Süddeutsche Zeitung - 02.03.2020

(Nora) #1
interview: max hägler

D


er kleine Ritter hinter dem auf-
geräumten Schreibtisch von Ilka
Horstmeier passt zu diesem Ein-
standsgespräch in der BMW-Zentrale. Von
Kollegen aus dem Karosseriebau hat sie
das Manschgerl geschenkt bekommen,
eine ihrer vielen Stationen, die nicht nahe-
liegend waren: Die 50-Jährige hat keinen
technischen Beruf studiert, begann als Per-
sonalreferentin. Dennoch wurde sie Moto-
renchefin und leitete das Werk Dingolfing



  • nun ist sie neue Personalvorständin des
    Autobauers, verantwortlich für 130 000
    Menschen. Auf dem Ritterschild ist das
    BMW-Logo aufgemalt. Symbolisch auch
    das: Handelskonflikte, Corona, neue Wett-
    bewerber und die E-Mobilität erschweren
    die Geschäfte. Bei BMW ist die Gewinn-
    marge deutlich gesunken. Horstmeier holt
    Kaffee für alle und wird präzise antworten.


SZ: Frau Horstmeier, die Zeiten für die
Automobilbranche werden immer schwie-
riger, und Sie haben vor vier Monaten
einen besonders unangenehmen Posten
übernommen: Personalchefin. Kann man
da noch ruhig schlafen?
Ilka Horstmeier: Wieso unangenehm? Ich
finde meine neue Aufgabe extrem ver-
antwortungsvoll und spannend und habe
viel Freude daran. Deshalb kann ich gut
schlafen und auch gut abschalten.
Mit Yoga?
Nein, das ist eher nichts für mich. Ich gehe
in die Berge, bin im vergangenen Jahr auf
die Zugspitze über den klassischen Kletter-
steig und die Reintalangerhütte.
Zu solchen Touren haben Sie selten Zeit?
Das stimmt. Dafür reflektiere ich auf dem
Nachhauseweg im Auto gern über den Tag
und was ich erlebt habe, meineThree Good
Things.Gutes Feedback etwa.


Je froher die Mitarbeiter, desto besser das
Feedback?
Unter anderem, und wir haben hier glück-
licherweise besonders leidenschaftliche:
88 Prozent unserer Leute sind begeistert,
hier zu arbeiten, sagt unsere aktuelle Mitar-
beiterbefragung. Sie wollen einen Beitrag
leisten, dass wir in unserer Industrie vorne
bleiben. Und mein Job ist es, dass das so
bleibt, denn der Satz stimmt schon: Die
Mitarbeiter sind der Garant für den Erfolg.
Das müssen Sie ja jetzt sagen.
Ich gebe Ihnen ein Beispiel: Im vergange-
nen Jahr konnten wir dank eingebrachter
Ideen von unseren Mitarbeitern viele Milli-
onen Euro einsparen. Gerade haben wir
den finanziell wertvollsten Mitarbeiterbei-
trag prämiert, der uns in einem Jahr allein
39 Millionen spart: Die Kollegen haben ein
Steuergerät im Auto so optimiert, dass wir
die Speicherkapazität deutlich reduzieren
können. Mit solchen Menschen können
wir den Technologiewandel gestalten.
Regierungsberater gehen davon aus, dass
allein die Umstellung auf die E-Mobilität
400 000 Arbeitsplätze kosten wird. Die
Folgen der Software-Revolution sind da
noch gar nicht bedacht.
Das halten wir für ein absolutes Extrem-
szenario. Wir sehen auch, dass Elektro-
mobilität am Ende weniger Arbeitsplätze
braucht. Aber das schauen wir langfristig
an und haben uns vorbereitet. Ein Beispiel:
Wir haben in Dingolfing im Jahr 2012 die ei-
gene Fertigung von Sitzen aufgegeben und
sind mit dem Freiraum, den Leuten dort,
dann ein zukunftsorientierteres Thema an-
gegangen: elektrische Antriebe. Im gesam-
ten Unternehmen haben wir mittlerweile
46000 Menschen im Bereich E-Mobilität
geschult. Deshalb haben wir im vergange-
nen Jahr das 500 000. elektrifizierte Fahr-
zeug auf die Straße bringen können, mehr


als alle anderen etablierten Premiumher-
steller. Und gleichzeitig haben wir die Pro-
duktion dafür derart flexibel ausgerichtet,
dass Autos mit verschiedenen Antrieben
von einem Band laufen können.

Sie behaupten sogar, dass absehbar kein
Personalabbau nötig sein wird. Das sehen
so ziemlich alle Wettbewerber und auch
Zulieferer anders – bei Daimler, Audi oder
Conti werden etliche Tausend Jobs gestri-
chen. Wie kommt das?
Zum einen: BMW wird weiter wachsen.
Und wir machen sehr viel selbst, wir haben
Schlüsselkomponenten ins Haus geholt,
anstatt sie extern bearbeiten zu lassen: in
unseren Kompetenzzentren E-Antriebs-
produktion und Batteriezellentwicklung
entstehen mehr als 2000 neue Arbeitsplät-
ze, auf dem Campus „Autonomes Fahren“
ebenso viele. Wir nutzen andererseits die
Fluktuation und die demografische Ent-
wicklung, um in Feldern zu reduzieren, wo
wir künftig weniger Menschen brauchen.
Es ist ein permanenter Umbauprozess,
den wir seit einigen Jahren schon voraus-
schauend gestalten. Insgesamt müssen Sie
die Industrie differenziert sehen. Es gibt
Hersteller mit anderen Voraussetzungen.
Und wir haben Zulieferer, die teilweise
sehr abhängig sind vom Verbrennungs-
motor, das ist eine andere Welt, eine

schwierigere Welt. Dort trifft die schwie-
rige konjunkturelle Lage teilweise mit der
Transformation zusammen.
Aus einem Autobauer muss ja auch ein
Softwareunternehmen werden. Das Vor-
bild bei der Digitalisierung heißt bran-
chenweit Tesla.
Wir haben beim Thema Software bereits
seit vielen Jahren eine Menge Kompetenz
aufgebaut. Wir haben viele Talente an
Bord geholt und qualifizieren intern sehr
stark: So soll das Programm „Back to
Code“ Kollegen wieder zum Programmie-
ren motivieren, die das vielleicht zuletzt
vor vielen Jahren machten. Wir arbeiten
hier auch mit der Online-Bildungsplatt-
form Udacity zusammen. Und wir koope-
rieren zum Beispiel mit einem Software-
unternehmen in Portugal, um so weitere
Kompetenz zu gewinnen.
Sie brauchen auch neue junge Talente,
aber um die konkurrieren viele.
Wir können Berufseinsteiger mit einer
sehr konkreten und spannenden Aufgabe
von uns überzeugen: Die nachhaltige Mobi-
lität der Zukunft zu gestalten. Dazu bieten
wir attraktive Gehälter, die noch höher
ausfallen, wenn wir Erfolg haben. Und wir
schaffen gute Arbeitsumgebungen – eine
Verantwortung, die übrigens auch in mei-
nem Ressort liegt.
Wie sieht das aus?

Räume mit viel Licht, die sich schnell an-
passen lassen, wenn neue Teams entste-
hen. Und ein Rund-um-Paket bei der Infra-
struktur: gutes Essen, Sport, Reinigungs-
service und natürlich Mobilitätsangebote.
Dazu gibt es dann Kickertische?
Die Mitarbeiter brauchen immer mal wie-
der kurzfristig ein anderes Umfeld, um auf
andere Gedanken zu kommen und beste
Leistung zu bringen. Aber ich bin bei
Kickertischen und Café-Atmosphäre wie
bei allen anderen Annehmlichkeiten ein
Anhänger des Augenmaßes: Es darf kein
Selbstzweck sein und muss der Leistungs-
fähigkeit der Mitarbeiter dienen.
Ein besonderes Augenmerk ist wohl auch:
Sie müssen mehr Frauen gewinnen. BMW
ist wie alle Autofirmen männerlastig.
Auch das darf kein Selbstzweck sein. Män-
ner und Frauen gehen unterschiedlich an
Probleme heran, haben unterschiedliche
Perspektiven, dadurch verstehen wir Kun-
den besser, können Herausforderungen
besser lösen, deswegen unterstützen wir
Vielfalt. So haben wir die Anzahl weibli-
cher Führungskräfte in den vergangenen
acht Jahren verdoppelt und liegen jetzt bei
17 Prozent. Für mich ist Diversity aber
nicht nur ein Männer-Frauen-Thema. Für
mich ist wichtig, dass wir als globales
Unternehmen mit internationalen Kunden
eine Kultur fördern, die von Toleranz und

Chancengleichheit geprägt ist. Das bezieht
mehrere Gruppen ein, egal ob diese sich
bei der sexuellen oder religiösen Orientie-
rung unterscheiden, auch das Miteinander
von Alt und Jung ist wichtig. Das fördern
wir über Reverse-Mentoring: Ganz junge
bringen den älteren Kollegen die Compu-
terwelt von heute bei.
Die IG Metall ist da bei der Frauenfrage
politischer: Sie fordert eine Frauenquote
auch in Vorständen. Was sagt eine Vor-
standsfrau dazu?
Es braucht Männer und Frauen.
Ist eine Quote nötig?
Quoten alleine werden nicht helfen, wir
müssen zudem darauf achten, dass es
nicht ins andere Extrem kippt. Wir brau-
chen einen Orientierungswert und müssen
in den Schulen und Unis anfangen sowie
das Wollen der Frauen fördern, mit Freude
Verantwortung zu übernehmen. Wir wis-
sen natürlich, dass es bei weiblichen Karri-
eren unterschiedliche Herausforderungen
gibt und gehen darauf ein. Das fängt an bei
der Kinderbetreuung, geht über Teilzeit-
möglichkeiten und reicht bis zur gezielten
Talententwicklung vor dem Hintergrund
weiblicher Verhaltensmuster.
Würde mit einer Quote Ihr persönlicher
Erfolg desavouiert werden?
Für mich war die Quote nie ein Thema: Ich
wollte meinen Beitrag fürs Unternehmen
leisten, mit meinen Fähigkeiten.

Sie sind vor 25 Jahren zu BMW gekom-
men, als Frau, zumal als Nicht-Ingenieu-
rin, obwohl das vielen hier wichtig ist.
War das nicht abschreckend?
Nein. Ich habe dabei Folgendes gelernt: Sie
brauchen auf so einem Weg Unterstützer,
ich hatte sie zum Glück immer. Das war da-
mals noch viel mehr nötig, als es das heute
ist. Nur so können Sie wirklich wahrgenom-
men werden, mit Ihrer Leistung und Ihrem
Willen, mit dem Unternehmen ihren Weg
gehen zu wollen, auch in wechselnden Posi-
tionen.
Das dürfte auf Männer auch zutreffen.
Auf so einem Weg müssen Sie an der einen
oder anderen Stelle mutige Entscheidun-
gen treffen. Und das ist ein bisschen das,
was wir bei Frauen eher weniger sehen: Ich
begebe mich auf ein Terrain, was nicht so
ganz ursprünglich meines ist.
Sie meinen Ihren Schritt vom Personal-
wesen in die Produktion?
Genau. Da habe ich auch zweimal oder drei-
mal drüber geschlafen, um Antworten zu
finden: Kann ich das, will ich das und traue
ich mir das zu? Ich hatte damals gute Men-
schen um mich herum, die mir geholfen
haben, das zu beurteilen. Und die mir bei
der Entscheidungsfindung zugesprochen
haben. Ich habe jeden von denen in der
letzten Zeit getroffen und mich noch ein-
mal bedankt für die Unterstützung.
Sie kommen aus der Wirtschaft und wur-
den dann Motorenchefin und Werkleite-
rin. Wie geht das?
In der Produktion geht es um Prozesse und
Menschen, damit kenne ich mich aus. Und
ich hatte ein Netzwerk an sehr fähigen Leu-
ten, denen ich vertrauen kann. Wenn alle
begreifen, dass sie sich gut ergänzen kön-
nen, dann kann das richtig gut werden.
Aber ein Acht-Zylinder hat nun nicht
mehr viel mit Wirtschaftsprozessen und
Vertrauen zu tun. Wie haben Sie sich das
Wissen draufgepackt?
Das beste Lernen ist vor Ort: Ich habe in
der Produktion mitgearbeitet. Als ich das
Motorenwerk München übernommen
habe, bin ich etwa in den Prototypenbau
gegangen und habe mit den Kollegen dort
einen Motor aufgebaut und wieder zerlegt.
Und dann noch einmal. Da haben wir
schon einen halben Tag zugebracht. Das
hat mir viel Spaß gemacht.

Ilka Horstmeierist verheiratet und wurde 1969 in
Duisburg geboren. 1995 ist sie zu BMW gekommen:
Erst alsTrainee und Personalreferentin, bald steu-
erte sie den Karosseriebau in München. Später lei-
tete sie die Strategie im Forschungszentrum, den
Motorenbau und das Werk Dingolfing.

Winfried Hermann,67,stellt den Ver-
kehrsverbünden in Baden-Württemberg
eine finanzielle Unterstützung beim
Umbau für einen attraktiveren Nahver-
kehr in Aussicht. Vorbild für den baden-
württembergischen Verkehrsminister ist
die Reform in Stuttgart. Seit April 2019
gibt es dort statt der bisher 52 Zonen
nur noch sehr übersichtliche fünf Tarif-
Ringe. Stuttgart selbst ist nur noch eine
einzige Zone. Insgesamt gibt es im
Südwesten 22 Verkehrsverbünde. Forde-
rungen, dass man samstags den Nahver-
kehr kostenlos nutzen darf, sieht der
Grünen-Politiker(FOTO: DPA)dagegen skep-
tisch. „Öffentlicher Verkehr ist nicht
billig. Wenn er kostenlos angeboten
werden soll, müssen noch mehr öffent-
liche Mittel, letztlich
Steuern oder Abga-
ben, aufgewendet
werden.“ Die Grünen
seien dafür, den
Kommunen die
Möglichkeit zu ge-
ben, eine Nahver-
kehrsabgabe einzu-
führen.“ dpa

Jochen Zeitz,56, langjähriger Vorstands-
chef des Sportartikelherstellers Puma,
übernimmt vorübergehend die Führung
des US-Motorradherstellers Harley-Da-
vidson. Grund: Der Chef des kriselnden
Unternehmens, Matt Levatich, geht.
Zeitz(FOTO: AFP)sitzt bereits seit 2007 im
Aufsichtsrat von Harley-Davidson. Er
soll den Spitzenjob übernehmen, bis
eine dauerhafte Lösung gefunden ist.
„Der Verwaltungsrat und das Führungs-
team von Harley-Davidson werden bei
der Suche nach einem neuen Vorstands-
chef eng zusammenarbeiten“, kündigte
Zeitz an. Der deutsche Top-Manager
hatte 1993 im Alter von 30 Jahren als
damals jüngster Vorstandsvorsitzender
einer deutschen Aktiengesellschaft den
Chefposten bei Puma übernommen und
den Adidas-Rivalen in seiner 18-jährigen
Amtszeit von einem
maroden Unterneh-
men zu einem Kon-
zern mit Milliarden-
umsatz aufgebaut.
Zuletzt baute er in
Kapstadt ein Muse-
um für afrikanische
Gegenwartskunst
auf. dpa, sz

Dilek Kalayci, 53, Gesundheitssenato-
rin in Berlin, richtet einen Appell an
Messeveranstalter. Diese müssten an-
gesichts der Ausbreitung des Corona-
Virus Risiken sorgsam abwägen, erklär-
te die SPD-Politikerin(FOTO: DPA)nach der
Absage der Reisemesse ITB am Freitag-
abend. Jeder Veranstalter müsse an-
hand der Kriterien des Krisenstabs der
Bundesregierung eine Risikobewertung
durchführen. „Wichtig ist, dass der
Bevölkerungsschutz immer an erster
Stelle steht.“ Die ITB war vom Veran-
stalter storniert worden, nachdem die
zuständigen Behörden die Auflagen im
Hinblick auf den Gesundheitsschutz
deutlich verschärft hatten. Welche
Folgen das für die Branche und für
den Veranstalter hat, ist noch unklar.
Man versuche, sich einen Überblick
zu verschaffen, sagte ein Messespre-
cher am Sonntag.
Ein Teil der Kunden
wolle trotzdem nach
Berlin kommen,
um Geschäftskon-
takte zu knüpfen
oder Verträge ab-
zuschließen. Das
gehe auch im
Hotel. dpa

„Wir sehen auch, dass
Elektromobilitätam Ende
weniger Arbeitsplätze braucht.“

B


undespressekonferenz. Armin La-
schet gibt seine Kandidatur für den
CDU-Vorsitz bekannt. Einige, nein,
wenige Minuten geht es auch um Wirt-
schaftspolitik. Die Frage, die Laschet zu be-
antworten hat, ist heikel: Braucht Deutsch-
land „nationale Champions“, und muss da-
für das Wettbewerbsrecht gelockert wer-
den? Bundeswirtschaftsminister Peter Alt-
maier sorgte mit seiner „Nationalen Indus-
triestrategie“ 2019 für einen Aufschrei,
weil er Siemens, den Autoherstellern, Thys-
senkrupp und der Deutschen Bank Be-
standsschutz gewähren wollte. Die geziel-
te Förderung von Champions durch eine
Lockerung des Kartellrechts würde bedeu-
ten, sich vom wirtschaftspolitischen Säu-
lenheiligen der CDU, ja, der Bundesrepu-
blik zu verabschieden – Ludwig Erhard hat-
te mit der Einführung des Kartellrechts
1958 der deutschen Wirtschaft Wettbe-
werb verordnet, übrigens gegen den erbit-
terten Widerstand des Bundesverbands
der Deutschen Industrie. Wo steht La-
schet? Der NRW-Ministerpräsident meint,
„dass wir ein paar globale Player brau-
chen“, und das scheitere auch am engstirni-
gen europäischen Wettbewerbsrecht: „In
Europa wird in jedem einzelnen Mitglieds-
land ein eigenes Wettbewerbsverfahren ge-
macht“, klagt Laschet.
Er irrt. Für die großen Fälle gibt es ja ge-
rade die Europäische Kommission mit
einem einheitlichen Prüfverfahren. Doch
Laschet meinte im Stress seines Vorstel-


lungsgesprächs vermutlich etwas anderes,
und das in schönster Kontinuität zur Regie-
rung Angela Merkel: Die Bundeskanzlerin
und ihr Wirtschaftsminister rügen seit eini-
ger Zeit, dass die Europäische Kommission
Fusionen zu Unrecht blockiert, weil die
Wettbewerbskräfte nicht global betrachtet
würden. Die Untersagung des Zusammen-
schlusses der Zugsparten von Siemens/Al-
stom gilt als Beweis.
Gerade im Fall dieser gescheiterten
deutsch-französischen Fusion wurde die
China-Karte gespielt: Wettbewerbskom-
missarin Margrethe Vestager habe die
Chance verstreichen lassen, einem europäi-
schen Champion grünes Licht zu geben,
der gegen den chinesischen Zug-Konzern
CRRC andonnern kann. Wer prüfen will,
ob der Vorwurf zutrifft, hat mit der Ent-
scheidung in der Sache M.8677 rund 400
Seiten Lesestoff mit vielen Schwärzungen
vor sich. Die Wettbewerbshüter aus Brüs-
sel dokumentieren ihre Recherche: Ist
CRRC ein echter Konkurrent für Siemens
und Alstom? Falls ja, hätte die Fusion eher
freigegeben werden können. Für diese

Marktabgrenzung arbeiten sich die Beam-
ten tief in die Branche ein, prüfen die Anga-
ben der Unternehmen, werten interne
Memos aus. Sie kennen die Produkte bes-
ser als mancher Unternehmensvorstand,
analysieren Kundenbeziehungen, befra-
gen Abnehmer, Konkurrenten, Lieferan-
ten, Experten. Selbstverständlich werden
dabei die globalen Marktkräfte betrachtet.

Das Ergebnis der Detektivarbeit ist eine
Tatsachenfeststellung: CRRC ist derzeit
kein ernst zu nehmender Wettbewerber
von Siemens und Alstom bei Hochge-
schwindigkeitszügen, und es gibt keine
Anhaltspunkte, dass sich dies in den nächs-
ten drei bis fünf Jahren ändert. Wer die
Marktabgrenzung anpassen will, um In-
dustriepolitik durch die Hintertür zu be-
treiben, verkennt die Rolle dieses entschei-
denden Schritts in Kartellverfahren: Hier

werden Fakten ermittelt. Wollen Armin La-
schet & Co. also die Fakten verdrehen?
Nein, die Kritik an der Marktabgren-
zung ist nicht ganz von der Hand zu wei-
sen. Die Wirtschaft ist so komplex, dass die
Faktensammlung sehr unterschiedlich
ausfallen kann. Die Kartellbehörden nei-
gen zur kleinteiligen Sicht der Dinge. So
werden beispielsweise die Wettbewerbs-
verhältnisse bei Autos in neun verschiede-
nen Produktmärkten mit unterschiedli-
chen Sub-Segmenten erfasst. Wer so fokus-
siert, übersieht zuweilen neue Entwicklun-
gen, die die Wettbewerbsverhältnisse er-
schüttern.
Manchmal halten die Behörden an ihrer
Sicht zu lange fest, gerade wenn Gerichte
diese bestätigt haben. Auch die rasante Ver-
netzung von Produkten durch die Digitali-
sierung wird kaum abgebildet. Autoher-
steller zittern vor Google, aber auf keinem
der neun Auto-Märkte wird Google als rele-
vante Kraft sichtbar. Die Macht finanzstar-
ker Konzerne, die ganze Branchen im
Handumdrehen aufrollen können, bleibt
unterbelichtet.

Margrethe Vestager hat angekündigt,
neue Leitlinien für die Marktabgrenzung
zu erlassen; die aktuelle Fassung stammt
von 1997. Die Instrumente für die Markt-
analyse sollen überarbeitet werden. Das ist
Jura für Feinschmecker: Wie lässt sich eine
empirische Methodik normativ absichern


  • auf Deutsch: Mit welchen Regeln kann
    die Ermittlung von Tatsachen verbessert
    werden, ohne dass das Ergebnis schon
    durch die Regeln geprägt wird?
    Vestager bewegt sich mit der Reform
    auf einem schmalen Grat. Die feinziselier-
    te Unterscheidung sichert den Behörden ih-
    re Interventionsmacht: Je weniger Unter-
    nehmen als Wettbewerber anerkannt wer-
    den, desto größer sind die Marktanteile
    der verbliebenen Akteure. An den Marktan-
    teilen hängen die Eingriffsmöglichkeiten
    der Behörden. Wenn aufgrund einer verän-
    derten Marktabgrenzung die Möglichkei-
    ten von Bundeskartellamt und Kommissi-
    on beschnitten würden, wäre das fatal. Die
    Konzentration der Wirtschaft würde wie in
    den USA besorgniserregend steigen.
    In Sachen China kann sich Europa auf
    andere Weise wappnen. Hier liegt das Pro-
    blem darin, dass geschützte und gespon-
    serte Staatsunternehmen quasi gedopt im
    globalen Wettbewerb antreten. Gegen die-
    se Wettbewerbsverzerrung hilft Reziprozi-
    tät: Wer andere nicht auf faire Weise in
    sein Land lässt, soll mit seinen Staatskon-
    zernen auch nicht an Ausschreibungen in
    der EU teilnehmen dürfen. Die Fusionskon-


trolle für Staatsunternehmen kann ver-
schärft werden. Der Abbau von Handels-
und Wettbewerbsschranken, am besten
im Rahmen der WTO, muss wiederbelebt
werden.
Die schlechten Angewohnheiten protek-
tionistischer Staaten sollten hingegen
nicht kopiert werden. Bislang gilt die Ver-
mutung, dass Ludwig Erhard, der es übri-
gens nur 14 Monate an der Spitze der CDU
aushielt, recht hatte: Ein strenges kartell-
rechtliches Regime daheim fördert die glo-
bale Wettbewerbsfähigkeit eher als dass es
sie behindert. Wer europäische Champi-
ons will, sollte wenigstens ehrlich sein und
erklären, dass Kunden in der EU dann da-
für zahlen: Sie haben weniger Auswahl, we-
niger Wettbewerb und höhere Preise, da-
mit das so gestärkte Unternehmen interna-
tional gegen einen chinesischen oder ame-
rikanischen Konkurrenten bestehen kann.
Das ist Industriepolitik als Umverteilung
von unten nach oben.

Angeschoben


Abgesagt


Rupprecht Podszunlehrt
BürgerlichesRecht und
Wettbewerbsrecht an
der Heinrich-Heine-
Universität Düsseldorf
und ist Research Fellow
am Münchner Max-
Planck-Institut für Inno-
vation und Wettbewerb.
FOTO: OH

„Für mich war die Quote nie ein Thema“


Die Karriere von Ilka Horstmeier war nicht naheliegend: Sie ist keine Technikerin, wurde bei BMW aber Motorenchefin und Werkleiterin.
Nun ist sie im Vorstand des Autokonzerns angekommen. Ein Gespräch über Mut und die Notwendigkeit, das Gute zu reflektieren

(^16) WIRTSCHAFT Montag, 2. März 2020, Nr. 51 DEFGH
FOTO: CATHERINA HESS
FORUM
Keine Industriepolitik
Ein striktesKartellrecht macht Firmen wettbewerbsfähig. Dennoch könnten
die Methoden überdacht werden.Von Rupprecht Podszun
Stutzt man die Kartellbehörden,
steigt die Konzentration
der Wirtschaft wie in den USA
Aufgestiegen
PERSONALIEN
MONTAGSINTERVIEWMIT ILKA HORSTMEIER

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