Süddeutsche Zeitung - 02.03.2020

(Nora) #1
Diesen Preis könne sie keinesfalls für sich
alleinin Anspruch nehmen, sagte die
Schauspielerin Paula Beer auf der Bühne
des Berlinale-Palasts am Potsdamer
Platz. Dort wurde sie zum Abschluss des
Festivals mit dem Silbernen Bären als Bes-
te Darstellerin ausgezeichnet. Den Preis
bekam sie für das Liebesdrama „Undine“
verliehen, eine moderne, ins Berlin der Ge-
genwart verlegte Märchenvariation des
Mythos um das Wassergeist-Mädchen Un-
dine. Beer ist darin als rätselhafte Muse-
umsführerin zu sehen, die sich in einen In-
dustrietaucher verliebt. „Ein Liebespaar
zu spielen ist das Schönste und Schwie-
rigste zugleich“, sagte sie – und das könne
man nur zu zweit. Deshalb wolle sie die Eh-
rung mit ihrem Filmpartner teilen, dem
Schauspieler Franz Rogowski.
Paula Beer ist erst 25 Jahre alt und doch
schon seit mehr als einem Jahrzehnt ei-
nes der wichtigsten Gesichter nicht nur
des deutschen, sondern des europäischen
Kinos – und nach diesem Preis vermut-
lich auch bald des amerikanischen. Denn
in Hollywood verfolgt man sehr genau,
wer auf den großen Festivals des alten
Kontinents gefeiert wird.
Beer wurde 1995 in Mainz geboren und
sammelte erste Schauspiel- und Tanzer-
fahrungen im Jugendensemble des Berli-
ner Friedrichstadtpalastes. Mit 14 Jahren
hatte sie ihre erste große Kinorolle im His-
toriendrama „Poll“. Für diesen Film ließ
der Regisseur Chris Kraus sehr viele
gleichaltrige Mädchen vorsprechen, Beer
setzte sich gegen 2500 andere Kandidatin-
nen durch. Der Auftritt brachte ihr diver-
se Folgerollen ein, unter anderem in „Lud-
wig II.“, „Das finstere Tal“ und „4 Könige“.
Vor allem aber wurde der französische
Autorenfilmstar François Ozon auf sie auf-

merksam. Der Regisseur besetzte sie eini-
ge Jahre später in seinem Melodram
„Frantz“. Darin spielte Beer – teils auf
Deutsch, teils auf Französisch – eine Sol-
datenwitwe, die sich kurz nach Ende des
Ersten Weltkriegs in einen mysteriösen
Franzosen verliebt – also in den Feind aus
den Schützengräben. Für die Darstellung
dieser Frau zwischen emotionalen und
ideologischen Fronten bekam sie bei den
Filmfestspielen von Venedig den Marcel-
lo-Mastroianni-Preis als beste Nach-
wuchsdarstellerin verliehen, den auch
schon berühmte US-Kolleginnen wie Jen-
nifer Lawrence erhalten hatten.

Das Erstaunliche an der Schauspiele-
rin Paula Beer sei, sagt François Ozon,
dass sie allein mit ihrem Blick zwischen
der Unschuld eines Mädchens und der
Kraft einer Frau hin und her wechseln
könne. Das ist eine Kunst, die sie in der
wunderbaren Serie „Bad Banks“, deren
zweite Staffel erst vor einigen Wochen auf
Arte und im ZDF ausgestrahlt wurde, zur
Perfektion gebracht hat. Sie spielt in die-
ser fiesen Banken-Soap zwischen Frank-
furt und Berlin die Investmentbankerin
Jana, in der einerseits eine veritable Lady
Macbeth steckt, die andererseits aber
auch eine Verletzlichkeit ausstrahlt, dass
man ihr umgehend eine große Tasse hei-
ßen Kakao kochen möchte. Nicht zuletzt
wegen Paula Beers Jana kann diese
deutsch-luxemburgische Koproduktion
mühelos mit den Intrigen der großen US-
Serien mithalten.
Was Paula Beer zu einer prototypi-
schen Vertreterin einer neuen Generation
von Schauspielerinnen macht, konnte
man am Samstag bei der Verleihung der
Berlinale-Preise beobachten. Vorsitzen-
der der diesjährigen Wettbewerbsjury,
die Beer den Preis verlieh, war der briti-
sche Schauspieler und Oscarpreisträger
Jeremy Irons. Der 71-Jährige gehört noch
zur alten Schule des Theaters und des Ki-
nos, in der mit donnernder Stimme um
die Aufmerksamkeit des Publikums ge-
buhlt wird. Weshalb er selbst bei einer
harmlosen Veranstaltung wie dieser Preis-
verleihung seine Rede deklamierte, als sä-
ßen die Geister von Shakespeare, Schiller
und Ibsen ihm gemeinsam im Rücken.
Was für eine krasse Diskrepanz zum de-
zenten Schauspielwerkzeug der Paula
Beer, mit dem sie trotzdem keine geringe-
re Wirkung provoziert. david steinitz

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von tobias matern

D


ie Taliban dürfen nach Kabul zu-
rück, gut zwei Jahrzehnte nach ih-
rem Sturz. Zwar sind die Islamis-
ten nicht der alleinige Sieger des Afgha-
nistan-Krieges, denn dieser Krieg kennt
keine Sieger. Aber die Islamisten können
nun auf einen ersten diplomatischen Er-
folg bauen. Sie haben den USA bei den
Friedensgesprächen in Doha eine wesent-
liche Bedingung diktiert: Zunächst ver-
pflichten sich die Amerikaner, das Land
zu verlassen. Und erst jetzt, nach dieser
Zusage, müssen sich die Taliban mit der
afghanischen Regierung an einen Tisch
setzen.
Bei den nun anstehenden Verhandlun-
gen mit Präsident Ghani können die Tali-
ban relativ entspannt auf den Kalender
schauen: Bis Ende April 2021 sollen alle
westlichen Truppen in ihre Heimat zu-
rückkehren. Und auch wenn die USA Be-
dingungen an diese Konzession knüpfen,
ist es nur schwer vorstellbar, dass Donald
Trump im anstehenden Wahlkampf sein
Versprechen einkassiert, die US-Solda-
ten nach Hause zu holen, wenn die Ge-
spräche zwischen Ghani und Taliban ins
Stocken geraten. Selbst Trump, der zu vie-
lem, aber nicht zur Bescheidenheit neigt,
hält sich für seine Verhältnisse nach dem
Deal von Doha ziemlich zurück. Für Tri-
umphgeheul besteht auch kein Anlass:
Zwar ist der nun geregelte, phasenweise
US-Abzug aus Afghanistan kein zweites
Saigon. Die Soldaten müssen nicht den
letzten Hubschrauber vom Dach der Bot-
schaft aus nehmen. Aber Einsatz und Er-
trag stehen in keinerlei Verhältnis nach
fast zwei Jahrzehnten Krieg.
Die Taliban werden, wenn sie sich tat-
sächlich mit Ghani auf eine Machtteilung
einigen können, zwar in ein anderes Ka-
bul zurückkehren als sie es nach ihrem
Sturz 2001 hinterlassen haben. In diesem
Kabul gehen Frauen an die Universität

und diskutieren in den Fernsehtalk-
shows mit. Aber in diesem Kabul sitzen
auch Warlords mit in der Regierung, die
ihre Macht vor allem am Nutzen ihres
Clans, nicht des Landes, ausrichten.
Der Westen verweist gerne und nicht
zu Unrecht auf neu gewonnene Frauen-
rechte in Afghanistan, obwohl niemand
in Berlin, London oder Washington garan-
tieren kann, dass diese nach dem Abzug
gewahrt bleiben. Noch gravierender aber
ist: Die USA haben einen politischen Auf-
bau in Afghanistan betrieben, der durch
eine bemerkenswerte Unkenntnis der

Verhältnisse geprägt war. Sie installier-
ten eine Zentralregierung mit einem Prä-
sidenten in Kabul, während sie die Macht
der Regionalfürsten und Warlords in den
Provinzen nicht antasteten. Zwar gibt es
heute in den urbanen Zentren eine junge,
liberale Schicht. Aber eine politische Re-
präsentanz haben sie nicht. Die meisten
alten Machthaber sind nach wie vor so
einflussreich wie früher. Und sie halten
sich gegenseitig in Schach, statt geeint ge-
gen die Taliban aufzutreten.
In den vergangenen Jahren haben die
USA die selbst geschaffenen Mängel im
politischen System immer wieder mit
schnellen Reparaturarbeiten im laufen-
den Betrieb zu beheben versucht. Ein poli-
tischer Rivale des Präsidenten wollte das
Wahlergebnis nicht akzeptieren? Dann
wurde er eben auf Druck Washingtons
mit in die Regierung hineinverhandelt.
Das Resultat: Die Taliban treffen nun in
Kabul auf eine heillos zerstrittene politi-
sche Klasse. Und darin liegt für sie ein
strategischer Vorteil bei den innerafgha-
nischen Friedensverhandlungen, die
jetzt anstehen.

von klaus hoeltzenbein

N


och hat der Fußball nicht kapitu-
liert. Es wird noch gespielt. Doch es
war eine nie zuvor gesehene Gro-
teske, wie das Gastspiel des FC Bayern bei
der TSG Hoffenheim zu Ende ging: Oben
auf der Anzeigetafel stand es 6:0, unten
auf dem Rasen kickten sich die Roten und
die Blauen den Ball untereinander zu. Nie-
mand versuchte mehr, ein Tor zu erzielen.
13 Minuten lang ging das so, dann pfiff der
Schiedsrichter die würdelose Veranstal-
tung ab. Das Bundesligaduell gilt als ord-
nungsgemäß beendet. Angesichts jüngs-
ter Zuspitzungen aber scheint der Mo-
ment nicht mehr fern zu sein, in dem un-
ter Verweis auf diskriminierende, rassisti-
sche oder homophobe Äußerungen ein
großes Spiel abgebrochen wird.
Auch der Fußball muss lernen dürfen,
sich im eskalierenden Sozialklima zu be-
haupten. Insofern haben sich die Akteure
in Hoffenheim angemessen verhalten. Als
im Bayern-Fanblock Hassplakate gezeigt
wurden gegen Dietmar Hopp, den Mit-
gründer des Computerkonzerns SAP, der
später seinen Jugendklub Hoffenheim
zum Erstligisten entwickelte, unterbrach
der Schiedsrichter zweimal. Dann schick-
te er die Teams für 15 Minuten in die Kabi-
ne, wo diese sich auf ihren Nichtangriffs-
pakt einigten. Die Botschaft: Wir stehen
zusammen! Doch wo steht der Feind?
Im eigenen Haus. Meist sogar auf von
den Klubs selbst vergünstigten Plätzen.
Die in den Kurven versammelten Ultra-
Gruppen – es sind fast nur junge Männer


  • gerieren sich von dort aus wie die Her-
    ren über die Atmosphäre im Stadion.
    Längst hat die große Mehrheit des Publi-
    kums von dieser Stimmungsdiktatur die
    Nase voll. Die Klubs jedoch haben die
    selbsternannten Stadion-Regisseure zu
    lange gewähren lassen. Aus Desinteresse,
    aber auch aus Kalkül, weil die Ultras mit
    ihren Choreografien die Kulisse lieferten


fürs gute Geschäft. Und mancherorts so-
gar aus der Angst heraus. Es gibt Offizielle
aus großen Vereinen, die nur vertraulich
davon erzählen, dass sie sich fürchten wür-
den, mit Hardlinern in ihrer Kundschaft
in Kontakt zu treten.
Viele sagen, das Stadion spiegle den
Querschnitt der Gesellschaft, aber damit
haben es sich die Verantwortlichen lange
zu leicht gemacht. Es ist eine nach Tausen-
den zählende Spezial-Klientel, die sich in
den Ultra-Kurven sammelt. Dass die Grup-
pe die Hausordnung negiert, dass aus der
Anonymität der Masse heraus gefrevelt

wird, dass dort Masken übergestreift wer-
den, bevor die Pyros brennen, wurde viel
zu lange toleriert. Natürlich muss der Dia-
log mit den konsumkritischen, politisch
interessierten Ultras wach gehalten, aber
er muss konfrontativer werden – im Dop-
pelpass der Klubs mit der Justiz. Beispiel-
haft im Fall von Hopp. Ein feiger Akt ist es,
den 79-Jährigen stellvertretend für die
Kommerzialisierung des Fußballs zu diffa-
mieren. Noch feiger ist es, wie es oft ge-
schieht, Hopps Profil auf Bannern hin-
term Fadenkreuz zu zeigen. Auch dies soll-
te ein Fall sein für den Oberstaatsanwalt.
Jeder in der Bayern-Fankurve wusste,
dass der Spielabbruch droht. Jeder wuss-
te, dass die Aktion sogar die nächste Meis-
terschaft gefährdet. Nicht nur darin liegt
der Widersinn der Pöbelei aus der leicht
links von der Mitte verorteten Münchner
Ultra-Klientel. Denn diese sorgt so auch
dafür, dass die biometrische Rundum-
überwachung in den Stadien forciert wer-
den wird. Zudem: Ausgerechnet die Bay-
ern-Fans haben demonstriert, wie sich
das Spiel des Rekordmeisters aus der Kur-
ve heraus zum Stillstand bringen lässt.

J


oe Biden hat den Sieg in South Caroli-
na verdient. Der ehemalige Vizepräsi-
dent ist kein sehr mitreißender Wahl-
kämpfer, und er verkörpert nicht die Zu-
kunft der Demokratischen Partei. Aber Bi-
den ist ein höchst anständiger Mensch,
der sich diesen Wahlkampf aus Sorge um
Amerika antut, nicht, wie manche Konkur-
renten, aus persönlichem Ehrgeiz. Das ha-
ben die Wähler honoriert.
Was Bidens Sieg politisch heißt, wird
man Ende der Woche wissen. Dann ist der
„Super Tuesday“ vorbei, an dem in 14 Bun-
desstaaten gewählt wird. Es ist gut denk-
bar, dass South Carolina nur ein letzter Tri-
umph der alten Garde war und der Links-
ausleger Bernie Sanders sich dann seine


Führungsposition zurückerobert. Es ist
aber auch denkbar, dass South Carolina
der Beginn einer großen Wende war. Ein
Zeichen, dass die demokratischen Wähler
ernsthafte Zweifel daran bekommen ha-
ben, ob sie wirklich mit einem Kandidaten
gegen Donald Trump antreten sollten, der
sich stolz als Sozialisten bezeichnet. Diese
Zweifel sind berechtigt.
Am schädlichsten für die Demokraten
wäre es, wenn die Wahl in South Carolina
nichts klärt. Wenn sie nur der Auftakt zu
einem zähen Kampf zwischen Biden und
Sanders ist, der die Demokraten bis zum
Wahlparteitag im Juli beschäftigt – und
lange darüber hinaus spaltet. Das hilft nur
Donald Trump. hubert wetzel

I


n der Slowakei haben die Wahlen drei
gute Nachrichten gebracht. Die kor-
rupte Regierungspartei Smer SD, die
sehr wahrscheinlich jenen Mann schütz-
te, der den Mord an dem Journalisten Ján
Kuciak bestellt haben soll, und deren An-
führer Verbindungen zur Verbrecherorga-
nisation ’Ndrangheta nachgesagt werden,
wurde abgewählt. Die faschistische Partei
hat deutlich weniger Stimmen gewonnen
als befürchtet. Die Wahlbeteiligung war
hoch.
Die schlechte Nachricht: Jene Partei,
die vor einem Jahr Präsidentin Zuzana
Čaputová ins Amt brachte, hat es nicht ein-
mal ins Parlament geschafft. Sie konnte
mit ihrer toleranten Haltung und sachli-


chem Auftreten nicht punkten. Mit ihr hät-
te die EU, vor allem Deutschland und
Frankreich, wohl einen verlässlichen Part-
ner in Mitteleuropa gefunden.
An die Macht kommen wird der Popu-
list Igor Matovič, der sich mit Parteien ver-
bünden will, die Angst vor Migranten
schüren und wenig Respekt vor Minder-
heiten erkennen lassen. Aus dem Wort „li-
beral“ haben sie ein Schimpfwort
gemacht. Matovič will sich von Polen und
Ungarn absetzen. Doch in der Frage der
Aufnahme von Flüchtlingen wird seine Re-
gierung eher auf Kurs mit den Visegrád-
Staaten bleiben. Das Böse hat verloren. Ob
wirklich das Gute gewonnen hat, wird sich
noch weisen. viktoria großmann

A


ls normale Partei will die Linke end-
lich wahrgenommen werden. Sie
wirbt nicht nur in Thüringen, son-
dern auch im Bund für neue Mehrheiten.
Sie will beweisen, dass sie reif ist, um mit-
zuregieren. Es war deshalb nicht nur stra-
tegisch unklug, sondern fast schon mut-
willig selbstzerstörerisch, dass nun acht
Bundestagsabgeordnete der Linksfrakti-
on Angela Merkel wegen „Beihilfe zum
Mord“ angezeigt haben.
Das ist einerseits so bizarr, dass es
kaum der Rede wert wäre, wenn es nicht
andererseits all jenen in die Hände spielen
würde, die schon immer behauptet ha-
ben, dass mit dieser Partei eben kein Staat
zu machen sei. Am Mittwoch unternimmt


der gemäßigte Linke Bodo Ramelow in Er-
furt den nächsten Versuch, sich mithilfe
der CDU zum Ministerpräsidenten wäh-
len lassen. Falls bei den Christdemokra-
ten noch jemand nach einem Argument
gesucht haben sollte, sich dem zu verwei-
gern: Hier wäre eines.
Daran ändert auch die Tatsache nichts,
dass sich die Parteichefs von der Anzeige
klar distanzierten. Die acht Abgeordneten
gehören zu einer weltfremden Gruppe in-
nerhalb der Fraktion, die sich auch mit Au-
tokraten wie Nicolás Maduro solidarisiert.
Solange es der Partei nicht gelingt, sich
von dieser Minderheit zu emanzipieren,
braucht sie von neuen Mehrheiten gar
nicht zu träumen. boris herrmann

V


on Kemal Atatürk, dem Grün-
der der nun beinahe 100 Jahre
alten Türkischen Republik,
stammt ein Leitsatz für die Au-
ßenpolitik, der so schlicht wie
bedeutungsschwer ist: Frieden im Land,
Frieden in der Welt. Danach sollten die
Türken streben. Atatürk war General, er
hatte viel Blut in seinem fünfzig jährigen
Leben gesehen, als er 1931 dieses Credo
formulierte. Die Republik war ein knap-
pes Jahrzehnt zuvor aus einem Krieg gebo-
ren worden.
Präsident Recep Tayyip Erdoğan ist
kein General. Was ihn mit Atatürk verbin-
det, ist der Absolutismus der Macht. Die
hat er aber nicht geerbt, er hat sie sich ge-
nommen, indem er das parlamentarische
System der Türkei nach und nach in eine
Präsidialmonarchie verwandelt hat. In die-
sem System ist der erste Mann im Staat
gleichzeitig militärischer Oberbefehlsha-
ber, Chef der mächtigsten Partei und, weil
ihm die Gewaltenteilung wenig bedeutet,
auch oberster Richter, wenn er das sein
will. Dieses System hat einen entscheiden-
den Webfehler: Es lässt keinen Wider-
spruch zu.


Wohin dies führen kann, ist in Syrien
zu besichtigen. Die Türkei hat sich in ih-
rem Nachbarland in einen Teufelskreis
der Gewalt verstrickt, aus dem es nur ei-
nen Ausweg gibt, will Ankara nicht weite-
re türkische Opfer riskieren: rascher Rück-
zug. Eine solche Kapitulation und damit
das Eingeständnis von Fehlern ist jedoch
im System Erdoğan nicht vorgesehen.
Wie sonst ist es zu erklären, dass sich
die türkische Armee auf dieses letzte syri-
sche Abenteuer eingelassen hat? Dass sie
mehrere Tausend Soldaten in die Schlacht
um Idlib schickte, wo es am Boden nichts
zu gewinnen gibt, weil der Gegner den
Luftraum kontrolliert? In Idlib spielt sich
eine Art Endkampf des syrischen Bürger-
kriegs ab, es geht also noch mal um alles.
Und der eigentliche Gegner der Türkei ist
nicht Assads abgekämpfte, mit irani-
schen Söldnern nachgerüstete Truppe,
sondern Russlands Luftwaffe. In einem
Zweikampf mit Moskau aber kann Anka-
ra nur verlieren, abgesehen davon, dass
ein Konflikt zwischen einem Nato-Part-
ner und Russland mehr in Flammen set-
zen kann, als das geschundene Syrien.
Erdoğan hat seine Armee in ein Desas-
ter geschickt, und seine Generäle sind
ihm gefolgt. Keiner hat Halt geschrien.
Jetzt wird um die Toten getrauert, und
noch immer ist keine Umkehr in Sicht. Im


Gegenteil, Erdoğan möchte allen eine Lek-
tion erteilen: dem syrischen Regime mit
militärischen Gegenschlägen und dem
Westen, indem er den Flüchtlingen die
Botschaft zukommen lässt, die Grenzen
der Türkei Richtung Westen seien offen.
Der Präsident ist wütend auf die EU, er
fühlt sich allein gelassen und vergisst,
dass er zuletzt lieber Präsident Wladimir
Putin charmierte, als auf die lästigen Mah-
ner aus Berlin oder Brüssel zu hören, die
ihm übel nehmen, dass er auch im eige-
nen Land keinen Frieden macht und Kriti-
ker mit geradezu steinzeitlicher Unerbitt-
lichkeit verfolgt. Die Abschottung gegen
jede Dissidenz aber hat fatale Folgen bis in
den innersten Zirkel der Macht in Ankara:
die Mäßiger fehlen.
Wenn Erdoğan nun nach der Nato ruft,
die er zuvor mit Waffenkäufen in Moskau
provozierte, dann zeigt dies seine Be-
drängnis. Aber die Nato kann hier nicht
helfen, denn die Türkei hat sich aus freien
Stücken aufs syrische Schlachtfeld bege-
ben. Sie will ein Mitspracherecht in der sy-
rischen Nachkriegsordnung erzwingen
und dem Diktator in Damaskus nicht den
Triumph lassen, wieder im ganzen Land
zu herrschen. Das ist ein nachvollziehba-
res Motiv; und verständlich, ja ehrenwert,
ist es, wenn die Türkei die verbliebenen
Bewohner Idlibs nicht der Rache Assads
ausliefern will. Doch mit militärischen
Mitteln ist Idlib nicht mehr zu retten, so-
lange Assad sich auf Putin verlassen kann,
der sich nicht scheut, Schulen und Kran-
kenhäuser bombardieren zu lassen, um
den letzten Widerstand zu brechen. Je län-
ger der Konflikt dauert, desto mehr Men-
schen sterben. So bitter es ist, Assad hat
den Krieg längst gewonnen, und dies
kann auch die Türkei nicht mehr ändern.
Die Flüchtlinge, die sich zu Hunderttau-
senden an der Grenze sammeln, will Erdo-
ğan nicht ins Land lassen. Das ist auch ver-
ständlich, die Türkei hat schon fast vier
Millionen Syrer aufgenommen. Wenn Er-
doğan den Menschen, die sich bereits in
die Türkei geflüchtet haben, aber vorgau-
kelt, sie könnten nach Europa weiterzie-
hen, wird auch das nicht für Frieden sor-
gen. Schon gar nicht mit dem Nachbarn
Griechenland, der seine Grenzen nun mit
Tränengas verteidigt.
Auch Putin benützt die Flüchtlinge in
seinem zynischen Kalkül, er will den
Druck auf die Türkei erhöhen. Was bleibt?
Europa muss den Druck auf Putin erhö-
hen, notfalls mit Sanktionen, die Gewalt-
eskalation in Idlib zu beenden. Erdoğan
wird unberechenbar bleiben, denn es geht
nun auch um seine Zukunft, er hat in Syri-
en zu viel aufs Spiel gesetzt. Das neue
Flüchtlingsdrama, das er inszeniert, soll
wohl davon ablenken. Von Atatürks
Grundsatz ist die Türkei weit entfernt.

Die Bitte des englischen Kö-
nigs Heinrich VIII., sich schei-
den lassen zu dürfen, bittere
Klagebriefe des Malers Mi-
chelangelo, die Akten zum
Prozess gegen den Forscher Galileo Gali-
lei – das sind nur einige unter den Hun-
derttausenden Dokumenten, die auf den
sich über 85 Kilometer hinstreckenden
Regalen des Vatikanischen Apostoli-
schen Archivs lagern. Die riesige Doku-
mentensammlung des Kirchenstaates,
deren größter Teil heute unterirdisch im
sogenannten Bunker unter dem Pinien-
hof des vatikanischen Palastkomplexes
untergebracht ist, gilt als geheimnisvol-
ler Ort – zumal sie lange Vatikanisches
Apostolisches Geheimarchiv hieß, ehe
Papst Franziskus im vergangenen Okto-
ber das „Geheim“ aus dem Namen strich.
Als Privatarchiv der Päpste vom Pontifex
Paul V. im frühen 17. Jahrhundert einge-
richtet, versammelt es seither den Schrift-
verkehr der Kurie, die ältesten Urkunden
sind 1200 Jahre alt. Diese alten Akten
sind Forschern schon seit dem 19. Jahr-
hundert zugänglich. Von diesem Montag
an dürfen Wissenschaftler in den Lesesä-
len aber auch in Schriftstücke schauen,
die in den Weltkriegsjahren bis 1945 ent-
standen sind – und die umstrittene Rolle,
die der damalige Papst Pius XII. im Um-
gang mit dem Dritten Reich und dem Ho-
locaust spielte, womöglich neu beleuch-
ten könnten. jbb

(^4) MEINUNG Montag,2. März 2020, Nr. 51 DEFGH
FOTO: JOERG CARSTENSEN/AP
AFGHANISTAN
Gut für die Taliban
HASS IM STADION
Stimmungsdiktatur
USA
Bidens Etappensieg
SLOWAKEI
Das Böse hat verloren
LINKSPARTEI
Ein Tritt für Ramelow
sz-zeichnung: oliverschopf
TÜRKEI
Zynisches Kalkül
von christiane schlötzer
AKTUELLES LEXIKON
Apostolisches Archiv
PROFIL
Paula
Beer
Schauspielerin,
als Wassergeist
ausgezeichnet
Kabuls politische Klasse ist
zerstritten. Dazu haben die USA
entscheidend beigetragen
Die Vorfälle sorgen dafür, das
die Rundumüberwachung
forciert werden wird
Sowohl Erdoğan als auch Putin
missbrauchen das Elend der
Flüchtlinge als Mittel der Politik

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