Süddeutsche Zeitung - 02.03.2020

(Nora) #1
von ulrike nimz
und antonie rietzschel

Leipzig –Am Aschermittwoch ist alles vor-
bei, heißt es. Aber so richtig scheint Mike
Mohring noch nicht daran zu glauben,
dass das auch für ihn gilt. Er steht auf der
Bühne in der Festhalle der Vereinsbrauerei
Apolda, betupft die Stirn mit einem Ta-
schentuch. „Ich bin froh, dass ich das für
Schweiß brauche und nicht für Tränen.“ Ei-
ne halbe Stunde lang hat Mohring zu 1500
Gästen gesprochen, über die „schwierigen
Wasser“, in denen seine Partei manövriert.
Über die aktuelle Regierungskrise, in der
es an Zutrauen aus Berlin gefehlt habe. Er
hat die Fäuste geschwungen und sich ans
Herz gefasst: Geschlossenheit, Verantwor-
tungsbewusstsein, das sei nun nötig.
Die Leute applaudieren, einer schwingt
eine Kuhglocke. Am politischen Ascher-
mittwoch geht es seiner Partei auch um
Selbstvergewisserung. Ein bisschen Schen-
kelklopfen, ein bisschen Schulterklopfen –
nie hatten die Christdemokraten es nöti-
ger, nie gab es weniger Anlass.
Die CDU hat in Thüringen nicht nur die
Landtagswahl verloren, sondern auch sich
selbst. Nach Monaten erfolglosen Sondie-
rens wählte die Fraktion Anfang Februar
den Chef einer Fünf-Prozent-Partei zum
Ministerpräsidenten – gemeinsam mit der
AfD. Ein politischer Sündenfall, der einen
Richtungsstreit in der Partei entfachte, die
CDU-Bundesvorsitzende ihren Posten kos-
tete und auch der Karriere Mike Mohrings
ein unfreiwilliges Ende setzte: An diesem
Montag wird der Fraktions- und Landes-
chef seine Ämter abgeben, auf Druck aus
den eigenen Reihen.
Wenn Mohring noch Freunde in der Poli-
tik hat, dann in Apolda, seiner Heimat-
stadt. Hier ist er vor 48 Jahren geboren wor-
den, hier wohnt er noch immer. Wer sich
an diesem Abend mit Gästen unterhält, be-
kommt mehr als einmal zu hören, dass die
Wahl Thomas Kemmerichs (FDP) die richti-
ge Entscheidung gewesen sei, man die AfD

nicht ewig ausgrenzen könne. Einer sagt:
„Der Linksextremismus ist für mich fast
schlimmer als der Rechtsextremismus.“ Ei-
ne Woche nach Hanau. Journalisten, die
Mohrings Agieren in der Vergangenheit kri-
tisch kommentierten, bekommen es mit
aufgebrachten Anhängern zu tun. Sie bau-
en sich vor den Pressetischen auf: Von „me-
dialer Hinrichtung“ ist die Rede und von
Verantwortungslosigkeit, ausgerechnet.
Dabei war es Mohring, der seiner Partei
zuletzt vorstand wie ein Wetterhahn: So-
bald es Gegenwind gab, drehte er sich. Hat-
te er noch vor Kurzem den Unvereinbar-
keitsbeschluss gerügt und angesichts kom-
plizierter politischer Realitäten im Osten
für mehr Autonomie der Landesverbände
geworben, begründete er später seinen oh-
nehin besiegelten Rücktritt mit dem Kom-
promiss, den vier seiner Parteikollegen

ausgehandelt hatten. Dieser „Stabilitäts-
mechanismus“ soll auf gar keinen Fall als
Duldung oder Tolerierung verstanden wer-
den, funktioniert aber ähnlich: als befriste-
te, projektbasierte Kooperation zwischen
CDU und rot-rot-grüner Minderheitsregie-
rung. Bis im April 2021 ein neuer Landtag
gewählt werden soll, will man einen Haus-
halt aufstellen in Thüringen – und die AfD
bei der Umsetzung politischer Ziele außen
vor lassen.
Damit das alles wie verabredet funktio-
niert, ist es nicht unwichtig, wer an diesem
Montag an die Spitze der CDU-Landtags-
fraktion gewählt wird. Die besten Chancen
werden Generalsekretär Raymond Walk
und Mario Voigt, Landesvize und Intim-
feind Mohrings, eingeräumt. Beide sind
maßgeblich an den Verhandlungen mit Lin-
ke, SPD und Grünen beteiligt gewesen.
Entscheidende Hürde bleibt die Minis-
terpräsidentenwahl am kommenden Mitt-

woch und das, was man das Thüringen-Pa-
radox nennen könnte: CDU und FDP haben
Stimmen für den Kandidaten Bodo Rame-
low (Linke) ausgeschlossen, aber alle ge-
hen davon aus, dass er am Ende gewählt
sein wird, Kooperationsverbot hin oder
her. Schließlich ist in der Wahlkabine jeder
Abgeordnete nur seinem Gewissen ver-
pflichtet. Vier Stimmen fehlen Rot-Rot-
Grün und Ramelow zur absoluten Mehr-
heit. Thüringens Ex-Regierungschef ist zu-
versichtlich, dass er diese schon im ersten
Wahlgang bekommt.
Sollten Dammbrüche, Beben und sonsti-
ge Katastrophen diesmal ausbleiben, steht
der Thüringer CDU eine weitere Richtungs-
entscheidung bevor. Mitte April will sich
der Landesvorstand auf einem Parteitag er-
neuern. Als Favorit gilt Mohrings bisheri-
ger Stellvertreter, der geschasste Ostbeauf-
tragte Christian Hirte. Nach der Minister-
präsidentenwahl gratulierte er Thomas
Kemmerich öffentlichkeitswirksam, wor-
aufhin die Kanzlerin ein Machtwort
sprach. Seine Wahl wäre erneut eine deutli-
che Botschaft in Richtung Berlin: Ihr könnt
uns nicht reinreden und gernhaben sowie-
so. Aber die Thüringer CDU wäre nicht die
Thüringer CDU, gäbe es nicht längst Ge-
rüchte, Mohring habe Hirtes Abgang min-
destens beschleunigt. Der Verdächtigte de-
mentiert in Apolda: „Wenn ich so viel Ein-
fluss hätte, würde ich die Kanzlerin anru-
fen und ihr noch ein paar Namen nennen,
die ausgetauscht werden sollen.“ Und
mehr muss man wohl gar nicht wissen
über den Stand der Einheit in der CDU.
Wie aber tickt die Partei abseits des poli-
tischen Epizentrums? Ausflug in den östli-
chen Zipfel Thüringens, nach Altenburg,
113 Kilometer von Erfurt entfernt. Im Rat-
haus sitzt André Neumann in einem knar-
zenden Sessel; er hat ihn von seinem SPD-
Vorgänger geerbt. Im Bilderrahmen auf
dem Schreibtisch klemmt nicht etwa ein
Familienfoto, sondern eine Karte, auf der
steht: „Was moralisch falsch ist, kann nicht
politisch richtig sein.“

Die CDU stellt in Thüringen zwei Ober-
bürgermeister, Neumann ist einer davon,
seit 20 Jahren Christdemokrat. Auch er
spricht von Verantwortung, aber anders
als viele seiner Kollegen: „Schon nach der
verlorenen Wahl hätte sich die CDU-Füh-
rung eingestehen müssen, dass sie Fehler
gemacht hat. Stattdessen sind alle anderen
schuld. Das zieht sich bis heute durch.“
Anfang Februar, kurz vor der Minister-
präsidentenwahl, appellierte Neumann via
Twitter an die CDU-Fraktion, sich durch
Stimmenthaltung von der AfD abzugren-
zen. „Unterstützen wir R2G! Für Thürin-
gen!“, schrieb er. In einem Radio-Interview
teilte Neumann jüngst seine Fassungslosig-
keit über die Wahl Thomas Kemmerichs.
Danach habe ihn in Altenburg eine ältere
Dame umarmt, mitten auf der Straße:
„Bleiben Sie so klar.“
Nun sind die politischen Verhältnisse
im Altenburger Stadtrat andere als im Er-
furter Landtag. Die CDU ist stärkste Frakti-
on, die AfD bei der letzten Wahl gar nicht
erst angetreten. Neumann tippt auf das
Skizzenblatt vor sich: Das Residenzschloss
ist eingezeichnet, ein Springbrunnen, Ska-
teboardrampen. Es ist der Zehnjahresplan
für Altenburg. Die Stadt soll einen Mehrge-
nerationenpark bekommen, mehr Müllei-
mer, einen Bürgerwald. Neumann träumt
von der Landesgartenschau. Es seien vor al-
lem rot-rot-grüne Minister und Staatsse-
kretäre gewesen, die ihm beim Anschieben
der Vorhaben geholfen hätten, sagt er. „Es
war einfacher, mit denen einen Termin zu
vereinbaren, als bei meinem eigenen Frak-
tionsvorstand.“
André Neumann zieht sein Handy aus
der Tasche, zeigt ein Foto: Der Oberbürger-
meister und ein Stadtrat der Linken spie-
len Tischfußball – miteinander, nicht ge-
geneinander. „Den soll ich jetzt als Mauer-
mörder, als Linksextremisten bezeich-
nen?“, fragt Neumann. „Der will keinen So-
zialismus – der will das gleiche wie ich.“
Zum Beispiel, dass endlich wieder regiert
wird in Erfurt.

Leipzig– Der SPD-Politiker Burkhard
Jung (SPD) hat die Oberbürgermeister-
wahl in Leipzig gewonnen. Der lang jäh-
rige Rathauschef setzte sich am Sonn-
tag im zweiten Wahlgang knapp mit
49,1 Prozent vor dem CDU-Bewerber,
Sachsens Wissenschaftsminister Sebas-
tian Gemkow (47,6 Prozent), und Ute
Elisabeth Gabelmann (3,3 Prozent)
durch. Der 61-jährige Jung ist seit 2006
im Amt und steht nun vor seiner dritten
Amtszeit in Sachsens größter Stadt. Im
ersten Wahlgang am 2. Februar hatte
Jung überraschend knapp hinter Gem-
kow gelegen. dpa


Dresden– Nach dem Rücktritt des
bisherigen Amtsinhabers Carsten Rent-
zing im Oktober haben die evangeli-
schen Christen in Sachsen einen neuen
Bischof: Das Kirchenparlament wählte
Oberlandeskirchenrat Tobias Bilz am
Samstag in Dresden für zwölf Jahre an
die Spitze der Evangelisch-Lutheri-
schen Landeskirche Sachsen. Der
55-Jährige setzte sich im dritten Wahl-
gang mit klarer Mehrheit durch. Bilz
erhielt 48 der abgegebenen 79 Stim-
men. Für die Plauener Superintenden-
tin Ulrike Weyer votierten 16 Synodale,


für den Meißner Dompfarrer Andreas
Beuchel 15. Bilz soll am 25. April in der
Dresdner Kreuzkirche in sein Amt einge-
führt werden.„Ich denke, mit dem deut-
lichen Ergebnis wollte die Synode auch
ein Zeichen der Einheit setzen“, kom-
mentierte Bilz (FOTO: DPA) seine Wahl. Sein
Vorgänger Rentzing war zurückgetre-
ten, als rechtskonservative und demo-
kratiefeindliche Texte aus seiner Studi-
enzeit bekanntgeworden waren. kna


Abschied vom Wetterhahn


Nach dembesiegelten Rücktritt von Mike Mohring steht die Thüringer CDU vor einer Richtungsentscheidung:
Es geht um eine neue Führung – und darum, ob sie den Linken Bodo Ramelow zum Ministerpräsidenten wählt

Berlin- Acht Bundestagsabgeordnete
der Linksfraktion haben mit einer Straf-
anzeige gegen Bundeskanzlerin Angela
Merkel (CDU) einen neuen innerparteili-
chen Streit ausgelöst. In der am Freitag
beim Generalbundesanwalt eingereich-
ten Anzeige werden Merkel und weite-
ren Mitgliedern der Bundesregierung
„Beihilfe zum Mord“ vorgeworfen. Nach
Überzeugung der acht Abgeordneten ist
die Tötung des iranischen Generals
Qassim Soleimani Anfang des Jahres
durch eine US-Drohne auch auf deut-
schem Staatsgebiet koordiniert worden



  • auf dem US-Luftwaffenstützpunkt in
    Ramstein. Parteichefin Katja Kipping
    betonte, es handle sich ausdrücklich
    nicht um eine Klage der Linken. Sie sei
    weder mit der Fraktions- noch mit der
    Parteispitze abgestimmt gewesen. Jan
    Korte, Parlamentarischer Geschäftsfüh-
    rer der Bundestagsfraktion, teilte mit:
    „Ich hätte mit Sicherheit nicht zuge-
    stimmt. Die nächste Fraktionssitzung
    dauert dann wohl wieder mal länger.“
    Die Sache ist für die Linke auch deshalb
    heikel, weil hinter der Anzeige auch drei
    Mitglieder des Fraktionsvorstandes
    stehen: Heike Hänsel, Andrej Hunko
    und Hubertus Zdebel.bohe  Seite 4


Karlsruhe– Vertreter mehrerer Fami-
lien mit Kleinkindern haben am Sonn-
tag beim Bundesverfassungsgericht in
Karlsruhe Eilanträge und Verfassungs-
beschwerden gegen das Gesetz zur
Masern-Impfpflicht abgegeben. Sie
wenden sich nach eigenen Angaben
nicht gegen die Impfungen an sich,
sondern gegen den Zwang, der eine
selbstbestimmte Entscheidung auf
Basis „sachgerechter, unabhängiger
und neutraler Informationen“ nicht
mehr zulasse. „Wir sehen das Grund-
recht auf körperliche Unversehrtheit
der Kinder, das Erziehungsrecht der
Eltern und Gleichheitsgrundsätze ver-
letzt“, sagte Stephan Rixen, einer ihrer
Verfahrensbevollmächtigten. Zum stär-
keren Schutz vor ansteckenden Masern
gilt seit diesem Sonntag Impfpflicht für
Kinder in Kitas und Schulen. Eltern
müssen nun vor der Aufnahme nachwei-
sen, dass ihre Kinder geimpft sind.
dpa Schule und Hochschule


Bremen– Bei der Fatih-Moschee in
Bremen ist am Samstag ein Briefum-
schlag mit einer pulverartigen Substanz
eingegangen. Beigefügt war ein Schrei-
ben mit rechtsextremistischem Inhalt,
wie die Polizei mitteilte. Ein Sprecher
der Islamischen Föderation Bremen
sprach von einem „Hassbrief“ und von
einer „rassistischen und islamophoben
Bedrohung“. Spezialisten der Polizei
untersuchten das Pulver und gaben
schließlich Entwarnung: Die Substanz
stellte sich als ungefährlich heraus.
Laut Polizei wurden in den vergange-
nen Wochen in Bremen bereits mehrere
Pulverbriefe an Parteibüros oder Abge-
ordnete der gesandt. Die Fatih-Moschee
im Stadtteil Gröpelingen gilt als dritt-
größte Moschee in Deutschland. epd


Tel Aviv– Nervosität merkt man dem nord-
rhein-westfälischen Ministerpräsidenten
Armin Laschet an bei seinem ersten Aus-
landsbesuch nach der Bekanntgabe seiner
Kandidatur für den CDU-Vorsitz. Ausge-
rechnet nach Israel führt die Reise, die zur
Eröffnung der Repräsentanz seines Bun-
deslandes schon länger geplant war. In Is-
rael wird jeder Schritt eines deutschen Poli-
tikers genau beobachtet – erst recht von je-
mandem, der ins Kanzleramt in Berlin ein-
ziehen möchte. 23 Journalisten sind aus
Deutschland mitgereist, einige haben sich
erst nach Laschets Kandidatur angemel-
det. Auch Fotografen aus Israel begleiten
ihn am Sonntag bei seinem Besuch der Ho-
locaust-Gedenkstätte Yad Vashem und in
der Präsidentschaftskanzlei in Jerusalem.

Dass ein Landespolitiker beim Präsiden-
ten einen Termin bekommt, ist keine
Selbstverständlichkeit. Als „großen
Freund Israels“ und „eine der wichtigsten
und vielversprechendsten Persönlichkei-
ten der CDU in Deutschland“ begrüßt ihn
Reuven Rivlin. Laschet rutscht auf seinem
Stuhl herum, knetet seine Hände und be-
dankt sich kurz auf Englisch, um auf
Deutsch fortzufahren. Wie schon in Yad Va-
shem sagt er, es dürfe „nie wieder Antisemi-
tismus, Rassismus und Diskriminierung“
geben. Laschet weiß,jeder Satz muss sit-
zen. Er erwähnt die Anschläge von Hanau
und Halle nicht direkt, verweist aber dar-
auf, dass es erneut Antisemitismus und
rechte Gewalt in Deutschland gebe. Dann
sagt er einen Satz, der in dieser frei vorge-
tragenen kurzen Rede wohl vorbereitet ist:
„Ich schäme mich, dass wir das in Deutsch-
land 75 Jahre nach der Befreiung von
Auschwitz wieder erleben.“
Zwei Sätze später kommt er auf die zen-
tralen Worte von Kanzlerin Angela Merkel
in ihrer Rede vor der Knesset 2008 zu spre-
chen: von der Sicherheit Israels, die zur
deutschen Staatsräson gehöre. Am Mor-
gen hatte Botschafterin Susanne Wasum-
Rainer der Delegation erklärt, dass diesen
Satz fast jeder in Israel kenne und man auf-
merksam verfolge, wer nun Merkel nach-
folge. Laschet bekennt sich ausdrücklich
zu diesem Satz und erweitert ihn noch:
„Staatsräson ist auch, die Sicherheit von
Juden in Deutschland zu garantieren.“ Mit
seinem Besuch wolle er auch signalisieren:
„In Deutschland gibt es einen starken
Staat, eine starke Zivilgesellschaft, die
Rassismus, Antisemitismus und Diskrimi-
nierung bekämpfen wird.“ Zum Abschluss
erklärt er, die Zukunft liege in der Zusam-
menarbeit – um einen Satz auf Englisch zu
sagen: „This is the future of our nation for
our young people to create a new relation-
ship between Israel and Germany.“
Im Gespräch mit Journalisten sagt La-
schet später, Rivlin habe sich mit Sorge
nach der AfD erkundigt. Er habe ihm versi-
chert: „Wir wollen nie mit Stimmen der
AfD in Regierungsfunktionen kommen.“
Mit diesem ersten Auftritt versucht
Laschet, im Wettbewerb mit dem erfahre-
nen Wirtschaftsexperten Friedrich Merz
und Norbert Röttgen, dem Chef des Aus-
wärtigen Ausschusses im Bundestag, in
der Außenpolitik Profil zu gewinnen.
Als Politiker weiß Laschet, wie man his-
torische Momente in der Gegenwart für
die Zukunft nutzt: Kurzfristig lud Laschet
den gleichnamigen Enkel des deutschen
Kanzlers Konrad Adenauer ein, ihn zu be-
gleiten. Er arrangierte in Tel Aviv ein Tref-
fen mit dem Enkel von Israels Staatsgrün-
der David Ben Gurion, Moshe Ben Eliezer.
Dieses Treffen sollte an die erste
Begegnung von Ben Gurion und Adenauer
am 14. März 1960 in New York erinnern, die
den Grundstein zur Aussöhnung beider
Länder legte. Damit wollte sich Laschet in
Israel wohl auch als Brückenbauer in
Deutschlands CDU positionieren.
alexandra föderl-schmid

Berlin– Die SPD will wieder mehr Geld in
die Flüchtlingshilfe stecken. Der im Som-
mer 2019 zwischen Bund und Ländern ver-
einbarte schrittweise Rückzug des Bundes
aus der Finanzierung sei „der falsche
Weg“, heißt es in einem Positionspapier
mit dem Titel „Ein nationaler Pakt für das
Zusammenleben in Deutschland“. Die Füh-
rungsgremien der SPD wollen am Montag
über das Papier beraten, das derSüddeut-
schen Zeitungvorliegt. Es gewinnt durch
die Ankündigung Ankaras vom Wochen-
ende, die Grenzen für Flüchtlinge in Rich-
tung der EU zu öffnen, weitere aktuelle
Bedeutung. Außerdem hat Regierungs-
chefin Angela Merkel (CDU) für diesen
Montag zum Integrationsgipfel ins Kanz-
leramt eingeladen.
Im vergangenen Jahr unterstützte der
Bund die Länder bei den Flüchtlingskosten
noch mit etwa 4,7 Milliarden Euro. Dieser
Betrag soll auf 3,35 Milliarden Euro in
diesem Jahr und 3,15 Milliarden Euro 2021
sinken. Finanzminister Olaf Scholz hatte
damit argumentiert, dass weniger Flücht-
linge nach Deutschland kämen. Ende 2019
sollten mehrere Regelungen der Kosten-
übernahme für Flüchtlinge auslaufen.
In dem Positionspapier, das unter Feder-
führung des niedersächsischen Innen-
ministers Boris Pistorius (SPD) entstanden
ist, heißt es nun: „Integration braucht
einen langen Atem.“ Zugleich müsse sich

Deutschland „schon heute auf die Ankunft
und Betreuung weiterer Flüchtlinge in den
kommenden Jahren einstellen“.
Die nach der Flüchtlingskrise 2015 ge-
schaffenen Strukturen müssten erhalten
bleiben, dazu sei ein „langfristiger natio-
naler Kraftakt erforderlich“. „Es gilt als völ-

lig unstrittig, dass Integration frühestens
nach zehn Jahren gelingt, die Zuwandern-
den seit 2015 also noch eine Wegstrecke
vor sich haben“, heißt es weiter in dem Pa-
pier. Derzeit versuchten die Länder, die zu-
rückgefahrenen Bundeshilfen teilweise zu
kompensieren. „Eine Dauerlösung ist das

nicht.“ Schuldenbremse und wirtschaftli-
che Unsicherheit begrenzten die
finanziellen Möglichkeiten.
Das Positionspapier befasst sich zudem
mit dem Kampf gegen Rassismus und Ex-
tremismus. Es nimmt die Forderung nach
einem Demokratiefördergesetz auf, mit
dem es möglich sein soll, Projekte und
Programme, die die Demokratie stärken,
dauerhaft zu finanzieren. Gegen Hass und
Hetze im Internet soll entschiedener vor-
gegangen werden.

Vor dem Integrationsgipfel am Montag
im Kanzleramt fordern SPD und Grüne
außerdem einen Rassismusbeauftragten
für die Bundesregierung. Diese brauche
„einen eigenen Rassismusbeauftragten,
als unabhängige Stelle, mit eigenen Res-
sourcen ausgestattet“, sagte die stellver-
tretende SPD-Vorsitzende Serpil Midyatli
dem BerlinerTagesspiegel. Auch Grünen-
Fraktionschefin Katrin Göring-Eckardt
rief die Regierung dazu auf, den Kampf ge-
gen Rassismus zu verstärken. „Wir fordern
einen Rassismusbeauftragten der Bundes-
regierung“, sagte sie den Zeitungen der
Funke-Mediengruppe.

Innenminister Horst Seehofer (CSU) will
eine unabhängige Expertengruppe gegen
Islamfeindlichkeit ins Leben rufen. „Hass-
prävention und Förderung der Demokra-
tie werden jetzt im Bundesinnenministeri-
um weiter gestärkt“, teilte Seehofer am
Samstag mit. Die Arbeit des „Unabhängi-
gen Expertenkreises Islamfeindlichkeit“
sei dabei auf mehrere Jahre angelegt. „Er
soll aktuelle und sich wandelnde Erschei-
nungsformen von Muslim- und Islam-
feindlichkeit eingehend analysieren“, sag-
te Seehofer. Außerdem sollen Schnittmen-
gen mit antisemitischen Haltungen unter-
sucht werden. Dies solle in einen Bericht
münden, der Empfehlungen für den
Kampf gegen antimuslimischen Hass und
islamfeindliche Ausgrenzung gebe.
Nach den rassistisch motivierten Mor-
den von Hanau hat auch Merkel dazu auf-
gerufen, Rechtsextremismus und Hass ent-
schieden entgegenzutreten. In ihrer am
Samstag veröffentlichten wöchentlichen
Video-Botschaft sagte sie, nach den Mor-
den in Hanau müsse man konstatieren,
dass es Gruppen in unserer Gesellschaft
gebe, die sich im Augenblick nicht sicher
fühlten. „Die Sicherheit aller Menschen in
Deutschland zu gewährleisten, ist unsere
oberste Aufgabe“, sagte die Kanzlerin.
Beim elften Integrationsgipfel wird es laut
Kanzleramt ebenfalls um die jüngsten An-
schläge gehen. mike szymanski

Beim politischen Aschermittwoch in Apolda beschwört Thüringens CDU-Landeschef Mike Mohring Geschlossenheit und Verantwortungsbewusstsein. FOTO:SCHUTT/DPA

DEFGH Nr. 51, Montag, 2. März 2020 (^) POLITIK HMG 5
Seehofer beruft Expertengruppe,
die Gründe für Islamfeindlichkeit
analysieren soll
Laschet hatte auch den
Enkel von Konrad Adenauer
zur Mitreise eingeladen
Nach dem Anschlag von Hanau will Innenminister Horst Seehofer, hier im Gespräch
mitHanauer Bürgern, antimuslimischen Hass besser bekämpfen. FOTO: LOHNES / AFP
Ein Favorit als neuer Parteichef
ist der von Merkel geschasste
Ostbeauftragte Christian Hirte
Jung bleibt OB in Leipzig
Linke streitet über Anzeige
Neuer Bischof in Sachsen
Klagegegen Impfpflicht
Moschee erhält Drohbrief
Im Wortlaut
der Kanzlerin
Armin Laschet will auf Israel-Reise
außenpolitisches Profil gewinnen
INLAND
„Nationaler Kraftakt erforderlich“
Die SPDfordert in einem Positionspapier vom Bund, mehr Geld in die Flüchtlingshilfe zu stecken – und ein entschiedenes Vorgehen gegen Rassismus

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