Süddeutsche Zeitung - 02.03.2020

(Nora) #1
von moritz baumstieger und
christiane schlötzer

E


rst war es nur ein Gerücht. Es reiste
per Whatsapp und Twitter, bis in die
hintersten Winkel der Türkei. Da bra-
chen schon die ersten auf, in der Nacht
zum Freitag, Richtung griechisch-türki-
sche Grenze. Für 24 Stunden, so sagte das
Gerücht, werde sich dieses Tor nach Euro-
pa öffnen, dann hieß es: 72 Stunden. Da hat-
ten es viele schon eilig, zur Vatan Caddesi
in Istanbul zu kommen, einer der großen
Magistralen Richtung Westen, wo Busse
warten sollten. Die standen dann am Sams-
tagmorgen auch dort, angeblich gechar-
tert von syrischen Aktivisten, so hörten es
Flüchtlinge, die einstiegen. „Çelik Turizm“
stand auf einem der Busse. Sie waren
schnell voll. Die, die keinen Platz fanden,
gingen zum Istanbuler Busbahnhof. Auch
dort fuhren Busse ab, im Stundentakt, zur
Grenzstadt Edirne.
Da warteten schon Taxifahrer, verlang-
ten Wucherpreise für die paar Kilometer
bis zur Grenze. Ein Chauffeur trötete: „No-
ahs Schiff fährt ab, das letzte Rettungs-
schiff fährt ab.“ So berichtete es die türki-
sche Internetseite T24. Der Staatssender
TRT zeigte auf seinem arabischen Kanal
Karten mit Fluchtwegen nach Europa, mit
Pfeilen in Gelb und Blau. Blau stand für die
Fahrt übers Meer.
Am Samstag bestätigte dann der Präsi-
dent persönlich: „Wir haben die Tore geöff-
net.“ Und Recep Tayyip Erdoğan sagte da-
zu: „Wir werden die Tore auch in Zukunft
nicht schließen. Wir müssen nicht so viele
Flüchtlinge durchfüttern.“ Damit hat Erdo-
ğan den 2016 mit der EU vereinbarten
Flüchtlingspakt aufgekündigt. Der sah
vor, dass die Türkei Migranten von der


Flucht in die EU abhält, im Gegenzug für
Milliardenhilfen. Warum Erdoğan das nun
beendet, begründete er so: Europa stehe
der Türkei in Syrien nicht bei, und auch
nicht wirklich bei der Versorgung der fast
vier Millionen Syrer in seinem Land.
Der Präsident trug bei seinem Auftritt
in Istanbul einen dunklen Dreiteiler, aber
er sprach wie ein General, über Ultimaten,
Offensiven, Haubitzen, Panzerfahrzeuge.
Die mehr als 30 türkischen Soldaten, die
bei einem Luftangriff am Donnerstag in Id-
lib starben, nannte er Märtyrer.

Als Erdoğan redete, waren schon Tau-
sende Flüchtende bei Edirne angekom-
men, die meisten mit leichtem Gepäck. Es
kamen junge Männer aus Afghanistan und
Pakistan, die in der Türkei anders als syri-
sche Flüchtlinge kaum Hilfe bekommen.
Aber es kamen auch syrische Frauen mit
kleinen Kindern. Sie fanden das türkische
Grenztor offen vor, doch dann stauten sich
die Menschen im Niemandsland, vor dem
abgeschotteten Tor mit dem Schriftzug in
Weiß und Blau: „Ellada (Griechenland).
Herzlich willkommen.“ Statt einer Begrü-
ßung gab es Tränengas und Pfefferspray.
Viele versuchten es dann entlang des
Grenzflusses, der im Winter wenig Wasser
führt. Aber auf der anderen Seite standen
schon die griechischen Grenzschützer und
schickten die Flüchtenden zurück. Die
Beamten hätten ihm zuvor das Handy abge-
nommen, sagte ein Somali in Edirne. Ande-
re berichteten von Schüssen in die Luft.
T24 sprach mit zwei Afghanen, die in ei-
nem Plastikboot auf die andere Seite fuh-
ren, sie sagten, sie seien von den Griechen
verprügelt und gezwungen worden, mit
demselben Boot wieder zurückzufahren.
Einer hatte Schlagspuren auf der Schulter.
Schon bevor die Nacht anbrach und vie-
le nicht wussten, wohin, auf freiem Feld
am Fluss, verbreiteten sich Wut und Ent-
täuschung unter den Geflüchteten. Ein jun-
ger Syrer sagte der türkischen ZeitungEv-
rensel: „Weder die Türkei noch Griechen-
land noch Europa sehen uns als Menschen.
Wir sind für sie wie Hunde.“
Mit dem Stimmungsumschwung wurde
es auch für Reporter an der Grenze gefähr-
lich, Fernsehteams wurden von türkischen
Sicherheitskräften vertrieben. Mindes-
tens 13 000 Menschen harrten in der kal-
ten Nacht an der Grenze aus, teilte die UN-

Organisation für Migration am Sonntag
mit. 9600 sollen versucht haben, illegal
über die Grenze zu kommen, aber alle Über-
tritte seien vereitelt worden, sagte der grie-
chische Vizeverteidigungsminister Alkivia-
dis Stefanis dem Sender Skai. Zuvor hatte
die griechische Seite allerdings gemeldet,
man habe 66 Menschen aufgegriffen. Pre-
mierminister Kyriakos Mitsotakis teilte
am Sonntagabend via Twitter mit, dass für
Polizei und Militär die höchste Alarmstufe
gelte und dass Griechenland einen Monat
lang keine Asylanträge annehme.
Auf der Insel Lesbos kamen am Sonntag-
vormittag etwa 400 Menschen an, sagte
die griechische Küstenwache. In Chios wa-
ren es 58, auf Samos 30. Bewohner von Les-

bos hinderten Berichten zufolge Migran-
ten daran, an Land zu kommen. Ein Mann,
der sich via Twitter als erfahrener Schlep-
per vorstellte, schrieb: „Die Flüchtlinge ha-
ben es falsch verstanden, sie sind zu den
Grenztoren gefahren. Sie hätten an die Küs-
te kommen sollen.“ Der Mann nannte auch
seine Preise: Mehrere Tausend Dollar. Die
dreistündige Fahrt von Istanbul nach Edir-
ne im Bus kostet regulär nicht mehr als
zehn Euro. Am Sonntagmorgen behaupte-
te der türkische Innenminister Süleyman
Soylu, es hätten bereits 76 358 Flüchtlinge
sein Land verlassen. Dafür gab es von kei-
ner anderen Seite eine Bestätigung.
Das Gerücht, die Wege in die EU würden
bald passierbar, kursiert auch in der nord-

syrischen Provinz Idlib, wo seit Dezember
950000 Menschen vor den Kämpfen geflo-
hen sind. „Die Türkei hat versprochen,
dass sie aufmacht“, berichtet ein Mann aus
der Stadt Ariha der SZ am Telefon, „und
zwar für alle.“ Diese Information habe er
von einem türkischen Offizier erhalten.
Längst hat das türkische Militär im
Kampf gegen Syriens Machthaber Assad ei-
ne aktivere Rolle übernommen: Am Wo-
chenende griff es mit Raketen und Droh-
nen Ziele in Syrien an. Nach eigenen Anga-
ben hat die Armee dadurch 2200 syrische
Soldaten, 103 Panzer und acht Hubschrau-
ber „neutralisiert“. Am Sonntag meldete
die Türkei zudem den Abschuss von zwei
syrischen Kampfjets.

Damit will Ankara zum einen Vergel-
tung für den Tod der 36 türkischen Solda-
ten üben, die bei einem Luftangriff in der
Provinz Idlib getötet wurden. Zum ande-
ren ist in der Nacht zum Sonntag das Ulti-
matum abgelaufen, das Erdoğan an Assad
gerichtet hatte: Bis Ende Februar sollten
sich dessen Truppen hinter die Frontlinien
einer 2018 vereinbarten Waffenruhe zu-
rückziehen. Das ist nicht geschehen, nun
will die Türkei nach Angaben von Verteidi-
gungsminister Hulusi Akar syrische Trup-
pen ins Visier nehmen, Kämpfe mit Assads
Verbündetem Russland hingegen eher mei-
den. Einen offiziellen Namen hat die türki-
sche Offensive auch schon: „Operation
Frühlingsschild.“

Samos –Auf dem Weg zu seinem Oliven-
hainhat Giannis Meletiou in letzter Zeit im-
mer eine Tüte voller Croissants im Auto, er
weiß, dass die unterwegs gebraucht wer-
den. Er steuert sein Auto, einen kleinen Ge-
ländewagen, vorbei am Stacheldrahtzaun
des Flüchtlingslagers, das die Regierung
„Empfangszentrum“ nennt, gleich ober-
halb des Zentrums der Inselhauptstadt Sa-
mos. Er nimmt den Fuß vom Gas, am Rand
der Straße drängen sich Menschen, Zelte,
Müllsäcke, Plastikklos.
Aus seinem Autoradio bebt Heavy Me-
tal, „aah, Five Finger Death Punch“, sagt er
lächelnd, als der nächste Song einsetzt,
und dreht ein bisschen lauter. Giannis Me-
letiou ist 60 Jahre alt, Jurist, leitender Be-
amter in der Finanzverwaltung. Das Grund-
stück mit den Olivenbäumen hat er von sei-
nen Eltern geerbt, sie haben sich dort
verschanzt, als die Deutschen im Novem-
ber 1943 drei Tage lang die Insel bombar-
dierten. „Es hat sich natürlich alles ein biss-
chen verändert dort“, sagt er. „Vor allem in
den letzten Monaten.“


Er biegt auf einen Schotterweg ein, der
steil den Hang hinaufführt, der Wagen
hebt und senkt sich durch die Schlaglö-
cher. Links und rechts drängen sich Zelte,
Kochgeschirr, Lehmöfen. Einige Männer
und Frauen winken ihm zu, er winkt zu-
rück, „syrische Kurden aus Kobane“, sagt
er, „sehr gute Leute“. Eine Gruppe Kinder
kommt zum Auto gelaufen, sie winken und
führen die zusammengelegten Finger zum
Mund. Er lässt das Fenster herunter und
reicht jedem ein Croissant.
Keine hundert Meter weiter stellt er den
Wagen ab, schließt das Tor zu seinem
Grundstück auf, „ich benutze Schlüssel“,
sagt er und lacht, „im Gegensatz zu den
Flüchtlingen. Die klettern drüber.“ Seine
Katzen warten schon, er füllt ihnen den
Fressnapf auf einer kleinen betonierten An-
höhe, „hier stand mein Wassertank“, sagt
er, „den haben sie einfach mitgenommen.“
Er kommt jeden Morgen, um nachzuse-
hen, was sie diesmal abmontiert haben.
„Da, die Wasserleitung“, sagt er; ein Stück
schwarzer Schlauch hängt noch an der


Mauer, einen guten Meter lang, an beiden
Enden gekappt. „Immerhin, sie haben mir
was übriggelassen“, sagt er und lacht er-
neut. Ein stählerner Zaunpfahl: umgebo-
gen, bis zum Boden. Das Ziegeldach eines
gemauerten Geräteschuppens: abgetra-
gen. Das Holzhäuschen: weg bis auf die
Grundmauern. Einigen der Olivenbäume
fehlen dicke Äste, sauber abgesägt.
Die Menschen auf Samos, der Heimat
des Mathematikers Pythagoras und des
Philosophen Epikur, sind berühmt für ihre
Gastfreundschaft. Überall hört man Ge-
schichten von Menschen, die Geflüchteten
Decken und Essen gebracht haben, die sich
ihre Jacken auszogen, um sie frierenden
Kindern um die Schultern zu legen. Doch
in jüngster Zeit droht die Stimmung zu kip-
pen. Das staatliche Flüchtlingslager ist offi-
ziell für 648 Menschen ausgelegt, zurzeit
befinden sich etwa 7400 Geflüchtete auf
der Insel. „Es ist völlig verständlich, dass
die Einheimischen frustriert sind“, sagt De-
spina Anagnostou, Koordinatorin des UN-
Flüchtlingshilfswerks auf Samos. „Immer-
hin haben wir hier noch nicht das gesehen,
was auf Lesbos und Chios passiert ist. Dass
Migranten mit Steinen beworfen oder be-
schossen werden.“ Aber was, wenn sich
nun Tausende Menschen zusätzlich auf
den Weg hierher machen? Der türkische
Präsident Recep Tayyip Erdoğan hat am
Freitag verkündet, er halte Flüchtlinge auf
dem Weg Richtung EU nicht mehr auf. Vier
Boote mit 150 Menschen an Bord erreich-
ten Samos bis Sonntagabend. Für die Re-
gierung in Athen ist Erdoğans Schachzug
höchst bedrohlich; schon seit Tagen steht
die innenpolitische Krise um die Flücht-
lingslager vor dem Überkochen.
Eine Anhöhe, ein paar Autominuten in-
seleinwärts von der Hauptstadt. Einige Ein-
heimische aus den benachbarten Dörfern,
haben sich um zwei Lagerfeuer versam-
melt, der peitschende Wind lässt die Holz-
scheite knacken. Sie haben den Feldweg
mit einem Abwasser-Tanklaster der Ge-
meinde blockiert, und zur Sicherheit ha-
ben sie im Abstand von je ein paar Dutzend
Metern noch zwei Feuerwehrautos quer
auf den Schotterweg gestellt. „Wartet nur
ab“, sagt einer der Männer, der in rotem
Holzfällerhemd auf einer Decke vor dem
Lagerfeuer fläzt und den Polizisten mit ih-
ren weißen Helmen nachschaut, die an der
Straße auf und ab patrouillieren, „hier spie-

len sich vielleicht demnächst so ähnliche
Szenen ab wie auf Lesbos und Chios.“ Auf
den Nachbarinseln hatten Sondereinhei-
ten der Polizei Tränengas auf Demonstran-
ten geschossen, die ebenso wie die Men-
schen hier dagegen protestierten, dass die
Regierung zwangsweise Land enteignet,
um neue Flüchtlingslager zu bauen. „War-
um soll unsere kleine Insel die ganzen
Flüchtlinge aufnehmen?“, ruft der Mann
im Holzfällerhemd, „kann Frau Merkel
nicht welche nach Deutschland holen?“
Premier Kyriakos Mitsotakis hat sich
mit seiner rigiden Flüchtlingspolitik im-
mer fester in die Klemme manövriert. Er
setzt alles daran zu vermeiden, dass Flücht-
linge aufs Festland kommen, wo ihre Anwe-
senheit den Unmut der Einheimischen er-
regen könnte. Er will auf den Inseln ge-
schlossene Lager bauen, wo künftig die
Asylanträge der Ankommenden beschleu-

nigt bearbeitet werden sollen. Georgios
Dionysiou, Vizebürgermeister von Ost-Sa-
mos, steht am Rand einer Demonstration
in der Inselhauptstadt; auf einem quer ge-
spannten Banner steht: „Kein Guantana-
mo auf Samos!“ Dionysiou sagt: „Ja, wir ha-
ben dem Plan ursprünglich zugestimmt,
da hieß es, das neue Lager solle für 1500
Menschen ausgelegt sein. Dann haben wir
den Premier im Fernsehen sagen hören, es
werde 5000 oder mehr Leute aufnehmen.
Wir fühlen uns hintergangen.“ Man wolle
sich nicht der geografischen Realität ver-
wehren, „wir sind hier an der Grenze zur
Türkei, natürlich nehmen wir einen Groß-
teil der Menschen auf. Aber muss der Rest
Europas uns damit alleinlassen?“
Giannis Meletiou, oben auf seinem Oli-
venhain, hört plötzlich ein Rascheln und
Knacken vom Rand des Grundstücks: Ein
paar Kinder klettern auf einem Baum her-

um, „what do you want here?“, ruft er auf
Englisch. „This“, sagt einer der Jungen und
hält die Schote eines Johannisbrotbaums
hoch. Die Kinder aus Syrien lachen und
klettern weiter, Giannis Meletiou breitet
kopfschüttelnd die Arme aus, „das gibt es
doch nicht“, sagt er. Und lacht.
Bevor er zur Arbeit fährt, will er noch
nach seinem Freund Didier sehen. „Di-
dier“, ruft er über den Zaun zum Nachbar-
grundstück, „wo bist du denn, schläfst
du?“ Ein junger Mann mit wirr abstehen-
den Locken schlurft aus dem Haus. Didier
Tchakounte, 26, stammt aus Kamerun, ist
von dort geflohen, erzählt er, weil ihn eine
Rebellengruppe zwingen wollte, sich ihr an-
zuschließen. Sein Vater verkaufte ein
Stück Land, von dem Geld kaufte er sich
ein Flugticket nach Istanbul, das türkische
Visum für einen Monat bekam er ohne Pro-
bleme. Als das abgelaufen war, nahm ihn
die Polizei in Istanbul fest. Nach ein paar
Wochen Haft ließen sie ihn gehen. „Sie sag-
ten: Wenn du dorthin willst, wo die ande-
ren Flüchtlinge sind, musst du in diese
Richtung. Dann zeigten sie zum Meer.“
Nach sechs Stunden Fahrt auf einem über-
füllten Schlauchboot rettete ihn die griechi-
sche Küstenwache. „Jetzt weiß ich nicht,
wie es weitergeht“, sagt er. Vor ihm auf
dem Plastiktisch liegt eine aufgeschlagene
Bibel. Seine Eltern und seine beiden klei-
nen Schwestern, sagt er, versteckten sich
derzeit irgendwo im Busch, vor den Kämp-
fen zwischen Rebellen und Armee.

Giannis Meletiou hat ihn vor einigen Wo-
chen draußen auf dem Schotterweg getrof-
fen, zusammen mit einer Gruppe anderer
Afrikaner, „sie waren dabei zu beten“, er-
zählt er, „ich habe ihnen gesagt: Ihr könnt
hier auf dem Grundstück beten, das ist bes-
ser.“ Das Sommerhäuschen gehört seiner
Freundin Maria, sie lebt als pensionierte
Ärztin in Deutschland, „sie hat am Telefon
gesagt: Natürlich, lass die Leute rein.“ Ma-
ria schickte Geld aus Deutschland, damit
Giannis Meletiou eine neue Schiebetür ein-
bauen konnte, ein neues Spülbecken, ein
neues Klo. All das hatten andere Flüchtlin-
ge zuvor aus dem Haus geplündert. Jetzt

wohnt Didier zusammen mit zwei Freun-
den aus Kamerun in dem Sommerhaus.
„Es steht für mich außer Frage, dass wir
diesen Leuten helfen“, sagt Meletiou. „Ich
könnte sonst nachts nicht schlafen.“
Es sind Menschen wie Giannis Meletiou,
die mit ihrer Großmut einiges von dem aus-
gleichen, was die Behörden den Geflüchte-
ten verwehren. Aber wie lange noch? In ei-
nem der Zelte am Wegrand wohnt Khaled
Abdi, 23 Jahre alt. Er ist mit seiner Familie
aus dem kurdisch dominierten Norden Sy-
riens geflüchtet, wo seit Jahren Kämpfe to-
ben: zwischen islamistischen Terroristen,
syrischen Regierungstruppen, der türki-
schen Armee. Nachts, wenn der kalte Wind
über Samos weht, machen sie in ihrem Zelt
ein kleines Feuer, „wir wissen nicht, wie
wir uns sonst warmhalten sollen. Die Kin-
der husten, ihnen wird schwindlig von
dem Rauch.“ Einer der Jungen schrecke
aus dem Schlaf hoch, wenn draußen ein
Schakal heult, „er zittert, stottert, nässt
sich ein.“ Der Junge braucht offensichtlich
psychologischen Beistand. „Aber im Kran-
kenhaus unten in der Stadt haben sie uns
weggeschickt.“
Augustin Kitembo, medizinischer Lei-
ter des Teams von „Ärzte ohne Grenzen“
auf Samos, bestätigt, dass viele der Ge-
flüchteten schwer traumatisiert sind.
„Und die Bedingungen, unter denen sie
hier untergebracht sind, wirken zusätzlich
traumatisierend.“ Kitembo stammt aus
der Demokratischen Republik Kongo, er
hat als Arzt schon in Flüchtlingslagern am
Rand afrikanischer Krisengebiete gearbei-
tet. „Aber das hier hat eine andere Quali-
tät“, sagt er mit einem Kopfschütteln.
„Was macht die Regierung jetzt, baut sie
wirklich diese geschlossenen Lager?“,
fragt der Kameruner Didier Tchakounte
seinen griechischen Freund und Unterstüt-
zer. Der hebt die Schultern. „Wenn ja, ist
das schlecht für euch Afrikaner“, sagt Gian-
nis Meletiou. „Dann seid ihr die Ersten, de-
nen sie sagen: back to Turkey!“
Er habe nie geplant, in die EU zu kom-
men, sagt Didier Tchakounte. „Ich dachte,
ich könnte in der Türkei bleiben, bis der
Krieg in Kamerun vorbei ist, und dann zu-
rückgehen.“ Sein Traum, sagt er, sei es, ei-
nes Tages eine Waisenschule in Kamerun
zu eröffnen. Aber als Erstes würde er gern
seine beiden kleinen Schwestern in Sicher-
heit bringen. tobias zick

„Wir haben


die Tore geöffnet“


Der türkische Präsident ermuntert Flüchtlinge zur Ausreise.
Gleichzeitig kämpft er gegen Syriens Regierungstruppen

Croissants und Tränengas


Viele Bewohner der griechischen Insel Samos begegnen den Tausenden Geflüchteten mit unerschöpflicher Großmut. Doch die Stimmung beginnt zu kippen


Ein Mann versucht durch den Grenzübergang Pazarkule bei Edirne nach Griechenland zu gelangen. Doch Stacheldraht und Feuer sind im Weg. Griechenland will die
Grenze zur Türkei weiterhin verstärkt überwachen. FOTO: EMRAH GUREL / DPA

2 HMG (^) THEMA DES TAGES Montag,2. März 2020, Nr. 51 DEFGH
Das Flüchtlingslager ist für
648 Menschen ausgelegt, zurzeit
gibt es etwa 7400 Geflüchtete
Willkommen auf Samos: Der Finanzbeamte und Heavy-Metal-Fan Giannis Meleti-
ou lässt den Kameruner Didier Tchakounte auf seinem Grundstück leben. FOTO: TOZ
„Ich habe ihnen gesagt:
Ihr könnt hier auf dem
Grundstück beten, das ist besser.“
Athen
Istanbul
Ägäisches
Meer
Ägäisches
Meer
Schwarzes
Meer
Schwarzes
Meer
TÜRKEI
GRIECHEN-
LAND
BULGARIEN
100 km
SZ-Karte: Mainka/Maps4News
Pazarkule
Samos
Herzlich willkommen in
Griechenland. Statteiner
Begrüßung gab es Pfefferspray
Kriegsflüchtlinge als DruckmittelDie Türkei öffnet die Grenzen für Migranten, an den Schlagbäumen nach Griechenland kommt
es zu dramatischen Tumulten. An den Inseln der Ägäis landen Schlauchboote mit Flüchtenden. So wie auf Samos sind viele Einheimische
weiterhin hilfsbereit, doch Proteste häufen sich. Die Regierung in Athen steht vor einer handfesten Krise

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