Süddeutsche Zeitung - 02.03.2020

(Nora) #1

Nadel


Der Körper vonEileen Aolani, 23, Fotogra-
fin und Künstlerin aus München, ist von
oben bis unten geschmückt mit Tattoos. Ei-
nige davon hat sie selbst entworfen, sich
aber von anderen stechen lassen. Jetzt
nimmt sie die Nadel selbst in die Hand und
tauscht Papier gegen fremde Haut. Daniel
Schray, Tätowierer aus München und mit
Eileen befreundet, hat sie auf die Idee ge-
bracht, ihre eigenen Zeichnungen, die oft-
mals abstrakte und verzerrte Linienzeich-
nungen sind, anderen Menschen zu täto-
wieren. Bei Daniel lernt Eileen aktuell die
Kunst des Tätowierens. Bisher hat sie vier
Tattoos gestochen.
„Ich sehe das als Weiterführung meiner
Kunst. Am Anfang hatte ich schon ein biss-
chen Angst, auf die Haut von anderen Men-
schen etwas so Permanentes zu zeichnen.
Auf dem Skizzenblock ist das ja schon et-
was anderes. Es haben sich aber schon vie-
le Leute gemeldet, als sie gesehen haben,
dass ich jetzt Tätowieren lerne“, sagt sie. In
erster Linie sehe sie sich aber weiterhin als
Künstlerin, nicht als Tätowiererin.

Tinte


Auch Performance-KünstlerinSandra Be-
jarano, 28, greift immer öfter zu Nadel
und Tinte. In ihrer Kunst arbeitet sie nor-

malerweise mit Körperflüssigkeiten und ei-
ner speziellen molekularen Technik, um
das Aussehen oder die Textur der Flüssig-
keiten zu verändern. Dadurch erforscht sie
den Körper, seine Tabus und organische
Materialien.
„Die Haut ist ja auch eine organische Ma-
terie. Für mich besteht da eine konzeptuel-
le Verbindung zwischen meiner Kunst und
der Tattoowelt, dem Verhalten der Haut,
wenn sie mit Pigmenten tätowiert wird“,
sagt sie. Das Tätowieren hat sie sogar als
Bestandteil in einigen ihrer Live-Perfor-
mances integriert, wie zuletzt bei der Per-
formance „Bitchfight“. Sie tätowiert aber
auch professionell in einem Münchner Tat-
too-Studio. ornella cosenza

Stil:Modern-Rock
Besetzung:Ferdinand Sinner
(Gitarre, Gesang), Leon Schaller
(Schlagzeug), Elham Mulahzadah
(Bass), Sebastian Reichl (Gitarre)
Seit: 2018
Instagram:floatingnutshells

NEULAND


The Berg,wie der Künstler Berk Tuncer
sich nennt, lebt seit eineinhalb Jahren in
München und studiert an der Akademie
der Bildenden Künste. Der 22-Jährige
kommt aus Istanbul und spricht noch
nicht Deutsch. Das Interview wurde aus
dem Englischen übersetzt.


SZ: Berk, wie bist du zu deinem Künstler-
namen „Berg“ gekommen?
Berk Tuncer: Ich wollte schon lange einen
Künstlernamen, gleichzeitig mag ich den
Klang meines normalen Namens. „Berk“
und „Berg“ – klingt fast identisch. In
Deutschland scheint mir ein deutscher
Künstlername sinnvoll. Es ist auch einfa-
cher zu sagen: Wie der Berg, wenn Leute
fragen, wie mein Name geschrieben wird.
Außerdem startet der Name oft ein kleines
Ratespiel, woher ich komme. Es macht
mein Herkunftsland nicht so offensicht-
lich, das finde ich angenehm. So können
die Leute keine Schlüsse aufgrund meiner
Nationalität ziehen.


Wieso bist du von Istanbul nach München
gezogen?
München war eine Kopfentscheidung. Ich
hatte mich an verschiedenen Akademien
in Europa beworben, aber die meisten Aka-
demien sind mir zu verschult. In München
bist du nicht Kunstschüler, wenn du aufge-
nommen wirst, du wirst gleich als Künstler
wahrgenommen. Außerdem dachte ich,
hier könnte ich mich gut auf meine Arbei-
ten konzentrieren.


Kanntest du bereits Menschen in Mün-
chen?
Nein, es war für mich tatsächlich wichtig,
niemanden zu kennen. Ich wollte nicht wie-
der in den selben Gruppen sein und die sel-
ben Gespräche führen, dafür müsste ich
nicht in ein anderes Land ziehen. Ich will
neue Leute treffen und mir hier einen neu-
en, internationalen Kreis von kreativen
Leuten aufbauen.


Du bist aus Istanbul hergezogen. Was hat
München, was dein vorheriger Wohnort
nicht hat?
München ist ruhiger. Man hat mehr Zeit,
sich zu fokussieren. In Istanbul ist immer
etwas los, es ist immer laut, die Straßen
sind immer belebt. Das erzeugt den Druck,
selbst rauszugehen, Eindrücke zu sam-
meln und Projekte voranzutreiben. Auch
um drei Uhr nachts sitzen noch Leute in
Cafés zusammen und reden über ihre Plä-
ne und Projekte.


Hat sich das auf deine Kunst ausgewirkt?
Ja, ich bin stark beeinflusst von meinem
Umfeld. Ich muss raus, Eindrücke und Er-
fahrungen sammeln, um Kunst schaffen
zu können. Im ersten Jahr in München war
es schwierig, Arbeiten zu produzieren. In Is-
tanbul habe ich vor allem Kunst über sozia-
le, kulturelle und historische Themen, vor
allem über Problematisches gemacht.
Aber dafür brauche ich das Chaos. In Mün-
chen sind diese Dinge nicht so offensicht-
lich. Alles wirkt geordnet, vorhersehbar.
Und alle scheinen einem sehr ähnlichen Ta-
gesablauf zu folgen. Diese Ruhe hat meine
Kunst beeinflusst. Meine Kunst ist jetzt
egozentrierter.


Was heißt das?
München bringt mich dazu, nach innen zu
schauen, mich selbst zu reflektieren, weil
das äußere Chaos fehlt. Ich denke auch dar-
über nach, wie ich meinen kulturellen Hin-
tergrund nutzen kann. Oft sehe ich hier in
Deutschland „türkische Kunst“. Teppiche
oder Kebab in verschiedenen Variationen.
Aber die Türkei und auch gerade Istanbul
ist viel mehr als das. Es ist die Stadt, in der
Osten und Westen aufeinandertreffen.
Manche Menschen sind sehr nach Westen
orientiert, manche mehr nach Osten. Es
gibt beide Seiten.


Welche Erfahrung hat dich in München ge-
prägt?
Das viele Umziehen. Im ersten Jahr bin ich
vier Mal umgezogen. Immer wieder habe
ich meine Sachen zusammengepackt. Dar-
aus habe ich eine Performance gemacht, in
der ich meinen Koffer packe. Nicht um weg-
zuziehen, nur um mal wieder in einen ande-
ren Stadtteil von München zu ziehen.

Wo hast du denn schon überall in Mün-
chen gewohnt?
Zuerst habe ich im Lehel in einem Airbnb
gewohnt, aber nur für vier Wochen. Dann
bin ich in die Maxvorstadt gezogen, wieder
nur für einen Monat, dann für fünf Monate
in die Nähe der Theresienwiese. Dort habe
ich in einer Straße gewohnt, die von tür-

kischstämmigen Menschen bewohnt wird.
Das war interessant für mich, da die Kultur
anders ist. Sie ist nicht ganz türkisch und
nicht ganz deutsch, sie ist etwas ganz Eige-
nes. Dann bin ich wieder in die Maxvor-
stadt gezogen, und dort wohne ich noch im-
mer.

Welche Vorurteile über München würdest
du gerne widerlegen?
Dass München konservativ ist. Natürlich
ist München konservativer als Berlin, aber
gerade die junge Generation, die Leute, de-
nen ich begegne und mit denen ich mich
umgebe, sind nicht konservativ. Sie sind
sehr international. Ich spreche bis jetzt nur
Englisch und hatte noch nie Probleme.

Wirst du nach dem Studium noch in Mün-
chen bleiben?
Ich denke, nur in München zu bleiben, wä-
re nicht gut. Ich muss in Bewegung blei-
ben, nur so kann man sich entwickeln.
Aber München liegt sehr zentral in Europa,
das ist sehr praktisch.

interview: tabitha nagy

DassMilky Chance,das Elektro-Pop-Duo
aus Kassel, eine deutsche Band ist, verwun-
dert in den USA immer noch den ein oder
anderen Fan. Songs wie „Stolen Dance“
klingen leicht und fröhlich und nach Som-
mer. Das scheinen nicht unbedingt Attribu-
te zu sein, die man mit der deutschen Men-
talität verbindet. Obwohl es sich bei Musi-
ker und ProduzentBLVTHum ein anderes
Genre, nämlich irgendwas zwischen Trap,
Hardcore und Grunge, handelt, könnte
man auch da auf die Idee kommen, er sei in
den USA zu Hause und säße öfter mal mit
Post Maloneim Studio.Ilgen-Nurerinnert
mit ihren verträumten, aber doch kräfti-
gen Songs an die australische Singer/Song-
writerin Courtney Barnett.
Floating Nutshells(FOTO: JANINA SCHINDLER),
die ihre Musik, wenn sie sie einem Genre
zuordnen müssten, am ehesten Modern-
Rock nennen würden, machen Musik, die
so auch aus Großbritannien kommen könn-
te. Genau daher kommen auch ihre Einflüs-
se. Von englischen Bands wieThe Amazo-
nes,Foalsund thePale White.
Die Floating Nutshells gibt es in der jetzi-
gen Konstellation erst seit September
2019, nachdem 2018 erst Bassist Elham
Mulahzadah und im Jahr darauf Gitarrist
Sebastian Reichl dazukamen. Den ersten
Gig in dieser Konstellation spielten sie in
der Glockenbachwerkstatt. Doch auch ge-
nerell ist die Band noch jung. Gegründet


wurde sie 2018 von Sänger und Gitarrist
Ferdinand Sinner und Schlagzeuger Leon
Schaller, die sich bereits seit der Schulzeit
kennen und seit etwa 2014 gemeinsam Mu-
sik machen. Anfangs hauptsächlich Cover.
Irgendwann reichte das den beiden aber
nicht mehr. Mittlerweile hat die Band zwei
EPs veröffentlicht.
Die Songs hat Ferdinand geschrieben,
kam damit zu seinen Bandkollegen und
man hat sie gemeinsam ausgearbeitet. Teil-
weise sind es aber auch Songs, die Ferdi-
nand schon vorher fertiggestellt hatte, und
die mit der Band nur noch produziert wor-
den sind. An der zweiten EP war Jakob Ar-
nu vonSamtals Sound-Engineer beteiligt.
Am 26. März soll dann die nächste Single er-
scheinen. Wie sie heißen soll, will die Band
noch nicht verraten. Was aber feststeht ist,
dass sich seit der letzten EP auch die Art
und Weise geändert hat, wie die Songs ent-
stehen – mittlerweile viel mehr als Gemein-
schaftsprojekt im Proberaum. Mit der fes-
ten Besetzung kommt Ruhe rein, man
kann gemeinsam diskutieren, beeinflusst
sich gegenseitig.
Generell scheint sich die Band gerade zu
professionalisieren. Geprobt wird jetzt
mindestens einmal die Woche in einem
Proberaum in Neuhausen, und nicht wie
vorher in Ferdinands Wohnzimmer. Das
dürfte die Nachbarn mindestens genauso
freuen wie die Katze, die sich schon mal

zum Schlafen das Innere der Bassdrum
ausgesucht hat und beim Proben dann
eher unsanft geweckt wurde. Und so hat
sich jetzt der Proberaum zum Wohnzim-
mer entwickelt. Hier wird geprobt, an
Songs gefeilt, aber auch geredet: über Mu-
sik, kommende Gigs und manchmal auch
über Schlagersänger Michael Wendler –
ein Running Gag der vier Musiker.
Nach der Veröffentlichung der neuen
Singles wollen die vier Musiker gerne auf
Tour gehen, auch außerhalb von Mün-
chen. Vielleicht als Support für die Münch-
ner BandBlackout Problemsoder eben für
das große Vorbild The Amazones, von de-
nen alle vier Fans sind. „Uns ist klar, dass
es schwierig ist, den Lebensunterhalt mit
Musik zu verdienen, aber ich bin davon
überzeugt, dass man gehört wird, wenn
man fleißig ist, probt, Songs veröffentlicht
und das Ganze eben auch mit Leidenschaft
tut“, sagt Sänger Ferdinand.
Diese Leidenschaft ist in ihrer Musik zu
spüren. Die Songs sind sehr gefühlvoll,
manchmal mit schweren Texten, aufgefan-
gen aber von leichten Gitarrenriffs. Dazu
passt die Stimme von Ferdinand, die laut
und leise kann und immer viel Kraft hat, ei-
ne Stimme, die die Songs trägt. Sehen und
hören kann man die Band das nächste Mal
bei den Zombie Sessions am 6. März im Fei-
erwerk und am 9. April bei Munich Rocks
im Ampere. johanna schmidt

Floating Nutshells


„Ich muss
in Bewegung bleiben,
nur so kann man
sich entwickeln.“

von moritz richter

E


s war kalt und dunkel. Samh Yousef
fror, er war erschöpft, trotzdem hum-
pelte er weiter. Irgendwo im Nie-
mandsland nahe der Kleinstadt Qamischli,
an der syrisch-türkischen Grenze. Seit drei
Tagen versuchte er, die Grenze zur Türkei
zu überqueren, um den Bürgerkrieg im ei-
genen Land hinter sich zu lassen. Seine Fa-
milie hatte die letzten Ersparnisse zusam-
mengekratzt, um ihn vor der Einberufung
in die syrische Armee zu bewahren und die
Flucht zu finanzieren. Bis hierher hatte
Samh es geschafft, doch sein Bein, das er
sich bei einem Sturz am Vortag gebrochen
hatte und das nur notdürftig behandelt
war, schmerzte höllisch. Er konnte nicht
mehr. Ihm wurde schwarz vor Augen.
Vier Jahre später sitzt Samh in einem
Café nahe der LMU in München. Er ist mitt-
lerweile 26 Jahre alt, ein ruhiger, gepflegt
aussehender Mann mit schwarzem, leicht
gekraustem Haar. Er erzählt seine Ge-
schichte mit leiser, aber klarer Stimme.
„Ich glaube, manchmal ist es einfach das
Schicksal, das entscheidet, was man macht
und wohin man gehen muss. Und manch-
mal bringt dir das Schicksal auch einfach
die richtigen Menschen zum richtigen Zeit-
punkt im Leben“, sagt er mit einem Lä-
cheln. Damals in Syrien, so kurz vor der
Grenze, waren die richtigen Menschen
zwei Männer, die ihm auf der Flucht begeg-
neten, ihn auf den letzten Metern in die Tür-
kei stützten, vor der endgültigen Ohn-
macht bewahrten und in einem Auto mit-
nahmen. So gelangte Samh nach Istanbul.
Und letztlich auch nach München.

Hier studiert Samh seit drei Semestern
Deutsch als Fremdsprache an der LMU. Er
lebt in einer Wohnung mit Garten, er ver-
dient seinen Lebensunterhalt und hat eine
unbefristete Aufenthaltsgenehmigung.
Man könnte sagen, Samh ist ein Musterbei-
spiel für gelungene Integration. Dass er es
so weit geschafft hat, ist nicht selbstver-
ständlich. Viele Geflüchtete, die in Deutsch-
land ankommen, haben niemanden und
sind komplett auf sich allein gestellt. Samh
sagt: „Ich hatte wirklich Glück. Ich hatte
Menschen, die mir geholfen haben und die
mich unterstützt haben, als es mir schlecht
ging.“ Und er weiß aus eigener Erfahrung,
wie überfordernd die Ankunft in Deutsch-
land für viele Geflüchtete ist und wie viel
Kraft es kostet, in dieser Situation nicht ein-
fach aufzugeben.
Deswegen engagiert er sich bei einer
ganzen Reihe von Organisationen für Ge-
flüchtete. Gerade ist er beispielsweise als
Kulturmoderator beim Verein Brückenbau-
en aktiv, der Migranten bei der Integration
unterstützt. Er hat auch schon Deutsch bei
der Münchner Organisation Students4Re-
fugees unterrichtet oder bei der Organisati-
on Translaid als Dolmetscher gearbeitet.
Er hat Geflüchtete bei Behördengängen
oder zum Arzt begleitet. Denn ohne Dol-
metscher kann da schnell einiges schief lau-
fen: „Ich habe schon erlebt, dass jeman-
dem der falsche Zahn gezogen wurde, weil
der Zahnarzt ihn nicht richtig verstanden
hat. Und der Zahn hätte eigentlich gar nicht
rausgemusst“, sagt Samh.
Auch für die MigrantenzeitungNeuland
schreibt Samh regelmäßig Artikel, um an-
deren Geflüchteten von seinen Erfahrun-
gen zu berichten und diese so besser auf
die kulturellen Unterschiede in Deutsch-
land vorzubereiten. Das können auch leich-
tere Themen wie Flirten sein: „Ich hatte
mal eine Frau kennengelernt und dann zu
ihr gesagt: ,Du hast so ein Mondgesicht.‘
Bei uns ist das eine Metapher für Schön-
heit, aber sie war total empört“, sagt Samh
und grinst.
Doch nicht bei allen Erinnerungen ist
Samh zum Lachen zumute. Zwischenzeit-
lich war es extrem hart für ihn. Als er An-
fang 2016 in München ankam, sprach er

kein einziges Wort Deutsch. Nachdem er
bei Passau an der deutschen Grenze von Po-
lizisten aufgegriffen worden war, begann
für Samh eine Prozedur, die viele Geflüch-
tete in Deutschland durchmachen: Zuerst
verbrachte er einige Wochen in einer Auf-
nahmeeinrichtung im Münchner Stadtteil
Milbertshofen. Dann wurde er weiter nach
Neubiberg geschickt, in eine Traglufthalle,
wie sie in Deutschland im Sommer 2015
nach Angela Merkels „Wir schaffen das“ in
Massen aufgepumpt wurden.
Dort war er mit circa 200 Geflüchteten
aus verschiedenen Ländern unterge-
bracht. „Die Lage war sehr schlimm, man
konnte da kaum wohnen. Mein Zimmer
war direkt neben der Toilette, der Geruch
war echt nicht auszuhalten“, sagt Samh. Er
fühlte sich verloren und alleingelassen.
Sein einziges Ziel zu diesem Zeitpunkt: So
schnell wie möglich die deutsche Sprache
lernen. Deshalb besuchte er einen der
Sprachkurse, die in der Unterkunft angebo-
ten wurden, bekam dort aber nur Grundla-
gen und die wichtigsten Wörter beige-
bracht. „Man hat da nur gelernt, was ‚Ap-
fel‘ und was ‚Banane‘ heißt. Aber das war
nicht mein Ziel, ich wollte mehr.“
Er wollte in der Lage sein, zu arbeiten
und sich ein neues Leben aufzubauen. „Ich
war komplett auf mich allein gestellt und
konnte nichts machen“, sagt er, „ich habe
ein Ziel gebraucht, um irgendwie weiterle-
ben zu können.“ Durch Zufall erfuhr er,
dass man beim Bundesamt für Migration
und Flüchtlinge noch vor endgültiger Klä-
rung des Aufenthaltsstatus einen Antrag
auf einen vorzeitigen Integrationskurs stel-

len kann, wenn man eine gute Bleibeper-
spektive hat. Da zu diesem Zeitpunkt so
gut wie alle syrischen Flüchtlinge in
Deutschland Schutz erhielten, bekam auch
Samh eine Zusage und konnte auf einmal
zwei Sprachkurse am Tag besuchen. Über
Students4Refugees besuchte er noch ei-
nen dritten Kurs an der LMU und arbeitete
sich so in eineinhalb Jahren bis auf Sprach-
niveau B2 hoch.

In der Zwischenzeit bekam Samh auch
eine auf drei Jahre befristete Aufenthalts-
genehmigung und damit die Erlaubnis, ar-
beiten und Geld verdienen zu dürfen. Mit
Aushilfsjobs konnte er sich finanziell eini-
germaßen über Wasser halten. Samh arbei-
tete erst in einer Eisdiele, dann als Spül-
kraft in einem Hotel und schließlich auch
als Servicemitarbeiter – im Hotel Hilton.
„Das war eindeutig ein Karrieresprung für
mich. Das war schon beeindruckend im Hil-

ton, alleine der Name“, sagt Samh und
lacht.
Irgendwann reichten ihm die Aushilfs-
jobs aber nicht mehr: „Ich hatte einen neu-
en Traum, ich wollte etwas Anspruchsvolle-
res. Ich hatte gute Zeugnisse, mein Abitur,
warum also nicht studieren?“, sagt Samh.
Er hatte in der Flüchtlingsunterkunft ange-
fangen, anderen Geflüchteten mit geringe-
ren Deutschkenntnissen zu helfen und da-
bei gemerkt, wie viel Spaß ihm das Unter-
richten macht. „Ich habe das gerne ge-
macht und die anderen waren alle begeis-
tert, weil ich ihnen auch den Aufbau der
Sprache und die Grammatik gezeigt habe“,
sagt Samh. Also bewarb er sich für den
Hochschulzugang an der LMU. Er bestand
die Sprachprüfung für ausländische Studie-
rende und durfte anfangen zu studieren.

Doch auch hier gab es noch ein Problem:
Sein Antrag auf Bafög wurde zuerst abge-
lehnt, weil er in Syrien schon mit einem Per-
sisch- und Arabisch-Studium begonnen
hatte. Für ein zweites Studium bekam er
vom deutschen Staat keine Unterstützung.
Samh resignierte fast: „Ich war kurz davor,
mein Studium abzubrechen und meinen
Traum aufzugeben.“ Doch dann half ihm
die Familie einer Flüchtlingshelferin, die
Samh das Geld für die Miete lieh. Gleichzei-
tig schrieb seine damalige Freundin, die
als Anwältin arbeitete, Brief um Brief, bis

er nach fünf Monaten schließlich doch
noch Bafög bewilligt bekam.
Auch diese Erlebnisse sind für Samh ein
Grund, sich jetzt für andere Geflüchtete
einzusetzen: „Ich kenne die Situation,
wenn man komplett allein in einem frem-
den Land ist und sich nicht verständigen
kann. Wenn man alles selbst durchstehen
muss und eigentlich gerade wirklich je-
mand anderen braucht zur Unterstüt-
zung.“ Viele Geflüchtete haben die Unter-
stützung nicht, die Samh hatte. Deswegen
will er jetzt selbst für andere die richtige
Person zum richtigen Zeitpunkt im Leben
sein und ihnen helfen, so wie ihm geholfen
wurde.
Für dieses Engagement wurde Samh im
November 2019 mit dem DAAD-Preis für
ausländische Studierende ausgezeichnet,
die sich durch bemerkenswerten Einsatz
für die Gesellschaft hervortun. „Das war,
glaube ich, der glücklichste Moment in mei-
nem ganzen Leben. Als ich auf der Bühne
stand und mir der Vizepräsident die Urkun-
de überreicht hat. Das hat mir auch ge-
zeigt, dass sich die Zeiten voll Müdigkeit
und Trauer am Ende doch gelohnt haben.“

Viermal ist Berk Tuncer in seinem ersten Jahr in München umgezogen. Erfah-
rungen wiediese verarbeitet er in seiner Kunst. FOTO: PRIVAT

„Meine Kunst


ist jetzt egozentrierter“


Berk Tuncer, 22, ist von Istanbul nach München gezogen


BAND DER WOCHE


Irgendwann reichten
die Aushilfsjobs
aber nicht mehr

Samh wollte in der Lage sein,
zu arbeiten und sich
ein neues Leben aufzubauen

Er will jetzt selbst für andere
die richtige Person zum richtigen
Zeitpunkt im Leben sein

Der richtige Zeitpunkt


Vorvier Jahren floh Samh Yousef, 26, vor dem syrischen Bürgerkrieg. Heute
engagiert er sich für andere Geflüchtete, denn er weiß: Ohne Hilfe geht es nicht

München lebt. Viele junge Menschen in der
Stadt und im Umland verfolgen aufregende
Projekte, haben interessante Ideen und kön-
nen spannende Geschichten erzählen. Auf die-
ser Seite werden sie Montag für Montag vorge-
stellt – von jungen Autoren für junge Leser.
Lust mitzuarbeiten? Einfach eine E-Mail an die
[email protected]
cken. Weitere Texte findet man im Internet un-
terhttp://jungeleute.sueddeutsche.deoder
http://www.facebook.com/SZJungeLeute. SZ

KOMMEN & GEHEN


Mit jedem Menschen,
der zuzieht, verändert
sich die Stadt. Und auch mit
jedem Menschen, der
München verlässt, verliert
die Stadt ein Stück Identität

„Ich hatte Glück“, sagt Samh Yousef über seine Integration in München.FOTO: PRIVAT

JUNGE LEUTE


R6 (^) JUNGE LEUTE Montag, 2. März 2020, Nr. 51 DEFGH

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