden Westen, dann erzählt sie von
einer Fabrik. Benjamin Radjaipour und Da-
mian Rebgetz springen auch noch herum
und sind ebenfalls kein bisschen festgelegt
auf so etwas wie eine stringente Figur.
Gemeinsam überlegen sie, am Bühnen-
rand mit den Beinen baumelnd, wie sie als
etwas anderes durchgehen könnten, als
das, was sie sind. Nicht, dass man ahnen
könnte, wer sie eigentlich sind.
Im Zentrum dieses Behauptungs-Halli-
gallis hängt eine gigantische Spinne von
der Decke, die Nina von Mechow entwor-
fen hat und die so herrlich ihre Augen öff-
net und schließt, mit den acht Beinen
wackelt, dass Regisseur Ulrich Rasche und
seine Brutal-Maschinen eigentlich nach
Hause gehen können. Auf dieser Spinne
können die Schauspieler zwar nicht mar-
schieren, aber sie können in ihren dicken
Spinnenleib steigen und darin munter
zum Wort „spinnen“ assoziieren: Spinnen
als verrückt sein, als Fäden herstellen,
Spinne das Tier, in dessen Bauch sie sitzen.
Diese Spinne wiederum ist Muttertier und
Textilfabrik. Mal lieb, mal böse. Definitiv
sehr böse in dem eingespielten Ausschnitt
aus dem Sci-Fi-Film „Tarantula“ von 1955.
Wie üblich baut Pollesch dann noch ein
paar antikapitalistische Phrasen, Kommu-
nismus-Witze und ein bisschen Theater-
Meta-Ebene in seinen Text, während die
Schauspieler zum „Sound of Mu-
sic“-Soundtrack über eine Alpenprojekti-
on rollen, weil ihnen grade danach ist.
Wer sich da beim Zuschauen an einen
Bedeutungsvorschlag klammern will,
kriegt den in der nächsten Sekunde so lust-
voll um die Ohren gewickelt wie Benjamin
Radjaipour die Kaugummi-Fäden seiner
Kollegen. So fühlt man sich dann auch zwi-
schenzeitlich schief gewickelt, verheddert
in den ausgeworfenen Assoziationsfäden,
um im Jargon zu bleiben. Und vor lauter Be-
deutungsangeboten verliert man immer
wieder den, einer geht noch, Geduldsfa-
den. Ja, Pollesch war schon mal schneller,
war auch schon witziger und origineller.
Wenn der Abend trotzdem gut ist, dann
liegt das am Charme von Polleschs Passing-
Theorie. „Normale Leute denken ja nicht,
dass sie was darstellen, die denken, sie
sind so“, sagt Radjaipour. Pollesch befreit
seine Schauspieler und das Publikum vom
Authentizitätszwang. Das Anprobieren ver-
schiedener Identitäten, das „durchgehen
als“ jemand, der man vielleicht nur für
eine Weile sein will, ist für ihn genauso
legitim wie das Echte. Darin liegt mehr
Freiheit als im nervigen Streben nach dem
wahren, einzigen Selbst. Vielleicht wollen
wir ja gar nicht unbedingt die Authentizi-
tät, wir wollen nur etwas für authentisch
halten dürfen. Auch im Theater.

Eine US-Untersuchung bestätigte
Vorwürfe wegen sexueller
Belästigung und Nötigung

Da wurde er noch gefeiert: Plácido Domin-
go im November 2018 in New York.FOTO: AFP

Leuchtkraft verloren


Spaniendistanziert sich nach „Me Too“-Vorwürfen von Plácido Domingo


Drei Césars für


„Violanski“


Frankreichs Film erlebt einen verlogenen Abend


Als „Intrige“ schon wieder
ausgezeichnet wird, verlässt
eine Schauspielerin den Saal

Wer bin ich, und


wenn ja, wie lustig?


René Polleschs neuester Behauptungs-Halligalli


an den Münchner Kammerspielen


Ist es nicht viel interessanter,
als jemand durchzugehen,
der man gar nicht ist?

„Normale Leute denken ja nicht, dass sie was darstellen, die denken, sie sind so.“ Kathrin Angerer, Thomas Schmauser und
Benjamin Radjaipour spinnen sich was zusammen. FOTO: THOMAS AURIN

10 HF2 (^) FEUILLETON Montag,2. März 2020, Nr. 51 DEFGH
MEDIAPLAYER

Free download pdf