Süddeutsche Zeitung - 02.03.2020

(Nora) #1
von alexander menden

A


m Tag der Trauerfeier für seine Mut-
ter sitzt Benjamin Trotter im Erker
einer umgebauten Mühle, die er al-
lein bewohnt, blickt auf den mondbeschie-
nenen Fluss und hört „Adieu to old Eng-
land“ – „einen der schaurigsten und melan-
cholischsten Folksongs, die in England je
geschrieben wurden“. Darin beklagt sich
der Sänger kurz gesagt darüber, dass es
ihm, dem es früher so gut ging, heute so
furchtbar schlecht geht. Ben denkt an das
„Gefühl von Benachteiligung“, das in Eng-
land allenthalben zu spüren ist, „diesen
Hass auf das finanzielle und politische Es-
tablishment“ und die „stille Empörung der
Mittelschicht, die sich an Behaglichkeit
und Wohlstand gewöhnt hatte und jetzt
merkte, dass ihr das alles entglitt“.
Diese zutiefst ungesunde, sehr engli-
sche Nostalgie, die sowohl die beschriebe-
ne Szene als auch das Lied selbst be-
stimmt, dieses Grundgefühl unscharfen
Unbehagens an der Gesamtsituation, ist
Ausgangslage und Humus für die Spal-
tung, die „Middle England“ thematisiert,
der jüngste Roman des Briten Jonathan
Coe. Er spielt in einem England der Wüten-
den und der Rassisten, der Abgehobenen
und der Weltfremden, der Ressentiments
und der Frustrationen. Sprich: im Land des
Brexit.

„Middle England“ – der titelgebende Be-
griff wird gern für das „wahre“, ländliche
Mittelschicht-England der Cricket Greens
und normannischen Kirchlein jenseits der
großen Städte verwendet – ist gewisserma-
ßen ein Nachzügler. Es handelt sich um
den späten dritten Teil einer nie als solcher
geplanten Trilogie. Die beiden vorangehen-
den Bände, „Erste Riten“ (2002) und „Klas-
sentreffen“ (2006) hatten weitgehend die
gleichen Zentralfiguren. Ben Trotter, der
verträumte angehende Autor, unglücklich
verliebt (später unglücklich verheiratet
und schließlich geschieden), sein bester
Freund, der Prog-Rock-Fan Philip Chase,
mittlerweile Verleger für Bücher über Hei-
matkunde, und Doug Anderton, der die Pri-
vatschule, welche die drei besuchen, mit so-
zialistischen Ideen aufmischen wollte, und
jetzt ein prototypisch linksliberaler Journa-
list geworden ist.
„The Rotter’s Club“, so der Originaltitel
von „Erste Riten“, hält angeblich den Re-
kord für den mit 13 955 Wörtern längsten
Satz in der gesamten englischsprachigen
Literatur. In einer Reminiszenz an diesen
Rekord spekuliert Ben in einem der Kapi-
tel von „Middle England“, das aus einem
einzigen Stream-of-Consciousness-Satz
besteht: „... darüber, was Schriftsteller in
Zeiten wie diesen tun oder lassen sollten,
ob sie versuchen sollten, engagés zu sein,
so lautet glaube ich der französische Be-
griff, oder ob es besser sei, in die ‚innere
Emigration‘ zu gehen, sprich, sich in sich
selbst zurückzuziehen und vor der Realität
zu flüchten“.
Genau das ist erkennbar auch die Frage,
die Coe sich selbst gestellt hat. Er beantwor-
tet sie mit dem, was im englischen Sprach-

raum einestate of the nation novelgenannt
wird, eine fiktional überbaute Dokumenta-
tion der Jahre unmittelbar vor und nach
dem britischen EU-Referendum. So, wie
„Erste Riten“ den Ehrgeiz hatte, eine Art
endgültiger Roman über pubertäre Mittel-
schichtjungs im England der Siebzigerjah-
re zu sein, hinterfangen von einer narrati-
ven Geschichtsstaffage aus IRA-Terror,
Streikwellen und Punkmode, so wie „Klas-
sentreffen“ die Blair-Jahre spiegelte, so
hat „Middle England“ den Ehrgeiz, als
Gründungswerk des jungen Genres na-
mens „Brexit-Roman“ zu dienen.
Benjamin, der „beste unveröffentlichte
Autor des Landes“, ist mittlerweile An-
fang 50. In „Klassentreffen“ hat er sich
scheiden lassen, jetzt schreibt er in seiner
Mühle weiter an einem unendlich langen
Buch. Er ist gleichsam die Nabe, um die
sich alles dreht. Sein Freund Doug arbeitet
als Zeitungskolumnist, entfremdet von sei-
ner reichen Frau, deren Wohnung in Chel-

sea er aber gerne weiter nutzt – er ist Reprä-
sentant der London-zentrischenchatte-
ring class, ein Lieblingsfeindbild der brexit-
freundlichen Rechts- und Linkspopulis-
ten. Diese mittelalten, liberalen Männer
finden sich plötzlich umzingelt von immer
mehr kleingeistigen, rückwärtsgewand-
ten Menschen, die sie ins Brexit-Verder-
ben zerren. Wie dies geschieht, das fasst
Coe in ein narratives Geflecht, welches in
seiner Komplexität an die viktorianischen
Monolithe Anthony Trollopes erinnert,
und das im Einzelnen nachzuvollziehen
nur unwesentlich weniger Raum einneh-
men würde als das Buch selbst.
Letztlich tritt das Zwischenmenschliche
aber auch hinter dem Historischen zurück.
In den beiden Vorgängerromanen dienten
die minutiös recherchierten Bilderbögen
des geschichtlichen Hintergrunds der Sieb-
zigerjahre und der Jahrtausendwende als
Staffage, vor der sich die privaten Nöte und
Leidenschaften der Protagonisten abspiel-

ten. „Middle England“ setzt den Schwer-
punkt hingegen bei den konkreten Ereig-
nissen zwischen 2010 und 2018, die Coe
akribisch und chronologisch abarbeitet:
Da sind der Finanzcrash, die Bildung der
konservativ-liberalen Koalitionsregierung
von 2010, die Londoner Unruhen im Som-
mer 2011 und die Olympischen Spiele im
Jahr danach, die Wahl Jeremy Corbyns
zum Labour-Chef, der rechtsterroristische
Mord an der Labour-Abgeordneten Jo Cox,
der Referendums-Schock und die darauf-
folgenden, immer erbitterter werdenden
inner- und außerparlamentarischen Gra-
benkämpfe.
Die Figuren werden dabei zu Platzhal-
tern für politische Positionen im Ringen
um die britische Identität. Das gilt beson-
ders für jene, die den Brexit ausdrücklich
oder implizit als wünschenswert betrach-
ten. Bens Vater Colin zum Beispiel, der frü-
her in einer Autofabrik bei Birmingham ar-
beitete und als Witwer noch unausstehli-

cher geworden ist. Colin ist ein „Gammon“
wie er im Buche steht. Gammon, Kochschin-
ken, so wird seit ein paar Jahren eine be-
stimmte Sorte älterer, weißer, männlicher
Engländer genannt. Sie sind ausgesproche-
ne Patrioten, für den EU-Ausstieg, gegen
Immigration, Rassisten und haben wegen
ihres oft alkoholbedingten hohen Blut-
drucks saftig schinkenfarbene Gesichter.
Sie sind das Fundament des Brexit. Colin
schimpft darüber, dass kaum noch irgend-
wer Englisch spreche in seiner Heimat, und
äußert als letzten Wunsch, noch beim EU-
Referendum mit abstimmen zu können.
Helena, die Schwiegermutter von Bens
Nichte Sophie, ist die großbürgerliche Vari-
ante, eine „euroskeptische“ Bewunderin
des rassistischen Tory-Politikers Enoch Po-
well, die ihre osteuropäische Haushaltshil-
fe ausnutzt und verachtet. Ihr Sohn Ian, So-
phies Mann, scheint erst weltoffener zu
sein. Sein rassistisches Ressentiment
bricht dann jedoch durch, als ein dunkel-
häutiger Kollege ihm bei einer Beförde-
rung vorgezogen wird.
Nun spiegeln diese kleinkarierten Arche-
typen zwar durchaus die Wirklichkeit eines
Landes, das Ende vergangenen Jahres ei-
nen mit rassistischen Tropen spielenden
Lügner wie Boris Johnson zum Premiermi-
nister erkor. Aber als Leser von „Middle
England“ wünscht man sich oft, die literari-
sche Umsetzung wäre subtiler, weniger ab-
surd, weniger zugespitzt als die Realität,
die in Brexit Britain ja schon länger weniger
glaubwürdig ist als jede Fiktion.
Dass Coes Sympathien klar auf der Re-
mainer-Seite liegen, daraus macht der Ro-
man jedenfalls kein Hehl. Seine empha-
tisch pro-europäische Haltung findet zum
Beispiel in einer Passage beredten Aus-
druck, in der Sophie bei einer Reise zu ei-
ner Konferenz beim Anblick des in mediter-
ranes Licht getauchten Marseille denkt:
„Ja, das war, wie sie erkannte, der Aspekt,
der ihr in England fehlte. Was für ein be-
schränktes, miserables Leben sie alle im
Vergleich dazu führten in dem Land, das
sie notgedrungen Heimat nennen musste.“
Marseille und Birmingham gehören nicht
verschiedenen Welten, nicht einmal ver-
schiedenen Planeten – sondern „unter-
schiedlichen Daseinsformen“ an. Darin ist
der Autor sich paradoxerweise mit den Bre-
xiteers einig.
In kommenden Jahrzehnten, wenn die
Einzelheiten der Brexit-Konvulsionen von
neuen Katastrophen verdrängt worden
sein werden, wird „Middle England“ viel-
leicht als Referenzwerk für historische De-
tails dienen. Als Roman bleibt es etwas zu
schematisch. Aber eines hat das Buch zwei-
fellos geleistet, und das ist nicht eben we-
nig: Er bietet die bisher beste Bestandsauf-
nahme einer Epoche, in der ein Land erst
den Kopf und dann komplett die Orientie-
rung verlor.

Kaum jemand hat so gute Einblicke in die
Weltdes Silicon Valley und der Tech-Kon-
zerne wie Steven Levy, ehemaliger Redak-
teur vonNewsweekund Chefredakteur der
amerikanischen Zeitschrift Wired. Seit
mehr als 30 Jahren berichtet er über
technologische Entwicklungen. Sein Buch
„Facebook. Weltmacht am Abgrund“ (Droe-
mer, München 2020. 688 Seiten, 26 Euro)
ist eine umfassende Geschichte des sozia-
len Netzwerks. Es reicht von den Anfängen
in einem Wohnheim der Harvard Uni-
versity bis in die Gegenwart. Mehr als ein
Dutzend Mal traf Levy Facebook-Chef
Mark Zuckerberg, sprach mit ehemaligen
Mitarbeitern, wertete unveröffentlichte
Dokumente aus. Beim Gespräch in Mün-
chen erzählt er, was er über Zuckerberg
und das Innenleben von Facebook heraus-
gefunden hat.


Herr Levy, trauen Sie Mark Zuckerberg?
Steven Levy:Dazu muss ich etwas ausho-
len. Ausgehend von unseren Treffen: Ich
glaube nicht, dass er ein Lügner ist. Er ist
sehr fixiert auf das, was er für das Richtige
hält. Er möchte die Welt verbinden. Er
schreibt alles in diese Notizbüchlein.


Notizbücher? Aus Papier?
Ja, richtige Notizbücher. Er nimmt sie über-
allhin mit und hält darin seine Produktent-
würfe fest, und was er sich von Facebook
erhofft. Diese Notizbücher sind legendär.
Manchmal kopiert er ein paar Seiten aus
einem Buch und gibt sie einem Facebook-
Mitarbeiter, um zu verdeutlichen, wie er
sich ein bestimmtes Produkt vorstellt oder
wie der Newsfeed funktionieren sollte. Die-
se Notizbücher hat er aber alle zerstört.


Warum?
Das ist etwas ironisch, wenn man bedenkt,
dass ihm ständig vorgeworfen wird, die


Privatsphäre anderer Menschen zu verlet-
zen. Er hatte Angst, dass die Notizbücher
veröffentlicht werden könnten. Aber es
gab eine Kopie seines wichtigsten Buches,
des „Book of Change“. Und jemand schick-
te es mir. So bekam ich Einblicke in sein
Denken. Er hat einen Tunnelblick, wenn es
um seine Mission geht. Er wird dafür tun,
was getan werden muss. Was nicht immer
das Beste für die Nutzer von Facebook ist.

Nutzen Sie Facebook?
Ja.

Mögen Sie es?
Manches ist sehr praktisch. Es ist zum Bei-
spiel der beste Weg, um Kontakt zu ehema-
ligen Mitarbeitern von Facebook herzustel-
len. Und meine Familie nutzt es. Wir haben
eine kleine Gruppe, die wir zum Austausch
von Bildern und Nachrichten einsetzen.
Ich habe mir von den Bedenken wegen der
Privatsphäre keine Angst einjagen lassen.

Facebook wurde sehr kritisiert, vor allem
nach der US-Präsidentschaftswahl, weil
Donald Trump von dem sozialen Netz-
werk profitiert haben soll. Wird Facebook
zum Sündenbock für größere Probleme
gemacht?
In dem Buch versuche ich zu zeigen, wie
manche Fehler zustande gekommen sind.
Es gab schon vorher viele Beschwerden
über Facebook. Man hatte die Haltung, als
wäre man noch immer in einem Studenten-
wohnheim und viel könne ja nicht schief-
gehen. Aber wenn man Millionen und Milli-
arden Nutzer hat, kann viel schiefgehen.
Besonders wenn auf Facebook Informatio-
nen zirkulieren, die für einige Menschen
lebensgefährlich sein können, wie im Fall
von Myanmar.

Dort wurden Falschinformationen über
die muslimische Minderheit verbreitet.
Ja. Aber es war der große Knall der US-
Wahl 2016 nötig, damit die Leute begrif-
fen, dass man Facebook zur Verantwor-
tung ziehen muss.

Wann sind die Fehler gemacht worden?
Es war eine Reihe von Ereignissen, und es
ist fast komisch, wie eines zum anderen
und schließlich zur größten Katastrophe in
der Geschichte von Facebook führte.

Sie meinen, dass die Datenfirma Cam-

bridge Analytica Profile von Facebook-
Nutzern illegal auswertete und sich in den
US-Wahlkampf einmischte.
Die Panne mit Cambridge Analytica pas-
sierte bereits 2010. Damals wurde exter-
nen App-Entwicklern Zugang zu Facebook
gewährt. Diese Entwickler bekamen aber
nicht nur Zugriff auf die Daten der Leute,
die ihre App nutzten, sondern auch auf die
Profile von Freunden. Sie wollten, dass das
Profil einer Person aus einem sozialen
Netzwerk sie überall im Netz hinbegleitet.

Aber die Missachtung der Privatsphäre
war doch von Anfang an offensichtlich.
Wie konnte sie übersehen werden?
Jedes Mal, wenn Facebook so gegen die
Privatsphäre vorging, gab es interne Wider-
stände. Aber Mark Zuckerberg machte es
dann trotzdem. Es war nur eine Frage der
Zeit, bis es zu einem Missbrauch der Daten
kommen würde. Aber erst als die Daten
genutzt wurden, um Donald Trump zum
Präsidenten zu machen, merkten die Leu-
te, dass mit Facebook etwas nicht stimmte.

War das die einzige Krise?

Es gab viele Krisen. Die größte Krise war
aber, als das Wachstum nachließ. Ihr Mot-
to war „Move fast and break things“ („Sei
schnell und zerstöre Sachen“). Wenn man
noch hinzufügt: „Und entschuldige dich
später“, dann war das schon in Ordnung.

Sie beschreiben, dass Zuckerberg von
Strategiespielen besessen war. Welchen
Einfluss hatte das auf Facebook?
Ich glaube nicht, dass die Spiele ihn be-
einflusst haben. Er suchte sich die Spiele
aus, die zu ihm passten. Er ist sehr wettbe-
werbsorientiert. Er spielte gerne „Risiko“,
das Strategiespiel, in dem man die Welt er-
obern muss, und war sehr gut darin. Das
Spiel war die Blaupause für Facebooks frü-
here Erfolge an amerikanischen Colleges.
Zuckerberg dachte strategisch, wie in „Risi-
ko“, er sah die Colleges wie Länder in dem
Spiel und benutzte dieselbe Strategie. Er
wollte nicht erst die kleinen, sondern
gleich die großen erobern. An der Colum-
bia University gab es ein ähnliches Projekt
wie Facebook, das auch expandieren woll-
te. Mark schaltete diese Konkurrenz als
erstes aus, um freie Bahn zu haben.

Hat die Mentalität der Elite-Unis noch Ein-
fluss auf Facebook?
Facebook heuerte 2007 Chamath Paliha-
pitiya an, der sehr allergisch auf diese
Stanford- und Ivy-League-Verbindungen
reagierte. Er wollte diese Leute loswerden.
Als Leiter des Teams, das für Wachstum zu-
ständig war, war er bereit, mit dreckigen
Tricks zu kämpfen. Palihapitiya führte
heikle Methoden ein, nur um das Wachs-
tum zu fördern. Zum Beispiel gab es plötz-
lich Facebook-Accounts von Leuten, die
gar keinen angelegt hatten. Nur weil je-
mand Fotos von ihnen geteilt hatte. Sie
produzierten erfundene Geschichten, um
die Leute möglichst lange im Newsfeed zu
halten.

Hat Facebook das Prinzip Fake News er-
funden?
Nicht erfunden, aber sie haben es ver-
schärft. Das Problem begann schon 2009,
als Mark von Twitter besessen war. Er sah
die Plattform als möglichen Konkurrenten
und dachte, dass Facebook mehr in Echt-
zeit funktionieren müsste. Er wollte, dass
Dinge auf Facebook viral gehen können.
Daraus folgten Wohlfühlgeschichten über
Welpen oder Menschen, die den Krebs be-
siegt haben. Bald stellte sich heraus, dass
Fake News viel besser funktionieren als
richtige Nachrichten.

Wäre es auf lange Sicht nicht besser für
Facebook, weniger kompetitiv und wachs-
tumsfixiert zu sein, sondern eine demo-
kratische soziale Plattform zu werden.
Ohne psychologische Tricks und kapitalis-
tische Agenda?
Mark Zuckerberg dachte ja, dass das
passieren würde. Er dachte, wenn man
Menschen zusammenbringt und sie Dinge
miteinander teilen lässt, würden sie netter
zueinander sein. Er dachte, die Welt würde
ein friedlicherer Ort werden. Aber selbst
wenn er manches besser gemacht hätte,
finde ich die Idee grundsätzlich nicht sehr
überzeugend, dass ein soziales Netzwerk
die Welt verbessern könnte.

Zuckerberg trifft sich mit Politikern und
dem Papst. Er sagt, Facebook gleiche eher
einer Regierung als einem Unternehmen.
Was meint er?
In seinen Notizbüchern beschrieb er schon
2006 Facebook als eine Regierung. Ich
glaube, dass dieser Vergleich nicht sehr

glücklich war. Die Leute wollen nicht von
Facebook regiert werden.

Aber Facebook nur als Unternehmen zu
bezeichnen, klingt fast untertrieben.
Facebook wurde so groß, weil die Gesetze,
selbst die strengeren in Europa, es nicht
schaffen, Tech-Unternehmen in die
Schranken zu weisen. Wir sollten sie nicht
als Unternehmen angreifen, sondern die
Nutzerrechte betonen. Man sollte persönli-
che Daten nicht einfach weiterverwenden
können.

Zuckerberg und andere Tech-CEOs
wollen sogar Regulierung. Sind sie geläu-
tert?
Was sie eigentlich meinen: Wir möchten
mit den Behörden zusammenarbeiten und
uns selbst regulieren. Das ist reiner Eigen-
nutz. So können sie den Schaden für ihr
Geschäftsmodell minimieren.

Die amerikanische Präsidentschaftskan-
didatin Elizabeth Warren möchte Face-
book zerschlagen. Ist das eine Lösung?
Ich glaube nicht. Hätten Sie lieber drei
Facebooks? Für die Aktionäre wäre eine
Zerschlagung des Konzerns vielleicht so-
gar gut. Instagram wäre ein sehr mächti-
ges Unternehmen.

Wie unterscheidet sich der Mark Zucker-
berg des Jahres 2020 von dem Harvard-
Studenten?
Er war damals praktisch ein Punk. Jetzt ist
er CEO eines gigantischen Unternehmens.
Er wird von seinem Reichtum einge-
schränkt. Er hat immer Personenschützer
um sich. Er wird stark kritisiert und er ist
vorsichtiger in der Öffentlichkeit. Aber er
ist so wettbewerbsfixiert wie immer. Er
sagt nicht mehr „Move fast and break
things“, aber er glaubt noch immer daran,
dass Facebook schnell sein muss. Und er
spielt noch immer „Risiko“.

interview: nicolas freund

Ein Buch zum launigen Weglesen, so wirkt
es mitdem bunten Fuchsmenschen auf
dem Titel und einem klaren, freundlichen
Sound. Bis man „Mein weißer Fuchs“
gemütlich im Bett weiterliest und das
Einschlafen sich auf unbestimmte Zeit
verzögert: Unter jeder der Geschichten mit
ihrem magischen Realismus läuft bei
Katharina Bendixen eine leise, gemeine
Spur der Verunsicherung mit.
Die Figuren geben keine Ruhe, sie spu-
ken dezent aber beharrlich im Kopf herum.
Zum Beispiel der siebenjährige Junge, der
sich eine Rüstung baut, aus der Angst des
Vaters, dem kleinen Glück der Mutter, dem
Fleiß der Schwester. Darin steckt der Stoff
für einen Gesellschaftsroman des Spät-
kapitalismus: ein Vater, der seit er im Job
aufsteigt, Ängste mit nach Hause bringt,
wie kleine Haustiere; eine Mutter, die ewig
zurücksteckt; eine gerade erwachsene
Schwester, die endlich ausbricht aus dem
Wohlstandsgefängnis, dann aber blass
und schwer krank in ihr Kinderzimmer
zurückkehrt, wo ihre Haut immer dünner
wird; ein bester Freund, der unter Gleich-
altrigen seine Loyalität vergisst; ein Mäd-
chen, das lächelt – und der junge Erzähler,
der nicht weiß, wie zurücklächeln geht.
Gerade das Schwere kommt bei Bendi-
xen leicht und beiläufig daher. „Erst später
ist mir aufgegangen“, heißt es in der Titel-
geschichte, „dass wir uns nicht wegen
meiner Anfälle getrennt haben, sondern
aus einem anderen Grund. Im Gegensatz
zu mir fürchtete mein Freund den Tod und
nicht das Leben.“ Die Erzählung handelt
von Kontrollverlust, nur dass es hier nicht
um cholerische Schübe, Depression oder
ADHS geht, sondern eben um Menschen,
die einen Fuchs in sich haben. Das Ganze
spielt in einer aufgeklärten Gesellschaft,
die um die Füchse weiß, die in der Praxis
aber anstelle des Abweichenden doch lie-
ber das Gleiche hätte.
Mal streifen Fabelwesen durch die Ge-
schichten, ohne sich um den Rucksack vol-
ler Mythen-, Märchen- und Fantasysym-
bolik zu scheren, den sie eigentlich tragen
müssten. Mal ist es das Setting selbst, das
irgendwie neben der Spur läuft: Plötzlich
herrscht Krieg und eine Ausgangssperre
kocht die Hirne weich. Eine Lehrerin
verliert sich im Wahn, einen verschollenen
Verwandte aufstöbern zu müssen – und
alle schauen zu. In einem „Zauber-
berg“-Setting müssen Herzen operativ
ersetzt werden, weil die alten zerbrochen
sind oder viel zu hochtourig schlagen.
An einigen Stellen mischt die Autorin
etwas zu viel Interpretationshilfe bei.
Stärker sind die Texte, die rätselhaft blei-
ben. Erklärungsbedürftig sind schließlich
nicht magische Abweichungen, sondern
die komische Welt, in der wir leben. Bendi-
xen stellt nur den Blick darauf scharf.
cornelia fiedler


Katharina Bendixen: Mein weißer Fuchs. Erzählun-
gen. Poetenladen, Leipzig 2019. 112 S., 18,80 Euro.


Umzingelt


Wenn man sich als mittelalter, liberaler Schriftsteller inmitten stiernackiger


Kleingeister wiederfindet: Jonathan Coes Roman über Brexit-England


„Er wird von seinem
Reichtum eingeschränkt.
Er hat immer
Personenschützer um sich.“

Immer dünnere


Haut


KatharinaBendixen erzählt in
neuen Bildern vom alten Irrsinn

„Hätten Sie lieber drei Facebooks?“


Steven Levy hat ein Buch über Mark Zuckerberg und seinen Konzern geschrieben. Ein Gespräch über Risiken und Regulierungen sozialer Netzwerke


Jonathan Coe:Middle
England. Roman. Aus dem
Englischen von Cathrine
Hornung und Dieter Fuchs.
Folio Verlag, Wien/Bozen


  1. 477 Seiten, 25 Euro.


Steven Levy, geboren
1951 in Philadelphia,
zählt zu den einfluss-
reichsten Tech-Journalis-
ten. Er war Chefredak-
teur der US-Zeitschrift
„Wired“ und schrieb
Bücher über Google und
die Hackerszene.
FOTO: M. WINKELMEYER / AFP

Coe hat den Ehrgeiz, das
Gründungswerk des jungen
Genres Brexit-Roman zu liefern

DEFGH Nr. 51, Montag, 2. März 2020 (^) LITERATUR HF2 11
Land der Wütenden und der Rassisten, der Abgehobenen und der Weltfremden, der Ressentiments und der Frustrationen:
Brexit-Anhänger feiern in Glasgow den Austritt aus der EU. FOTO: ANDREW MILLIGAN/DPA
„Er war damals praktisch ein Punk“: Mark Zuckerberg hat das Studium in Har-
vard abgebrochen, bekam aber 2017 die Ehrendoktorwürde. FOTO: STEVEN SENNE/AP

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