Süddeutsche Zeitung - 02.03.2020

(Nora) #1
von kathrin hollmer

E


ine Tochter namens Youandi („von
‚you and I‘“), eine Mutter mit Klorol-
lenphobie und eine Lehrerin, die die
Helikoptereltern ihrer Schüler aus dem
Klassenzimmer hinaus singt. Wer die erste
Folge der Sat.1-SitcomDie Läusemutter(al-
le Folgen auf Joyn) mit dem holländischen
Original vergleicht, dem kommen nicht
nur Szenen und Pointen bekannt vor, so-
gar die Namen der meisten Figuren sind
gleich. Die schwedische SerieBonusfamil-
jengibt es auf Netflix auch auf Deutsch, die
ARD legte im vergangenen Jahr trotzdem
eine eigene Version nach (bis Mai in der Me-
diathek):Bonusfamiliehat sechs statt zehn
Folgen, eine etwas komprimierte Hand-
lung und mit verklemmte Floskeln („Ma-
tratzensport“) statt Klartext („Lust heute
noch ausgiebig zu vögeln?“). Auch in der
Vox-SerieRampensau(bei TVnow), der Ad-
aption einer israelischen Serie, wurde die
Handlung verdichtet. Der ARD-FilmUn-
schuldig(bis 5.3. in der Mediathek) über ei-
nen Justizirrtum ist ein Remake der briti-
schen SerieInnocent, bei der die Handlung
vor allem ans deutsche Rechtssystem ange-
passt wurde. Und so weiter.
Über Streaming-Anbieter kann man
heute Filme und Serien aus der ganzen
Welt sehen, mit Untertiteln oder synchroni-
siert. Warum werden immer noch so viele
Stoffe – oft nur mit marginalen, kulturel-
len Anpassungen – adaptiert?


De Luizenmoedererreichte 2018 in Hol-
land teilweise 40 Prozent Marktanteil. Er-
folg im Ursprungsland verspricht auch
hierzulande gute Quoten. Mit einer Adapti-
on spart man Entwicklungszeit und -kos-
ten.Die Läusemutterist so nah am Vorbild,
dass man sich fragt, warum man das Origi-
nal nicht einfach synchronisiert zeigt. „Es
fühlt sich bekannter an, wenn die Schule
und das Klassenzimmer aussehen wie eine
Schule und ein Klassenzimmer in Deutsch-
land“, sagt Jana Kaun, Executive Produce-
rin vonDie Läusemutter. Auch das Schul-
system und Gepflogenheiten, etwa dass in
den Niederlanden Schüler ihre Lehrkräfte


duzen, habe man angepasst, heißt es von
Sat.1.
Bereits der französische StummfilmDie
Ankunft eines Zuges auf dem Bahnhof in La
Ciotatvon 1896 wurde im Kölner Bahnhof
nachgedreht. „Ihre eigene Lebenswelt ist
dem Zuschauer vertrauter, ein Film oder ei-
ne Serie bekommt dadurch Relevanz für
ihn“, sagt die Medienwissenschaftlerin
Tanja Weber von der Universität Köln, die
über Serien-Adaptionen promoviert hat.
AuchBonusfamilieist sehr nah am Origi-
nal. „Wir wollten die Geschichten mit unse-
ren Schauspielern und unseren Kreativen
hier in unserem Land, vor unserer Haustür
erzählen und realisieren, eben mit unseren
Verhältnissen“, sagt dazu Bettina Ricklefs,
Leiterin des Programmbereichs Spiel-
Film-Serie beim BR.

Sat.1 dreht im Moment eine Adaption
der britischen SerieLiar. Das Original hat-
te vor zwei Jahren auf Vox schlechte Quo-
ten. Sender beobachten, dass Zuschauer
Produktionen aus Deutschland gegenüber
synchronisierten Originalen bevorzugen.
In vielen Ländern werden in der Prime-
Time eigene Programme ausgestrahlt,
sagt die Texterin und Dramaturgin Alena
Wessling, die als Serienscout für den NDR
arbeitete. Denn: „Wenn die Zuschauer den
Kontext – zum Beispiel Geschlechter- und
Familienbilder, Traditionen und Riten, re-
gionale und historische Bezüge – verste-
hen, hat ein Werk eine größere Bedeutung
für sie.“
Viele deutsche Fernsehklassiker sind
Adaptionen: Die KrimireiheStahlnetz,die
FamilienserieEin Herz und eine Seele,Das
TraumschiffundDie Schwarzwaldklinik.
Am Anfang ging es nicht nur um die Ge-
schichten. Der Lindenstraße-Erfinder
Hans W. Geißendörfer, erzählt Weber, ließ
sich Anfang der Achtziger am Set des briti-
schen VorbildsCoronation Streetweiterbil-
den und guckte sich die Abläufe ab. In den
Neunzigern starteten die RTL-SoapGute
Zeiten, schlechte Zeitenund die ARD-Sei-
fenoper Verbotene Liebe nach australi-
schen Vorbildern. „Mit den Stoffen kaufte
man auch Produktionswissen über das täg-

liche Produzieren und Ausstrahlen“, so We-
ber. Heute geht es nur noch um Geschich-
ten, und seit Mitte der 2000er, verweist
Wessling auf die Medienforschung, wird
immer mehr adaptiert. Bei Sat.1 gibt es ei-
ne Abteilung, die weltweit nach geeigneten
Produktionen such. Auch beim BR beob-
achtet man den internationalen Markt.
„Universelle Themen wie Familie, Liebe
und Schuld werden auf der ganzen Welt
verstanden“, sagt Wessling.
Gerade kleine Fernsehnationen haben
das für sich entdeckt. In Israel würden ins-
besondere Serien häufig für den Adaptions-
handel produziert, sagt Weber. Aus dem
Land kommen die Vorbilder von US-Serien
wieHomelandundIn Treatment. Je erfolg-
reicher ein Original ist, desto mehr kann
man als Produktionsfirma an den Adapti-
onsrechten verdienen – trotzdem, erfährt
man aus der Branche, ist der Handel mit Li-
zenzen für die Produktionsfirmen eher ein
Nebenverdienst. Zahlen gibt es dazu nicht.
Die Produktionsfirmen verkaufen die
Rechte an ihren Serien und Filmen an Li-
zenzgeber, die weltweit sowohl die Aus-

strahlungs- als auch Adaptionsrechte ver-
kaufen und daran mitverdienen.
Die Drehbuchautoren Arne Nolting und
Jan Martin Scharf haben für Vox die Serien
Der Club der roten BänderundRampensau
adaptiert. Für sie müsse eine Adaption ei-
nen Mehrwert haben, „die erzählerische
Wucht vergrößern oder die Glaubwürdig-
keit steigern“, sagt Nolting. BeiRampen-
sauhabe man sich auf die Hauptfigur kon-
zentriert, im Original habe es viele Neben-
handlungen gegeben. Adaptionen gehen
auch auf hiesige Fernsehgewohnheiten
ein. „Im katalanischen Original vonDer
Club der roten Bänderkamen Krankheiten
vor, die es nicht gibt, die Zustände im Kran-
kenhaus ragten ins Fantastische“, sagt
Scharf. „Unserer Erfahrung nach ist dem
deutschen Zuschauer Glaubwürdigkeit
viel wichtiger als Zuschauern in anderen
Ländern.“
Im Fernsehmarkt suchen heute immer
mehr Anbieter immer mehr Inhalte. „Re-
gisseure, Redakteure und Finanzierungs-
partner sehen sich das Original an und kön-
nen sich das Ganze gleich besser vorstel-

len“, sagt Scharf. Das ist auch so, wenn eine
Produktion nicht mehr viel mit ihrem Vor-
bild zu tun hat. Im Abspann der deutsch-ös-
terreichischen Sky-SerieDer Pass(bis Mai
in der ZDF-Mediathek) wird auf die schwe-
disch-dänische SerieDie Brückehingewie-
sen, obwohl diese nur die Kernidee, ein
Mord an der Grenze zwischen zwei Län-
dern und ein binationales Ermittler-Team,
übernommen hat. „Juristisch hätten wir
das nicht unbedingt gemusst“, sagt der Pro-
duzent Quirin Berg. „Aber wir wollten die
Marke nutzen und haben einen guten Dia-
log mit den Machern, also haben wir es mit
ihnen geklärt.“ Inhaltlich habe man von An-
fang an „eigene Wege gehen wollen“. Im
Moment wird die zweite Staffel gedreht.
Adaptieren ist aber auch gefährlich. In
den Kritiken zur Sat.1-SerieR.I.S. – Die
Sprache der Totenging es um den vergebli-
chen Versuch,CSIzu kopieren, der Serie
Morgen hör ich aufmit Bastian Pastewka
nahm man unübersehbare VorbildBreak-
ing Badübel. BeiStrombergwurde am An-
fang gleich gar nicht erwähnt, dass es eine
Adaption der britischen SerieThe Office

ist. „Klauen war und ist verpönt“, sagt We-
ber. „Gelungene Adaptionen werden aber
auch geschätzt.“
Das Internet macht es leichter, Vorbil-
der zu enttarnen. „Wenn es zwei oder meh-
rere Versionen gibt, fangen die Zuschauer
an zu vergleichen“, sagt Weber. „In Süd-
amerika, wo es drei Adaptionen der Serie
Desperate Housewivesgibt, für Argentini-
en, Brasilien und eine kolumbianisch-ecua-
dorianische Ko-Produktion, vergleichen
die Zuschauer gern.“ Beim direkten Ver-
gleich fällt auf, dass Adaptionen nach dem
Entfernen von länderspezifischen Ecken
und Kanten am Ende oft glattere, bravere
Versionen des Originals werden. BeiBonus-
familiefehlen der Biss und der Charme der
Vorlage, beiStrombergder typisch briti-
sche, teils vulgäre Humor ausThe Office.
Im Kino seien die Zuschauer immer offe-
ner für Inhalte aus fernen Ländern gewe-
sen, sagt Weber. Auch hier geht man biswei-
len auf Nummer sicher. Seit Oktober schon
läuftDas perfekte Geheimnis, eine von welt-
weit 18 Adaptionen einer italienischen Ko-
mödie.

Die Zukunft der Evangelischen Journalis-
tenschule(EJS) bleibt ungewiss. Der Rat
der Evangelische Kirche in Deutschland
(EKD) hatte sich am Samstag in Hannover
getroffen, jedoch vorerst ohne Ergebnis.
Die Beratungen seien ausführlich gewesen
und sollen in der nächsten Sitzung im
März fortgesetzt werden, teilte der Medien-
bischof Volker Jung mit. Klar sei aller-
dings, dass die Ressourcen begrenzt seien
und dass es auf jeden Fall Veränderungen
geben werde.
Vor zwei Wochen war bekanntgewor-
den, dass die 1995 gegründete Evangeli-
sche Journalistenschule geschlossen wer-
den könnte. Hintergrund sind Sparmaß-
nahmen beim Gemeinschaftswerk der
Evangelischen Publizistik (GEP). Mit ei-
nem offenen Brief setzten sich mehr als
1000 Vertreter aus Medien, Kirche und Ge-
sellschaft für den Erhalt der Schule ein.
Am Freitag protestierten Volontäre und Ab-
solventen an den zentralen EKD-Dienstge-
bäuden gegen eine mögliche Schließung
der EJS – mit dem Anschlag von 9,5 The-
sen, die die Notwendigkeit von Qualitäts-
journalismus unterstreichen sollen. epd

Der Chefredakteur vonBerliner Zeitung
undBerliner Kurier, Matthias Thieme, hat
Medienberichten zufolge gekündigt. Laut
Spiegelhat Thieme seine Kündigung am
Sonntag eingereicht – nach nur drei Wo-
chen auf dem Posten. Holger Friedrich, In-
haber des Berliner Verlags, reagierte zu-
nächst nicht auf eine Anfrage der SZ dazu.
Matthias Thieme war im Dezember
2019 als Chefredakteur für digitale Produk-
te zum Berliner Verlag gewechselt. Seit 10.
Februar, nach dem Weggang der früheren
Chefredakteure Jochen Arntz und Elmar
Jehn, führte Thieme alleinverantwortlich
die Redaktionen vonBerliner Zeitungund
Berliner Kurier.
Am Wochenende wurde zudem be-
kannt, dass dem Verlegerpaar Silke und
Holger Friedrich womöglich eine Strafan-
zeige in der Schweiz droht. Wie dieWelt am
Sonntagberichtete, hat das Unternehmer-
paar zwischen 2015 und 2019 vorge-
täuscht, eine Firma in Zürich zu besitzen.
Die Friedrichs hatten den Verlag im Sep-
tember 2019 übernommen. Im November
wurde bekannt, dass Holger Friedrich Inof-
fizieller Mitarbeiter der Stasi war. sz

Sich bei Nervosität vor Vorträgen die Men-
schen im Publikum einfach nackt vorzu-
stellen – diesen Ratschlag hat fast jeder
schon von Freunden bekommen. Dass die-
se Vorstellung aber zu einem ernsthaften
Problem werden könnte, damit rechnet nie-
mand. Besonders nicht Marnie (Charly Cli-
ve), die nach einer desaströsen Rede auf
der Hochzeitstags-Feier ihrer Eltern die
Flucht ergreift und den nächsten Bus nach
London nimmt. Denn Marnie stellt sich
das Publikum nicht einfach nur nackt vor,
nein, vor ihrem inneren Auge haben alle
Menschen um sie herum Sex. Vor lauter
Aufregung spielt sich in ihrem Kopf eine
Orgie zwischen den Partygästen ab, Frau-
en und Männer im Rentenalter fallen über-
einander her.
Das ist die Ausgangslage der britischen
SeriePure, in der die junge Schottin Mar-
nie versucht, ihrem sexuellen Zwangsden-
ken auf den Grund zu gehen. Es plagt sie.
Nicht mal Busfahren geht, ohne dass sie
sich die einzelnen Passagiere beim Sex vor-
stellen muss. Marnie will sich selbst finden


in der anonymen Großstadt, und eigent-
lich will sie ihre Ruhe. Dann aber gerät sie
ungewollt in zufällige Freundschaften und
auch noch in ein Liebesdreieck.
Die noch recht unbekannte Schauspiele-
rin Charly Clive ist dabei die perfekte Beset-
zung. Herrlich ungeschickt und sozial un-
angenehm verkörpert sie eine Figur, die
mit sich selbst überfordert ist und zu absur-
den Übersprungshandlungen neigt. Man

möchte Marnie bei der Hand nehmen,
wenn sie vor ihrer ersten sexuellen Erfah-
rung mit einer Frau eine Flasche blaues
Mundwasser trinkt – nur weil 26% Alkohol
auf der Verpackung steht. Um sich dann in
genau dem gleichen Türkisblau eine halbe
Stunde später auf die Straße zu übergeben.
Marnie ist derb. Sätze wie „Ich denke
daran, meine Mutter zu melken“ bringen

einen ungewöhnlichen, trockenen Witz in
die Serie. Trotzdem sickert immer wieder
die Ernsthaftigkeit durch. Denn die
Zwangsstörung bringt Marnie in schwieri-
ge Situationen. Besonders, weil sie meint,
sie könne sich selbst behandeln. Durch Aus-
raster verliert sie ihren Job.
Als Vorlage fürPuredient der gleichna-
mige autobiografische Roman von Rose
Cartwright, was ein Grund für die Authenti-
zität der Serie sein mag. Denn obwohl Mar-
nie ein absurder und ungewöhnlicher Cha-
rakter ist, glaubt man ihr alles. Vielleicht
liegt es aber auch daran, dass die Figur auf
wichtige Fragen des zwischenmenschli-
chen Lebens hinausweist. Denn letztlich
geht es darum, sich selbst zu akzeptieren
und mit psychischen Krankheiten umge-
hen zu können. Und um Freundschaft. Mar-
nie verletzt die Menschen um sich herum.
Und hat dann mitten in der Verwüstung ei-
ne seltene Erkenntnis: „Wow, ich bin echt
ein riesen Arschloch.“ nina mohs

Pure, auf Joyn

Entscheidung über


EJSvertagt


Fast so gut


wie neu


„Bonusfamilie“, „Läusemutter“, „Rampensau“: Das


deutsche Fernsehen ist voll von Adaptionen. Warum?


Die Sender suchen gezielt nach Produktionen. Die ARD-SerieBonusfamilieetwa basiert auf einem schwedischen Original. Oft ist die Adaption glatter. FOTO: BR/SAMMY HART

„Berliner Zeitung“


verliert Chef


Von der Familienfeier in die Großstadt,
und doch nicht den Zwängen entflohen:
Marnie (Charly Clive). FOTO: SOPHIA SPRING

Alle nackt


Die Serie „Pure“ erzählt von einer jungen Frau mit Zwangsstörung – und vom Umgang mit Krankheiten


Sex und Absurdität hin oder her:
Letztlich geht es um Akzeptanz.
Und um Freundschaft

(^20) MEDIEN Montag, 2. März 2020, Nr. 51 DEFGH
Klauen war und ist verpönt, sagt
Medienwissenschaftlerin Weber.
Zuschauer vergleichen aber gern
Das Original synchronisiert
zeigen? Ginge. Aber eine deutsche
Schule fühlt sich bekannter an
Lösungen vom Wochenende
SZ-RÄTSEL
2
86
4
52
375
48
58 3
4
13
6 1 2 9 7 8
Sudokumittelschwer
1 4 2 7
4 9
9 5
6 2
2 8 4
5 7 8
3 5 4 9
7 6
2 8
Die Ziffern 1 bis 9 dürfen pro Spalte und Zeile
nur einmalvorkommen. Zusammenhängende
weiße Felder sind so auszufüllen, dass sie nur
aufeinanderfolgende Zahlen enthalten (Stra-
ße), deren Reihenfolge ist aber beliebig. Weiße
Ziffern in schwarzen Feldern gehören zu kei-
ner Straße, sie blockieren diese Zahlen aber in
der Spalte und Zeile (www.sz-shop.de/str8ts).
© 2010 Syndicated Puzzles Inc. 2.3.
Schwedenrätsel
35846 9721
4921 57836
6718 32549
7 3 56184 92
1 2 49753 68
9862431 5 7
2637 8 4915
8495 21673
51739 6284
Str8ts: So geht’s
12 56 4
892416573
98 34 76
76 132 89
76 213 8
76 21
45 87 32
543768921
34 78
8
5
4
3
91
6
Str8tsleicht

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