Süddeutsche Zeitung - 02.03.2020

(Nora) #1
München– Seitdie Arbeitswelt digitali-
siert wird, verändert sich für Beschäftigte
viel. Vor Kurzem erregte der Modehändler
Zalando mit der Personalsoftware Zonar
Aufsehen, bei der sich Kollegen gegensei-
tig benoten. Mitarbeiter klagen, Zalando er-
zeuge Überwachung, Leistungsdruck und
Stress. Nun haben Forscher in zweijähriger
Arbeit untersucht, wie generell die Soft-
wareanalyse von Beschäftigten zu bewer-
ten ist. Ergebnis: Unternehmen handeln
dabei womöglich oft rechtswidrig.
Firmen setzen zunehmend Software
ein, um Mitarbeiter zu analysieren und zu
bewerten,People Analyticsheißt das. So
lassen sich tatsächliche oder mögliche Leis-
tungen analysieren, steuern oder voraussa-
gen. Die Programme erkennen Muster
oder rechnen mit Wahrscheinlichkeiten, et-
wa durch maschinelles Lernen. „Firmen be-
finden sich damit oft in einer rechtlichen
Grauzone, häufig wird der Einsatz sogar
rechtswidrig sein“, heißt es nun in einer
Studie der Organisation Algorithm Watch,
die derSüddeutschen Zeitungvorliegt.
Das Forschungsprojekt, unterstützt von
der gewerkschaftsnahen Hans-Böckler-
Stiftung, enthält Gutachten etwa des Ar-
beitsrechtlers Peter Wedde. Es beschäftigt
sich nicht mit selbstentworfener Software
wie bei Zalando oder dem Verhalten indivi-
dueller Arbeitgeber. Es geht vielmehr um
Programme wie Microsofts Office 365
Workplace Analytics, IBMs Watson Talent
Insights oder SAP Success Factors People
Analytics. Dabei bedeutet es noch wenig,

dass solche Software in einem Unterneh-
men vorhanden ist. Anders, wenn es damit
tatsächlich People Analytics betreibt.
Wenn es etwa Beschäftigtendaten verar-
beitet, um individuelle Leistungen vorher-
zusagen, gibt es strenge gesetzliche Gren-
zen, so die Forscher. „Hier müssen die Be-
schäftigten einzeln und freiwillig einwilli-
gen. Das wird in der Praxis oft nicht der
Fall sein.“ Die Alternative ist, dass eine Be-
triebsvereinbarung die Analysemethoden
legitimiert. Doch auch diese fehle häufig.
„Es ist davon auszugehen, dass sehr oft we-
der eine Einwilligung vorliegt noch Be-
triebsräte bereit dazu sind, Betriebsverein-
barungen abzuschließen.“ Damit rutsch-
ten die Unternehmen beim Einsatz der Pro-
gramme in die Grauzone oder gar in die
Rechtswidrigkeit, so die Forscher. Ihre Er-
kenntnisse kommen, bevor Bundesarbeits-
minister Hubertus Heil (SPD) am Dienstag
das Observatorium Künstliche Intelligenz
(KI) eröffnet, das die Auswirkungen auf Ar-
beit und Gesellschaft untersuchen wird.
SAP erklärte, um Personalprogramme
für ein besseres Arbeitsumfeld zu gestal-
ten, sei es weder notwendig noch zielfüh-
rend, Daten auf individueller Mitarbeiter-
ebene zu analysieren. „In diesem Kontext
arbeiten wir bei SAP ausschließlich mit ag-
gregierten, vollkommen anonymisierten
Datensätzen, unter Einhaltung der Daten-
schutzregelungen.“ Microsoft erklärt da-
zu, Unternehmen, die Microsoft 365 kauf-
ten, entschieden für ihre Mitarbeiter, wel-
che Module eingesetzt und aktiviert wür-

den. „Dafür wird zwischen dem Unterneh-
men und dem Betriebsrat im Regelfall eine
Betriebsvereinbarung geschlossen.“ Bei
den Produkten My Analytics und Workpla-
ce Analytics könnten keine individuellen
Leistungen von Vorgesetzten beurteilt
oder vorhergesagt werden.

Die Studie von Algorithm Watch macht
als weiteres Problem aus, dass die Unter-
nehmen den Betriebsräten oft nicht die
Auskünfte über die Programme geben
könnten, die diesen zustehen. Nach dem
Gesetz müssten Firmen Arbeitnehmerver-
treter weitreichend informieren, wie Perso-
nalsoftware funktioniert, die etwa auf
künstlicher Intelligenz basiert. Doch die
Anbieter gäben diese Informationen häu-
fig nicht heraus: „Auf welchen Annahmen
und Modellen Prognosen getroffen wer-
den, mit welchen Daten die Systeme trai-
niert wurden, halten die Anbieter üblicher-
weise geheim.“ Sie begründeten das damit,
dass sie sich vor Nachahmern schützen
müssten. Microsoft erklärt, man stelle
durchaus Dokumentation zur Funktions-
weise der Software zur Verfügung, was
aber seine Grenze beim Schutz von Ge-
schäftsgeheimnissen finde.
„Wenn der Betriebsrat keine Informatio-
nen einfordert, führen Firmen die Systeme

oft ein“, beobachtet Matthias Spielkamp
von Algorithm Watch. Er ruft Betriebsräte
auf, ihre Auskunftsrechte bereits in der Pla-
nungsphase von KI-Systemen durchzuset-
zen, da sich die praktische Wirksamkeit ih-
rer Mitbestimmungsrechte verringert, so-
bald Systeme eingeführt sind. „Im Nach-
hinein ist es schwieriger, etwas zu ändern.“
Zusammen mit dem Mathematiker Sebas-
tian Stiller von der TU Braunschweig wur-
de ein Leitfaden entwickelt, wie Unterneh-
men und Betriebsräte gemeinsam von den
Softwareanbietern die nötigen Informatio-
nen erfragen können. Spielkamp fordert
die Bundesregierung auf, gesetzlich klarzu-
stellen, dass Unternehmen auch dann ver-
wendete Methoden transparent machen
müssten, wenn die Softwareanbieter mau-
erten.
Der Arbeitsrechtler Peter Wedde fordert
von der Regierung noch mehr: „Um Be-
schäftigte insbesondere vor dem hohen
Kontrollpotenzial zu schützen, das sich
mit KI-Software und selbstlernenden Algo-
rithmen verbindet, ist ein Ausbau beste-
hender Mitbestimmungsrechte unum-
gänglich.“ Die Gewerkschaft Verdi legt in
Kürze ethische Leitlinien für den Einsatz
von künstlicher Intelligenz vor. Vorstand
Christoph Schmitz erklärt dazu unter ande-
rem, KI-Systeme, die auf der Verarbeitung
großer Datenmengen basieren, dürften
nicht zu einer Gefährdung der Persönlich-
keitsrechte führen. „Ein Beschäftigtenda-
tenschutzgesetz ist überfällig.“
alexander hagelüken

von henrike roßbach

Göhren-Lebbin/Berlin– Alser vor vier
Jahren nach Deutschland kam, war er
14 Jahre alt und allein unterwegs. Almo-
menbellah Hasan Alahmad steht im Win-
tergarten von Schloss Fleesensee in Meck-
lenburg-Vorpommern. Draußen leuchtet
das Grün des Golfplatzes, und hätte er
nicht gerade vom Krieg in seiner syrischen
Heimatstadt Deir ez-Zor gesprochen, von
Schlauchbooten und dem langen Weg hier-
her, man würde ihn in seiner Hotelgardero-
be für einen ganz normalen Azubi halten.
Amon, wie sie ihn hier nennen, arbeitet seit
eineinhalb Jahren im Schlosshotel, in Göh-
ren-Lebbin, einem „staatlich anerkannten
Erholungsort“ mit 652 Einwohnern und
Tempo 30 gleich hinterm Ortsschild. Hotel-
fachmann will er werden, gerade ist der Be-
rufsschulblock dran, am liebsten arbeitet
er an der Rezeption.
Der heute 18-Jährige verkörpert das,
was für die einen ein Hoffnungswert war,
als 2015 die Flüchtlinge kamen, für die an-
deren bloß eine Illusion: dass die Integrati-
on von Geflüchteten in den Arbeitsmarkt
klappen kann. Politisch hat der Komplex
Flucht, Zuwanderung und Fachkräfteman-
gel erst zu viel Streit und dann zum Migrati-
onspaket geführt, das der Bundestag ver-
gangenes Jahr verabschiedet hat: Seit
Anfang des Jahres gilt das „Beschäfti-
gungsduldungsgesetz“, das es Betrieben er-
leichtert, auch Flüchtlinge, die nur gedul-
det sind, als Azubis oder Mitarbeiter einzu-
stellen und längerfristig zu behalten. Am


  1. März ist mit dem Fachkräfteeinwan-
    derungsgesetz nun der zweite Teil des
    Pakets in Kraft getreten. Damit ist es für
    Fachkräfte aus Nicht-EU-Ländern leich-
    ter, nach Deutschland einzureisen, um
    hier zu arbeiten. Voraussetzung sind eine
    qualifizierte Berufsausbildung und ein
    konkretes Arbeitsplatzangebot. Unter be-
    stimmten Umständen dürfen Fachkräfte
    aber auch für die Suche nach einer Stelle
    einreisen. Wenn ihre Ausbildung nicht
    gleichwertig ist mit einem deutschen Ab-
    schluss, können sie teilweise Qualifikatio-
    nen in Deutschland nachholen.


„Ein enormer Fortschritt“, sagte Bundes-
arbeitsminister Hubertus Heil (SPD) Ende
vergangener Woche über das Fachkräfte-
einwanderungsgesetz. „Unsere Wirtschaft
braucht dringend Fachkräfte“, betonte
Wirtschaftsminister Peter Altmaier (CDU).
„Ein längst überfälliger Schritt“, sagte Fa-
milienministerin Franziska Giffey (SPD),
und Handwerkspräsident Hans Peter Woll-
seifer lobte: „Ein neues Kapitel in der Zu-
wanderungspolitik Deutschlands.“
In Göhren-Lebbin sind die Reaktionen
dezenter. Sie hätten längst Arbeitskräfte-
mangel, sagte Hotelmanager Harald
Schmitt nüchtern, vom bloßen Fachkräfte-
mangel seien sie schon weit weg. Trotz-
dem verspricht er sich etwas von dem
neuen Gesetz; auf Kreuzfahrtschiffen etwa
arbeiteten Leute aus allen möglichen Län-
dern, die sie gut gebrauchen und künftig
vielleicht einfacher einstellen könnten.
Thomas Liebig, Migrationsexperte der
OECD, attestiert dem neuen Fachkräfteein-
wanderungsgesetz vor allem eine Schwä-
che: dass potenzielle Kandidaten in der Re-
gel ihre formale berufliche Qualifikation
anerkennen lassen müssen, bevor sie in
Deutschland arbeiten dürfen. Helfen soll
dabei die im Februar eröffnete „Zentrale
Servicestelle Berufsanerkennung“. Sie soll
Bewerber, die noch nicht eingereist sind,
durch das komplizierte System der Aner-
kennung ihrer Abschlüsse lotsen. Internati-
onal aber sei eine solche Anerkennung „un-

üblich“, sagt Liebig; objektiv und in der
Wahrnehmung potenzieller Zuwanderer
sowie des deutschen Mittelstands sei sie
„eine Hürde“. Auch die Grünen warnen,
durch das komplexe Anerkennungsverfah-
ren könne das ganze Gesetz zum Flop wer-
den. Mit Blick auf die sich wandelnde Ar-
beitswelt gibt Liebig noch zu bedenken:
„Vielleicht brauchen wir eher Talente, die
sich unterschiedlichen Gegebenheiten an-
passen können, als passgenau qualifizierte
Fachkräfte.“ Sinnvoll wäre es aus seiner
Sicht, statt formaler Berufsabschlüsse
Sprachkenntnisse als Qualifikation anzuer-
kennen. Das neue Gesetz bringe mehr Öff-
nung, reiche aber nicht aus.
Ob die Anerkennung ausländischer Ab-
schlüsse zur Hürde wird, dürfte zum einen
mit der personellen Ausstattung der Aner-
kennungsstellen zusammenhängen. Sofie
Geisel, Mitglied in der Hauptgeschäftsfüh-
rung des Deutschen Industrie- und Han-
delskammertags (DIHK), sieht darüber hin-
aus auch Unterschiede zwischen den Bran-
chen. Sie könne sich vorstellen, sagt sie,
dass die Anerkennung bei Köchen oder an-
deren Hotel- und Gastronomieberufen
„nicht das Nadelöhr sein wird“. Anders kön-
ne es in technischen Berufen aussehen,

„weil Deutschland da wahnsinnig differen-
ziert ist“. Die zentralen Fragen aber wer-
den aus ihrer Sicht andere sein: „Können
die Bewerber Deutsch? Und ist das hier für
sie ein guter Ort, an dem sie irgendwann
auch mal so was wie glücklich sind?“
Wenn man Amon, den Azubi im Schloss-
hotel, danach fragt, wie er von Deir ez-Zor
nach Göhren-Lebbin gekommen ist, dann
sagt er „Herr Schröder“. Auch seine Kolle-
gen, Ibrahim Abbara, 20, aus Aleppo, und
Abdo Mohammad Mubarek, 28, aus Da-
maskus, sagen „Herr Schröder“, wenn sie
nach ihrem Weg ins Hotel gefragt werden.
Herr Schröder heißt mit vollem Namen
Christian Schröder und ist der Personallei-
ter des Schlosshotels. Außerdem ist er
noch Regionalbotschafter des Netzwerks
„Unternehmen integrieren Flüchtlinge“,
das 2016 vom DIHK und dem Bundeswirt-
schaftsministerium gegründet wurde und
heute mehr als 2400 Mitgliedsunterneh-
men hat. Vor allem aber ist Schröder derje-
nige, der auf Jobmessen, beim Internatio-
nalen Café im 20 Kilometer entfernten Wa-
ren, einem Treffpunkt für Geflüchtete,
oder im Kontakt mit diversen Institutio-
nen bislang 17 Flüchtlinge ins Hotel geholt
hat, in dem insgesamt 145 Menschen arbei-

ten. Nicht alle sind geblieben. Auch Amon,
dessen Bruder und Eltern inzwischen auch
in Deutschland leben, will nach der Lehre
vielleicht nach Dubai, in ein anderes Hotel.
Ibrahim Abbara, der derzeit vor allem in
der Gastronomie arbeitet, will eine Lehre
als Elektriker machen. Derzeit aber gehö-
ren acht Geflüchtete fest zum Hotelteam,
und Schröder findet es schade, aber okay,
wenn manche später andere Wege gehen.
„Es ist wichtig, dass sie ihren Weg finden,
und ich bin der Erste, der ihnen eine Emp-
fehlung schreibt.“
Schröder, groß gewachsen und sichtlich
stolz auf seine Leute, erhofft sich von dem
neuen Fachkräfteeinwandungsgesetz „die
ein oder andere Einstellung“. Bislang hatte
er sich nur um Geflüchtete bemüht, die
schon im Land waren. „Der Fluss ist aber
schon dünner geworden.“ Er glaubt, dass
die Gewinnung von Fachkräften aus dem
Ausland deutlich schwieriger wird als sei-
ne bisherige Rekrutierung von Flüchtlin-
gen mit Aufenthaltstitel. Versuchen aber
werden sie es in Göhren-Lebbin und an vie-
len anderen Orten. Denn der Fachkräfte-
mangel, das zeigen Umfragen wie etwa die
des DIHK, sehen die Unternehmen längst
als Risiko Nummer eins.

DEFGH Nr. 51, Montag, 2. März 2020 15


von markus zydra

C


hristine Lagarde wagt mehr Demo-
kratie. Die neue Präsidentin der Eu-
ropäischen Zentralbank möchte die
europäische Zivilgesellschaft mit an Bord
nehmen bei der Suche nach der künftigen
Geldpolitik. In den Euro-Staaten wird es
Veranstaltungen geben, auf denen Bürger
ihre Meinung sagen können. Auch über
die Homepage der EZB können sie Ideen
und Kritik einbringen. Lagarde wolle zu-
hören, sagte sie, nicht predigen.
Ihr Versprechen trägt revolutionäre Zü-
ge, denn dem Bürger hat die Notenbank
bei ihrer Entscheidungsfindung bislang
nicht zugehört. Die Menschen bezahlen je-
den Tag mit dem Euro, aber die konkrete
Politik zum europäischen Geld diskutier-
ten Notenbanker, Akademiker und Finanz-
märkte bislang im engen, nach eigenem
Verständnis einzig kompetenten Kreis.
Jetzt dürfen andere Menschen ihre Allge-
meinbildung und praktische Währungser-
fahrung mit in die Waagschale werfen.


Diese Öffnung hin zur Gesellschaft ist
überfällig. Die Währungshüter zelebrier-
ten sich viel zu lange als ideologieferne
Technokraten, die nur auf Basis ökonomi-
scher Daten das vermeintlich Richtige
entscheiden würden. Aber die Welt weiß:
Notenbanker können irren. Mögliche Feh-
ler einzugestehen gehört allerdings nicht
zu ihren Stärken. Mit Volksnähe taten sich
die Währungshüter seit jeher schwer. Das
fiel bis zum Ausbruch der Finanzkrise
2008 aber nicht auf. Die Zentralbanker
galten als Maschinisten: Zinsen erhöhen
oder senken, darum ging es. Diese Tätig-
keit brauchte kein Rampenlicht.
Das Wirken im Schatten endete mit der
Finanz- und Euro-Schuldenkrise. Der Ma-
schinist der Finanzwirtschaft mutierte
zum Retter der Währungsunion. Die EZB
besitzt ein unerschöpfliches Geldreser-
voir und war deshalb die einzige europäi-
sche Institution, die schnell und effizient
reagieren konnte auf Panik, Spekulation
und Misstrauen. Doch die Instrumente,
die sie einsetzte – Anleihekäufe und Null-
zins – haben viele Menschen in Europa
gegen die Institution aufgebracht.
Die Öffentlichkeit sieht die Akademi-
ker, ehemaligen Banker und Politiker im
Euro-Tower plötzlich mit anderen Augen.
Man registriert ihre große Freiheit. Ihr


Mandat dauert acht Jahre, abberufen
kann man sie nicht. Der Wähler hat bei der
Auswahl der Chefnotenbanker nichts zu
sagen, obwohl das Gremium mit seiner
Geldpolitik Risiken eingeht, für die der
Steuerzahler im schlimmsten Fall gerade-
stehen muss. Das fordert unbequeme
Fragen heraus: Ist die lockere Geldpolitik
legal und legitim? Ist sie demokratisch
ausreichend verankert?
Die Skepsis der Menschen wächst,
auch durch einige Auswüchse in der EZB.
So bezahlte die Notenbank für Überseege-
schäftsreisen einiger Direktoren ohne
ersichtlichen dienstlichen Grund First-
Class-Flugtickets für deren Ehepartner.
Es kamen Tricks der Führungsriege bei
Spesenabrechnungen ans Licht. In der No-
tenbank gibt es Beschwerden der Beleg-
schaft über Günstlingswirtschaft. Die Ent-
rückung der Alchemisten zeigt sich in der
Sprache, denn ihre Reden ähneln viel zu
oft einer Vorlesung für höhere Semester
der Volkswirtschaftslehre.
Es ist gut, dass Lagarde einiges ändern
möchte in der Institution. Europas Bevöl-
kerung soll mitdiskutieren, gerade bei
den Fachfragen. Da geht es beispielsweise
um das Inflationsziel. Die EZB definiert
stabile Preise mit einer Teuerungsrate
von „unter aber nahe zwei Prozent“ – so-
viel sollen die Preise im Euro-Raum im
Durchschnitt steigen. Erst dann sind die
Währungshüter zufrieden.
Die Notenbank verfehlt ihr Ziel seit Jah-
ren. Dennoch setzt sie ihre lockere Geldpo-
litik stur fort, wider jeglicher Intuition:
Denn die Inflation fühlt sich für
Menschen sowieso schon hoch genug an,
wegen der gestiegenen Wohnungskosten.
Die EZB könnte doch ihr Inflationsziel her-
absetzen und die Negativzinsen abschaf-
fen. Mit solchen Meinungen werden Bür-
ger die Notenbanker konfrontieren. Dann
treffen Statistik auf Empfindung – und
Generalisten auf Fachleute. Warum auch
nicht? Zur Ökonomie haben nicht nur Spe-
zialisten eine fundierte Meinung.
Doch wie wird die EZB diesen Input
verwerten, der vielem widerspricht, was
Notenbanker gelernt haben? Es einfach zu
ignorieren, garniert mit erklärenden Wor-
ten? Das wird nicht reichen. Menschen,
die sich eingebracht haben, könnten sich
daraufhin zu Recht beklagen: Die EZB
macht sowieso, was sie will, egal, was die
Bürger sagen. Die Notenbanker gehen
raus zum Volk, gut so. Dann aber müssen
sie dessen Antworten auch in einer nach-
vollziehbaren Form berücksichtigen. An-
sonsten droht den Währungshütern ein
weiterer Vertrauensverlust.

Für ein paar Stunden ist Anu Bradford zu-
rück im alten Leben. Nach ihrem Juraab-
schluss in Helsinki und einem Masterstudi-
um an der Harvard University arbeitete die
Finnin in Brüssel für eine große US-An-
waltskanzlei. „Das Wetter in Belgien hat
sich nicht verändert“, sagt die 44-Jährige
beim Treffen mit Journalisten über den
Nieselregen, bevor sie den „Brussels Ef-
fect“ erklärt. Ihr Buch ist gerade bei Oxford
University Press erschienen und wird be-
reits als Standardwerk bezeichnet. Brad-
ford, die in New York an der Columbia Law
School lehrt, beschreibt darin mit klaren
Argumenten, dass „die Europäische Union
die Welt regiert“, wie es im Untertitel heißt.
Niemand sonst sei in der Lage, einseitig
wichtige Standards für so viele Bereiche
der Wirtschaft zu setzen, an die sich so-
wohl Firmen als auch Staaten halten müss-
ten, sagt sie. Die Datenschutzgrundverord-
nung, die seit 2018 unter anderem den Nut-
zern das „Recht auf Vergessen“ gibt, mag
Lesern bekannt sein, aber ähnlich wichtig
ist die Reach-Verordnung für Chemika-
lien. Sie trat 2007 in Kraft und gilt trotz
enormer Widerstände und Klagen über an-
geblichen Protektionismus weiterhin.
Dass sich Firmen entscheiden, die stren-
gen und oft teuren EU-Auflagen einzuhal-
ten, hat mehrere Gründe: Sie brauchen
den Zugang zu bisher 500 Millionen Konsu-
menten, und es wäre teurer, Produkte mit
verschiedenen Standards herzustellen. In
Brüssel gibt es zudem eine fähige Büro-
kratie, die diese Regeln durchsetzen kann



  • mit Strafen in Milliardenhöhe. Es hilft
    auch, dass die Mehrheit der EU-Bürger
    Märkte eher skeptisch sieht und Regulie-
    rung gut findet, etwa bei Nahrungsmitteln
    und Alltagsprodukten. Bradford schreibt,
    dass die EU die einheitlichen Standards
    auch einführte, damit die Europäer das
    Projekt des Binnenmarkts unterstützen.
    Die externe Wirkung und der Status als
    „globaler Hegemon“ kamen eher zufällig.


Zudem spielt Washington unter Donald
Trump seit dem Rückzug aus den Freihan-
delsabkommen TTIP und TPP kaum eine
Rolle mehr, sodass die EU ein Vakuum
füllen kann. Ihren Begriff leitete Bradford
übrigens ab vom „California Effect“ des
Politologen David Vogel. Er beschrieb das
Phänomen, dass der bevölkerungsreiche
Bundesstaat an der Westküste durch stren-
ge Auflagen, etwa für den Schadstoffaus-
stoß von Autos, den US-Markt prägt. Genau
verfolgt Bradford die Diskussion über den
Umgang der EU mit künstlicher Intelligenz:
„Wie setzt man Standards, ohne Innovatio-
nen zu verhindern und so den Rückstand
auf die USA und China zu vergrößern?“
Nach Auftritten in London und Paris
stellt Bradford ihr Buch in Berlin vor, bevor
sie in Brüssel bei Thinktanks, im EU-Parla-
ment und bei der Kommission auftritt. Im
Tagungsraum ihres früheren Arbeitgebers
nennt sie die Fragen ihrer Skeptiker: Ge-
fährden Chinas Aufstieg und der Brexit
nicht den „Brussels Effect“? Peking habe
bisher wenig Engagement als Regulierer
gezeigt, sagt sie, und wird seine Produkte
noch lange auf den EU-Binnenmarkt brin-
gen wollen. Dieser schrumpft zwar gerade
um 67 Millionen Briten, aber Bradford hält
es für „nahezu unmöglich“, dass sich Groß-
britannien wirklich von den EU-Regeln lö-
sen kann: „Der Brexit wird eher zeigen, wie
wirkmächtig der ‚Brussels Effect‘ ist“.
Auch andere Krisen hätten ihm nicht
geschadet, weshalb die Finnin die Klagen
über den Niedergang der EU ablehnt. Im
Gespräch zeigt sie sich als EU-Fan. Sie ver-
bringt jedes Jahr mehrere Monate in Euro-
pa, ihre Kinder wachsen auf beiden Konti-
nenten auf. Auch in den USA sei die Zeit vor-
bei, als ihr Studenten sagten: „Ich nehme
kein Europarecht, da könnte ich ja gleich
das Recht der Sowjetunion studieren“. Ge-
rade der Brüsseler Einfluss auf die Tech-
Branche biete Kennern des EU-Rechts nun
gute Karrierechancen. matthias kolb

Ein Schritt nach vorn


Fachkräfte aus dem Ausland können jetzt leichter in Deutschland arbeiten – vorausgesetzt, sie haben eine
qualifizierte Berufsausbildung und ein konkretes Jobangebot. Und das könnte schwierig werden

Anbieter legen nicht
alle Details ihrer
Programme offen

WIRTSCHAFT

Wenn die Firma den Mitarbeiter durchleuchtet


Studie: Die Softwareanalyse von Beschäftigten könnte oft rechtswidrig sein


Almomenbellah Hasan Alahmad macht eine Ausbildung im Hotel Schloss Fleesensee. FOTO: VIKTOR STRASSE/OH

NAHAUFNAHME


„Der Brexit wird
eher zeigen,
wie wirkmächtig der
‚Brussels Effect‘ ist.“
Anu Bradford
FOTO: MICHAEL SKOGLUND

EZB IM BÜRGERDIALOG

Zuhören reicht nicht


Europa regiert die Welt


Die New Yorker Juristin Anu Bradford lobt die Standards der EU


Statistik trifft auf Empfindung,


Generalisten diskutieren mit


Fachleuten. Warum auch nicht?


Das Anerkennungsverfahren
sei viel zu komplex, kritisieren
nicht nur die Grünen
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