Süddeutsche Zeitung - 02.03.2020

(Nora) #1
Erste Reihe oder letzte Bank?
Meistenserste Reihe, Sehschwäche und
Vergnügungssucht zum Dank.

Influencer oder Follower?
Ich war der Klassenclown, und doch liebte
ich es, tollen Mitschülern zu folgen.

Mein Hobby in der Pause?
Fußball, Spickzettel und Murmeln.

Meine größte Stunde?
Während einer Religionsstunde, die für
mich als Jude frei war, ließ ich mich in den
Klassenzimmerschrank sperren, um wäh-
rend der Stunde „lustige“Geräusche zu ma-
chen. Nach einer Weile wurde ich jedoch
klaustrophobisch und brach den Schrank
panisch von innen auf. Definitiv eine Glanz-
stunde meines Lebens.

Das würde ich gern vergessen:
Während einer Religionsstunde, die für
mich als Jude frei war ... Sie wissen schon.

Ein Denkmal gebührt ...
...der voll dilettantischen Prä-Punk-Band
namens „Die Sheepseggels“, mit der wir
sehr viel Spaß hatten.

Lernen ist ...
...nur sinnvoll, wenn man versteht, was
und warum man lernt.

Noten sind ...
...gut für schlaue Menschen, schlecht für
faule Menschen und ein Beweis dafür, dass
man nicht verstanden hat, was Schule ei-
gentlich ist.

Schule müsste ...
...später anfangen, mehr im Freien stattfin-
den und überhaupt völlig anders sein.

Entschuldigen muss ich mich bei ...
...meiner Mutter. Sie musste bei mir öfter
lernen, dass Mutterliebe nicht unbedingt
erwidert wird.

Entschuldigen müssen sich bei mir ...
...all die groß gewachsenen Jungs, die mich
im Gedränge für ein Autogramm von Karli
Odermatt (Schweizer Fußballlegende der
70er- und 80er-Jahre, Anm. d. Red.) fast er-
drückt hätten.

Zur Schule hat jeder was zu sagen. War ja jeder da.
Deshalb gibt einmal die Woche „Alte Schule“.

von fabian busch

D


er Metallrahmen ist fertig, jetzt
fehlt noch die Rückwand. Wenn al-
les so weit ist, sollen die Schüler ei-
nen Schlüsselkasten aus dem Unterricht
mit nach Hause nehmen. Mit rotem Ed-
ding malen sie den Umriss des Rahmens
auf eine Metallplatte. „Und jetzt?“, fragt Fa-
bian Reinke. „Schneiden“, antwortet Juli-
an. Reinke zeigt auf die große Metallschere
am Werktisch. Die Schüler zögern noch.
„Traut ihr euch das zu? Probiert's mal!“
Fabian Reinke, graue Haare, Blaumann-
Jacke, Turnschuhe, war früher Metallbau-
meister. Als er einen Austausch für junge
Handwerker leitete, lernte er die Arbeit mit
Jugendlichen schätzen – und wurde Leh-
rer. Jetzt unterrichtet der 55-Jährige in der
Metallwerkstatt der Justus-von-Liebig-
Schule in Mannheim. Seine Ansprache ist
deutlich, seine Geduld groß, Lob gibt es
reichlich. Vor allem gehe es in seinem Job
um Beziehungsarbeit, sagt er. Für einige
Schüler ist das hier die letzte Chance. „Die
wissen: Jetzt müssen sie irgendwie schau-
en, dass sie wieder in die Spur kommen.“


Die Justus-von-Liebig-Schule ist ein sie-
benstöckiger Kasten aus gelbbraunen Klin-
kersteinen unweit des Mannheimer Ne-
ckarufers. Rund 1400 junge Menschen ler-
nen hier, viele nur in Teilzeit, parallel zur
Ausbildung als Friseur, Bäcker oder Speise-
eis-Fachkraft. Zu den besonderen Kompe-
tenzen der Beruflichen Schule gehören die
jungen Leute, um die andere gerne einen
Bogen machen: Schüler, die im „Vorqualifi-
zierungsjahr Arbeit/Beruf“ – kurz VAB –
den Hauptschulabschluss machen kön-
nen, den sie vorher nicht geschafft haben.
Andere Berufliche Schulen in Baden-
Württemberg haben wenige dieser Klas-
sen, die Justus-von-Liebig-Schule hat der-
zeit 22. Damit ist Peter Kapp für mehr als
400 Schüler zuständig. Auch der 52-Jähri-
ge ist Quereinsteiger: Er war Bauingeni-
eur, bis ihm sein Bürojob zu trocken wur-
de. Jetzt leitet er die Abteilung für Berufs-
orientierung. Schon seine Vor-Vorgänge-
rin habe entschieden, „dass wir uns diese
Schüler nicht vom Hals halten wollen“. Er
würde sie nicht mehr hergeben wollen,
sagt Kapp. „Ich bin stolz darauf, dass wir
das machen. Das ist unser Spielfeld.“

Mehr als 50 000 junge Menschen haben
dem Statistischen Bundesamt zufolge
2018 in Deutschland die Schule ohne Ab-
schluss verlassen – 6,8 Prozent der gleich-
altrigen Bevölkerung. In Mannheim lag die
Quote einer Caritas-Studie zufolge 2017 so-
gar bei 9,6 Prozent. Die meisten dieser Ju-
gendlichen landen an der Schule, die in der
Stadt nur „die Justus“ genannt wird.
Dass die Zahl der jungen Menschen oh-
ne Abschluss seit einem Tiefstand 2013
bundesweit wieder angestiegen ist, führt
die Caritas vor allem auf Zuwanderung
und Fluchtbewegungen zurück. Da ist zum
Beispiel der 18-Jährige aus Somalia, der im
Mathematik-Unterricht bei Peter Kapp in
der ersten Reihe sitzt. „Ich lerne viel hier“,
sagt er: die deutsche Sprache, Mathema-
tik, die Arbeit am Computer. Doch er hat
viel aufzuholen: In Somalia habe er nur ein
Jahr lang eine Schule besucht. Neben ihm
sitzt ein 16-Jähriger, der 2017 aus dem Irak
kam. Er hat zunächst eine Werkrealschule
besucht, dort riet man ihm, es hier zu versu-
chen. Sein Deutsch ist gut, ein Berufsziel
hat er auch: Zerspanungsmechaniker, die
ersten Bewerbungen sind schon raus.

Die „Justus“ besuchen zudem ehemali-
ge Förderschüler, die noch Probleme beim
Lernen haben. Aber auch frühere Gymnasi-
asten, bei denen familiäre Probleme dazu
führten, dass es in der Schule zuvor nicht
geklappt hat. Die meisten Jugendlichen
der VAB-Klassen sind nicht freiwillig hier,
sondern weil sie bis zum Alter von 18 be-
rufsschulpflichtig sind. Eine Statistik gibt
es nicht, aber an der Justus-von-Liebig-
Schule schätzt man, dass etwa die Hälfte
von ihnen hier noch den Abschluss schafft.
Wie gelingt, was an anderen Schulen
scheitert? Metallbau-Lehrer Fabian Rein-
ke glaubt, dass die praktische Arbeit viele
Schüler motiviert. Deutsch, Mathematik
und Englisch stehen auch hier auf dem
Stundenplan, aber ebenso Praktika und
handwerklicher Unterricht. Außerdem ha-
be man eine „etwas großzügigere Toleranz-
grenze, was ordnungsgemäßen Schulbe-
such angeht“, erklärt Schulleiterin Marian-
ne Sienknecht. „Wir freuen uns, wenn ein
Schüler kommt – auch wenn das eine hal-
be Stunde zu spät ist.“ Das solle nicht hei-
ßen, dass man nachlässig mit Regeln umge-
he. „Aber wenn Sie jemanden, der zu spät

kommt, in den Senkel stellen, dann macht
der dicht. Wenn die Schüler dagegen mer-
ken, dass sie trotzdem gewollt sind, kann
es sein, dass sich ein Schalter umlegt.“
In einer Klasse sitzen in der Regel 18 bis
20 Schüler. Da aber selten alle da sind, sind
es oft weniger. Unterstützung bekommen
die Lehrkräfte vom sonderpädagogischen
Dienst: Sechs Sonderpädagogen sprechen
bei Bedarf mit auffälligen Schülern oder
helfen ihnen im Unterricht – Julia Köller
ist eine davon. „Wenn ein schwächerer
Schüler den Dreisatz einfach nicht ver-
steht, drösele ich das didaktisch so auf,
dass es für ihn passt.“ Sie nennt aber auch
das Beispiel eines Jugendlichen mit ADHS.
Ihm fehlte das Bewusstsein dafür, dass er
im Unterricht ständig dazwischenredete.
Mit ihm und den Lehrkräften vereinbarte
Köller ein Signal. Ein „Tupfer“ auf die
Schulter signalisiert ihm: jetzt bitte Ruhe.

Die Schule arbeitet zudem mit einer frei-
en Jugendberufshilfeeinrichtung zusam-
men, dem Förderband. Dessen Sozialarbei-
ter helfen Schülern bei Bewerbungen oder
besuchen notorische Schwänzer zu Hause.
Letztlich ist der Bildungserfolg auch hier ei-
ne Frage der personellen Ausstattung. Ne-
ben den VAB-Klassen bietet die Justus-von-
Liebig-Schule die „Ausbildungsvorberei-
tung dual“ an. Dahinter steckt ein Bil-
dungsgang, den Baden-Württemberg seit
2014 an 53 Standorten testet. Auf dem Plan
stehen viele Praktika, auf 40 Schüler
kommt ein Sozialarbeiter. Landesweit be-
kommen im Schnitt 36 Prozent der Absol-
venten eine Ausbildungsstelle – an der
„Justus“ waren es zuletzt 66 Prozent.
Vielleicht ist es eine Stärke der Schule,
dass hier niemand die Augen vor der Reali-
tät verschließt. Die Polizei ist regelmäßig
da, immer wieder gibt es Schlägereien und
Drogenhandel. Schulleiterin Marianne
Sienknecht ist wichtig, dass zukünftigen
Lehrkräften bewusst ist, worauf sie sich
einlassen. Ein „Standing“, eine gewisse
Frustrationstoleranz, müsse man mitbrin-
gen. Nicht immer können sich Lehrkräfte
über schnelle Erfolge freuen. Hat ein jun-
ger Mensch es doch noch zum Hauptschul-
abschluss geschafft, ist das noch keine
Garantie, dass auch der Weg in den Beruf
gelingt. Es geht zunächst um eine Perspek-
tive, sagt Abteilungsleiter Peter Kapp. Um
eine Idee, wie es weitergehen könnte.
Zeynep Tan unterrichtet in einer VAB-
Klasse für Sprachanfänger. 15 Stunden
Deutsch stehen pro Woche auf dem Stun-
denplan, viel Zeit, um Kontakte zu ihren
Schülern aufzubauen. „Man kann ihnen
keinen Raum zum Lernen geben, wenn die
Beziehungsebene nicht stimmt“, sagt sie.
Enttäuschungen und Erfolge – beides ge-
hört zu ihrem Berufsalltag: Sie hat miter-
lebt, wie Schüler trotz Berufsperspektive
abgeschoben wurden. Sie erinnert sich
aber auch an einen jungen Mann aus Gam-
bia. Er kam nach dem Abschluss noch ein-
mal in die Schule, ging ins Sekretariat und
ließ seine frühere Lehrerin ausrufen. So-
fort musste er es ihr erzählen: Es hatte end-
lich geklappt mit dem Ausbildungsplatz.

Dani Levy (links), 1957 in Basel
geboren, lebtseit vier Jahrzehnten als
Schauspieler, Drehbuchautor und
Regisseur in Berlin. Dort gründete er
mit Tom Tykwer und anderen die
Produktionsfirma X-Filme. Seine
größten Regieerfolge sind die Komödie
„Alles auf Zucker!“ und die Parodie
„Mein Führer – Die wirklich wahrste
Wahrheit über Adolf Hitler“ mit
Helge Schneider. Am 5. März kommt
seine Verfilmung des Bestsellers
„Die Känguru-Chroniken“
von Marc-Uwe Kling ins Kino.
FOTO: STEPHAN RABOLD/XFILME/XVERLEIH

Wo letzte Chancen genutzt werden


An einer Berufsschule in Mannheim schaffen viele Jugendliche noch den Abschluss, die überall sonst
durchs Raster gefallen sind – auch deshalb, weil hier niemand die Augen vor der Realität verschließt

Die Krankheit ist gefährlich, hochanste-
ckend – und sie schien fast vergessen zu
sein, da mehrten sich in Berlin vor gut fünf
Jahren die Fälle: Die Masern waren zurück.
Auch an einer Waldorfschule im Bezirk Rei-
nickendorf erkrankten Kinder. Doch Hilfe
schien dort zunächst nicht sehr willkom-
men zu sein: Patrick Larscheid, der das Ge-
sundheitsamt im Bezirk leitet, erinnert
sich, dass es sogar zu einem Konflikt mit
der Schule über die Frage gekommen sei,
ob die Behördenmitarbeiter sie betreten
dürfen. Am Ende kontrollierten sie zwar
doch vor Ort den Impfstatus der Schülerin-
nen und Schüler. Aber für Larscheid zeigt
das Beispiel: „In bestimmten Milieus ist
der Kampf gegen die Seuche zumindest
sehr schwierig.“ Die Waldorfschule hat


sich auf Anfrage der SZ nicht geäußert –
auch nicht dazu, wie sie auf die neuen Impf-
regeln blickt, die nun gelten.
Seit dem 1. März müssen Kinder in Schu-
len und Kitas gegen Masern immun sein.
Die Einrichtungen müssen den Impfstatus
bei der Aufnahme abfragen, so verlangt es
das neue Masernschutzgesetz. Ist ein
Kleinkind nicht geimpft, darf es die Kita
nicht besuchen. Nicht geimpfte Schulkin-
der müssen den Gesundheitsämtern ge-
meldet werden. Verweigern sich die Eltern
dauerhaft, drohen Bußgelder. Der Verband
Bildung und Erziehung (VBE) kritisierte be-
reits den Aufwand, der den Schulen aufge-
bürdet werde – und die vielen offenen Fra-
gen. Was passiert, wenn sich Eltern trotz
Bußgeld weiter verweigern? Können schul-

pflichtige Kinder vom Unterricht ausge-
schlossen werden?
Besonders interessant dürfte sein, was
an Waldorfschulen passiert. Auffällig oft
brachen die Masern an den anthroposo-
phisch geprägten Einrichtungen aus: 2019
etwa an Waldorfschulen in Hildesheim
und Freiburg. Eine Waldorfschule in Jena
bezeichnete es im Sommer in einem Eltern-
brief als „geradezu irrationale Hysterie“,
als Behördenmitarbeiter nach einem Ma-
sernfall Impfpässe kontrollierten.
Eine Auswertung des Landesgesund-
heitsamtes Baden-Württemberg aus dem
vergangenen Jahr beklagt „fortbestehen-
de Impflücken“ bei Waldorfkindern. Sie
verglich Zahlen aus Einschulungsuntersu-
chungen von 2014 bis 2017. Dabei zeigte

sich: Rund 30 Prozent der untersuchten
Waldorfkinder war nicht geimpft, unter
den übrigen nur gut fünf Prozent. „Eltern
aus einem impffeindlichen Milieu fühlen
sich oft hingezogen zu Waldorfschulen“,
sagt auch Patrick Larscheid vom Gesund-
heitsamt in Berlin-Reinickendorf. „Und
die Anthroposophie, die Weltanschauung
hinter den Schulen, bestärkt diese Haltung
oft auch noch.“ Ihr Begründer Rudolf Stei-
ner sah das Impfen als potenzielle Gefahr
für die menschliche Spiritualität.
Unter Verweigerern kursiert die Idee,
man könne der Pflicht mit Attesten entge-
hen. Die Möglichkeit lässt das Gesetz zwar
theoretisch. Doch die Impfung gegen Ma-
sern gilt als sehr sicher. Impfausnahmen
könne es aus medizinischer Sicht daher

nur in Ausnahmefällen geben, sagt Ge-
sundheitsamtschef Larscheid. „Auch die
schärfsten Impfgegner unter den Ärzten
werden sich davor hüten, falsche Atteste
auszustellen. Dafür bräuchte es ein gehöri-
ges Maß an krimineller Energie.“
Das gibt auch die kleine Fraktion der
impfskeptischen Mediziner zu. Der Verein
„Ärzte für individuelle Impfentscheidung“
etwa hat einen Juristen das Gesetz auf
Schlupflöcher prüfen lassen – und rät Me-
dizinern dringend davon ab, Eltern falsche
Bescheinigungen auszustellen. Lieber un-
terstützt man nun mehrere Familien, die
Verfassungsbeschwerde eingereicht ha-
ben. Und ein Zufall dürfte es nicht sein: Der
Vorsitzende des Vereins ist Schularzt an ei-
ner Waldorfschule. bernd kramer

ALTE SCHULE


Gibt es da nicht ein Attest?


An Schulenund Kitas gilt seit 1. März Masern-Impfpflicht. Besonders interessant dürfte sein, was nun an Waldorfschulen passiert


„Die wissen: Jetzt müssen sie irgendwie schauen, dass sie wieder in die Spur kommen.“ Fabian Reinke, Lehrer an der Justus-von-Liebig-Schule in Mannheim, arbeitet
mit zwei Schülern in der Metallwerkstatt. FOTO: FABIAN BUSCH


Dani Levy


Punk im Schrank, plädiert
für Freiluftschule

Der Schulleiterin ist wichtig, dass
zukünftigen Lehrkräften bewusst
ist, worauf sie sich einlassen

(^12) SCHULE UND HOCHSCHULE Montag, 2. März 2020, Nr. 51 DEFGH
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