Süddeutsche Zeitung - 02.03.2020

(Nora) #1
Schon der erste Satz führt in die Irre. „Die
Künstliche Intelligenz entwickelt sich
schnell“, heißt es in einem Mitte Februar
veröffentlichten Weißbuch, in dem die EU-
Kommission Strategien zur Förderung
und gleichzeitigen Regulierung der Tech-
nologie vorgelegt hat. Neben den üblichen
fabelhaften Versprechungen von besserer
Medizin, effizienterer Landwirtschaft und
natürlich auch der Lösung der Klimakrise,
wird die zitierte Kernaussage nicht weiter
infrage gestellt oder relativiert.
KI-Experten stöhnten daraufhin auf,
vielleicht weil sie der Satz an eine unbeque-
me Wahrheit erinnerte. Denn auf dem Be-
reich der künstlichen Intelligenz werden
momentan hauptsächlich deshalb so viele
Fortschritte erzielt, weil immer größere
Rechnerkapazitäten auf die zu lösenden
Probleme angesetzt werden.Brute-For-
cingnennt man das im IT-Fachjargon. Das
Problem daran ist, dass diese Methode
schrecklich ineffizient und unelegant ist.
Ein Beweis dafür: Ein einzelnes KI-Modell
neu auf ein neues Problem anzusetzen,
sorgt inzwischen für den ungefähr glei-
chen CO2-Ausstoß wie der Betrieb von fünf
Pkw.
Ganz anders als das EU-Papier klingt
der KI-Experte Gary Marcus in einem aktu-
ellen Paper, in dem er die Entwicklungen
von künstlicher Intelligenz innerhalb der
nächsten Jahre skizziert. „Deep Learning
Technologien haben sich bisher als daten-
hungrig, seicht und spröde erwiesen und
sind limitiert in ihrer Fähigkeit zu generali-
sieren“, schreibt er dort. Das bedeutet: Auf
Situationen, für die sie nicht trainiert
wurde, reagiert KI-Software, nun ja, eher
unsouverän: Als Mitarbeiter des IT-Sicher-
heitskonzerns McAfee ein etwa vier Zenti-
meter langes Stück schwarzes Klebeband
auf einem Verkehrsschild anbrachten,
reagierte der vermeintlich intelligente
Autopilot eines Tesla, indem er 50 Meilen
pro Stunde beschleunigte.
Auch andere Methoden, die in der brei-
ten Öffentlichkeit entweder zu Begeiste-
rung oder zu Angst vor dem Aufstand der
Maschinen führen, kämpfen mit Proble-
men. Reinforcement Learning, also bestär-
kendes Lernen, ist beispielsweise nichts
weiter als Trial and Error auf Steroiden.
Nach diesem Konzept funktioniert etwa
die von der Alphabet-Tochter Deep Mind
entwickelte Go-Software, die seit einigen
Jahren sämtlichen menschlichen Profis
das Fürchten lehrt. Das besagt allerdings
noch lange nicht, dass die gleiche Software
ein anderes Spiel spielen könnte, ja über-
haupt versteht, was ein Spiel eigentlich ist.
Die Programme müssen jedes Mal alles
aufs Neue lernen.
Hier wie dort besteht das Problem dar-
in, dass heutige KIs zwar enorm gut darin
sind, Korrelationen zu erkennen, aber
keine Ahnung von Ursache und Wirkung
haben. Es gilt also, kausale Beweise in
mathematische Formeln zu übersetzen.
Genau daran arbeitet seit einiger Zeit eine
neue Arbeitsgruppe an der New Yorker Co-
lumbia University. Das sollte lieber schnell
gehen. Denn schon fürchtet man sich in
eingeweihten Kreisen vor einem neuen
„KI-Winter“, also einer Phase, in der die
Begeisterung für die Technologie reichlich
abkühlt. Das war schon mal der Fall. Noch
bis vor wenigen Jahren gab es für an-
gehende Computerwissenschaftler keinen
sichereren Weg, ihrer Karriere einen mut-
willigen Todesstoß zu versetzen, als auf
dem Feld der künstlichen Intelligenz zu
forschen. michael moorstedt

Dumm wie Bot


Ist KI doch nur datenhungrig,
seicht und spröde?

Die Ausstellung „Masterpieces from the
National Gallery“ in Tokio wird vorerst
nicht eröffnet. Das japanische Kulturminis-
terium hat wegen der Ausbreitung des
Corona-Virus eine Schließung aller na-
tionalen Museen für die nächsten zwei Wo-
chen verfügt. Die Ausstellung, so teilte die
National Gallery in London mit, sollte am


  1. März im Nationalmuseum eröffnen.
    Wegen der Quarantäne–Maßnahme wer-
    den mehr als sechzig bedeutende Werke
    aus der britischen Kollektion vorerst nicht
    gezeigt, darunter auch eine Version von
    Vincent van Goghs „Sonnenblumen“, die
    erstmals Europa verlassen durfte. Zudem
    muss das Museum zehntausende von
    Eintrittskarten ersetzen, die bereits im
    Vorfeld der Schau verkauft wurden. lorc


von gustav seibt

D


ie Entscheidung des Bundesver-
fassungsgerichts zur Selbsttötung
wurde überwiegend als Freigabe
oder Erlaubnis zur „Sterbehilfe“ aufge-
nommen. Dabei vermeidet das Gericht
gerade dieses Wort in seinen Leitsätzen. Es
spricht stattdessen durchgehend von
„Suizidhilfe“, „Förderung der Selbsttö-
tung“ oder „Hilfe zur Selbsttötung“.
Worin liegt der Unterschied? Läuft es
nicht so oder so aufs Sterben hinaus?
Worin sonst sollte der Sinn des Suizids be-
stehen? Das stimmt, und doch verteilen
die beiden Worte das Gewicht unterschied-
lich. Die „Sterbehilfe“ nimmt das Handeln
des Arztes in den Blick, sie macht den
Sterbewilligen zum Empfänger dieses
Tuns. Bei der „Suizidhilfe“ rücken der Wil-
le und das Agieren dessen, dem geholfen
werden soll, in den Vordergrund. Denn ei-
nen Suizid kann man nur selbst begehen.
Gestorben wird auf vielfache Weise.
Man stirbt im Schlaf, aus Erschöpfung
oder Krankheit, unbewusst im Koma, als
Opfer einer Gewalttat, in wilden Abwehr-
kämpfen oder friedlich und gefasst. Ster-
ben müssen alle Lebewesen, auch solche,
die nicht fähig sind, darüber Entschei-


dungen zu treffen. Das Sterben ist bei
Menschen gewiss immer auch ein sozialer
Vorgang, darauf hat der Historiker Arno
Borst energisch hingewiesen – auch der
Vereinsamte, Alleingelassene hat eben als
solcher immer noch eine Position in der
Gesellschaft.

Die Karlsruher Richter nun stellen alles
auf das Individuum und dessen Selbstbe-
stimmung ab. In immer neuen Variationen
betonen sie „die Freiheit, sich das Leben zu
nehmen“ als „Ausdruck persönlicher Auto-
nomie“. (...) „Die in Wahrnehmung dieses
Rechts getroffene Entscheidung des Einzel-
nen, seinem Leben entsprechend seinem
Verständnis von Lebensqualität und Sinn-
haftigkeit der eigenen Existenz ein Ende
zu setzen, ist im Ausgangspunkt als Akt
autonomer Selbstbestimmung von Staat
und Gesellschaft zu respektieren.“ Sie sei
ein „wenngleich letzter Ausdruck von
Würde“, der auch nicht von „Überlegungen
objektiver Vernünftigkeit“ eingeschränkt
werden dürfe. Absolut und unbelangbar

scheint dem Gericht dieses Recht zur
Selbstbestimmung.
Es gibt also eine „Freiheit zum Suizid“ –
so wird sie wörtlich genannt –, die nicht an
äußere Bedingungen wie Alter oder schwe-
re Krankheit gebunden sein darf. Der
wuchtigste Satz des Gerichts lautet: „Das
allgemeine Persönlichkeitsrecht gewähr-
leistet das Recht, selbstbestimmt die Ent-
scheidung zu treffen, sein Leben eigenhän-
dig bewusst und gewollt zu beenden.“
Eigenhändig, bewusst, gewollt: Mit dieser
adverbialen Kaskade wird der Sterbe-
willige ins Zentrum gerückt und der
Helfer, der ihm beisteht, an den Rand
geschoben.
Eine solche Umschreibung von Autono-
mie errichtet zugleich ein entschiedenes
Stoppschild für jene Perversionen der Ster-
behilfe, in der allmächtige Mediziner oder
auch nur Verwaltungsapparate willkürlich
über lebenswertes oder lebensunwertes
Leben entscheiden. Das grundgesetzlich
im Persönlichkeitsrecht verankerte Recht
auf Suizid unterscheidet sich damit
grundsätzlich von sozialhygienischen
Formen der Euthanasie, bei der Mitleid
oder Nützlichkeit zum Deckmantel für
Massenmord wurde. Solche Euthanasie
war ein Ausfluss ärztlicher Allmachts-

anmaßung, die nach eigenen, scheinbar
objektiven Kriterien über das Wohl der
Kranken und Leidenden, der Belasteten
und für die Gesellschaft der Gesunden
Lästigen entscheiden wollte.
Götz Aly, der Pionier der Erforschung
des nationalsozialistischen Massenmords
an Kranken, nennt Sterbehilfe eine „Idee
der säkularisierten Welt“. Sie fand, wie Aly
zeigt, auch Anklang bei sozialistischen Lai-
zisten, während es vor allem katholische
Christen waren, die ihr konsequent wider-
standen. So verstandene Euthanasie war

Teil der Tendenzen des 20. Jahrhunderts
zu sozialer Hygiene und Volksgesundheit,
zu Globalsteuerung von Gesellschaften,
eine der vielen Fantasien der Reinigung.
Niemand kann leugnen, dass solche Bestre-
bungen auch heute noch weiterleben, etwa
im Zeichen von individueller Optimierung
und genetischer Vorsorge.
Umso wichtiger ist der Karlsruher
Kriterienkatalog mit „eigenhändig, be-
wusst und gewollt“. Suizidhilfe darf keine

passiv entgegenzunehmende Sterbehilfe
werden, sie muss die Bedingungen von Au-
tonomie voraussetzen. Darum räumt das
Verfassungsgericht, nachdem es das bishe-
rige so gut wie lückenlose Verbot der Hilfe
zum Suizid beseitigt hat, dem Gesetzgeber
doch einen breiten Raum zu neuer Rege-
lung ein. Selbsttötung sollte eben nicht Fol-
ge äußerer Umstände wie schlechter Pfle-
ge oder mangelnder Schmerzlinderung
sein. Die Palliativmediziner, die sich nun
so lautstark über das Urteil beklagen, ha-
ben von ihm eine entscheidende Aufgabe
zugewiesen bekommen: Sie sollten durch
ihr barmherziges Handeln jene Freiheit
zum Suizid sichern, die ihre Inanspruch-
nahme im besten Fall überflüssig macht.
Es geht dem Gericht beim Recht auf
Selbsttötung also um die schiere Möglich-
keit, sich das Leben zu nehmen. „Hier ist“,
so schreibt es, „bereits die individuelle
Gewissheit identitätsstiftend, tatsächlich
eigener Vorstellung entsprechend handeln
zu können.“ Und also nicht zu müssen, weil
schon die Existenz eines Notausgangs das
Leid erträglicher macht.
Dass dieser komplexe, ganz auf Auto-
nomie abgestellte Begriff von Freiheit im
Kern tief unchristlich ist, das lässt sich
nicht leugnen.

Der Knaller kam zum Schluss. Als Moham-
mad Rasoulofs „There is No Evil“ am
Freitag als letzter Film im Wettbewerb der



  1. Berlinale gelaufen war, konnte man im
    Saal spüren, dass viele im Publikum sich
    sicher waren, nun den Siegerfilm gesehen
    zu haben. Denn der iranische Film „There
    is No Evil“ hat ein paar ganz großartige
    Szenen. Obwohl – oder weil – es in allen
    vier Episoden um Hinrichtungen geht.
    Einen Henker sieht man, der tagsüber
    ein seltsam stoischer, liebevoller Familien-
    vater ist und nachts, auf dem Weg zur Ar-
    beit, in seinem stehenden Auto vor der grü-
    nen Ampel sitzt, als sei er lange schon gar
    nicht mehr richtig da. Einen Soldaten, der
    meutert, als er während seines Wehrdiens-
    tes eine Hinrichtung vollstrecken soll – als
    er mit seiner Verlobten durch die Nacht
    flüchtet, lachen die beiden, und man könn-
    te einen Augenblick lang tatsächlich mei-
    nen, sie glaubten, ihnen gelänge die
    Flucht. Aber dann singen sie mit, während
    das alte italienische Partisanenlied „Bella
    Ciao“ erklingt, das lange nicht so fröhlich
    ist, wie es klingt: Und falls ich in den Ber-
    gen sterbe, dann musst du mich begraben.
    Bella ciao, ciao, ciao.
    Mohammad Rasoulof konnte dann den
    Goldenen Bären nicht entgegennehmen,
    mit dem der Film am Samstagabend aus-
    gezeichnet wurde. Seine Tochter, die in
    Hamburg lebt und in der letzten Episode
    mitspielt, musste das übernehmen, denn
    reisen darf Rasoulof schon seit Jahren
    nicht mehr. Ein iranischer Film über die
    Todesstrafe? Es kommt einem nicht so vor,
    als sei das Kulturministerium in Teheran
    von so einem Projekt begeistert; es ist ande-
    rerseits naheliegend, denn Iran gehört zu
    den Ländern, wo am häufigsten die Todes-
    strafe verhängt wird.


Es gab schon auch noch andere Favori-
ten bei der Berlinale. Eliza Hittmans Ab-
treibungsdrama „Never Rarely Sometimes
Always“ beispielsweise, das dann auch
tatsächlich mit dem Großen Preis der Jury
ausgezeichnet wurde. Die Darstellerpreise
gingen an Paula Beer für die irdische Nym-
phe „Undine“, die sie für Christian Petzold
gespielt hat und an Elio Germano, der in
„Hidden Away“ sehr eindringlich den Ma-
ler Antonio Ligabue spielte. Den Kamera-
mann Jürgen Jürges zeichnete die Jury –
Präsident war der britische Schauspieler
Jeremy Irons – für „DAU. Natasha“ aus,
und an der Kamera dieses ansonsten eher
prätentiösen, leeren Films war tatsächlich
nichts auszusetzen.

Als bester Regisseur wurde Hong Sang-
soo für „Die Frau, die rannte“ ausgezeich-
net – das war der einzige Film in diesem
Jahr, der Szenenapplaus bekam: für den
Auftritt einer Katze, die die sehr korea-
nisch-höfliche Abfuhr, die ihre Besitzerin-
nen einem katzenhassenden Nachbarn
erteilen, mit schief gelegtem Köpfchen ver-
folgt. Ob „Die Frau, die rannte“ nun wirk-
lich zu den besten Filmen des Festivals
gehörte, darüber kann man zumindest
streiten; genauso wie über den Preis für
das beste Drehbuch für den italienischen
Film „Favolacce“ über suizidale Kinder.
Ist es nun eine rein politische Entschei-
dung, Rasoulofs Film mit dem Goldenen
Bären auszuzeichnen? „There is No Evil“
ist auch so gut genug. Als Jafar Panahi 2015
mit „Taxi Teheran“ gewann, gab es eine

ähnliche Debatte. Nun kann man sagen,
dass „Taxi Teheran“ zwar clever ist, aber
nun einmal so aussieht, als sei er im Auto
mit einer Dashboard-Kamera gedreht.
Aber so hatte Panahi den Film ja auch ge-
macht, womit er trickreich umging, dass er
in Iran eigentlich weder Regie führen darf,
noch Drehbücher schreiben. „There is No
Evil“ ist kunstvoll verwoben. Man meint
ein paar Mal, die Episoden seien zusam-
menhängend, aber das ist nur so, um die
Allgemeingültigkeit von Rasoulofs Argu-
mentation zu unterstreichen. Und dass der
Film möglicherweise sehr auf seine These
hin konstruiert ist, kann man ihm nicht vor-
werfen: Dass der Bauplan einer Geschichte
sichtbar wird, hat im iranischen Kino seit
Abbas Kiarostami Tradition.
Es gibt natürlich durchaus politische
Gründe, Rasoulof auszuzeichnen, der bei
der Berlinale nicht dabei sein konnte: Ra-
soulof wurde gemeinsam mit Jafar Panahi
bei den Protesten zu den iranischen Präsi-
dentschaftswahlen 2009 verhaftet, er hat
Arbeitsverbot und hat gerade in der Beru-
fung gegen das Urteil verloren und soll für
ein Jahr in Haft. Er hat trotzdem immer
weitergemacht, war in der Zwischenzeit
sogar im Ausland und hat in Cannes 2017
seinen Film „A Man of Integrity“ vorge-
stellt. Und ist dann wieder nach Iran
zurückgeflogen. Denn dort, sagte er dem
Hollywood Reporter, sei er eben zu Hause.
„There is No Evil“, von Arte und der Film-
förderung Schleswig-Holstein koprodu-
ziert, hat er heimlich gedreht. Die Drehar-
beiten der einzelnen Episoden waren zwar
als Kurzfilm genehmigt, Rasoulof als Regis-
seur allerdings nicht. Was Rasoulof nun da-
für erwartet ist unklar. Er hat sich ziemlich
weit aus dem Fenster gelehnt. „There is No
Evil“ geht dafür aber eigentlich gar nicht

mit dem iranischen Regime an sich ins
Gericht – es geht um die Todesstrafe an
sich, nicht um die Exekution von Dissiden-
ten. Nur einer der Verurteilten im Film ist
ein politischer Häftling. Der desertierende
Soldat fragt den Mann, den er nicht hinrich-
ten wird sogar, wofür er verurteilt wurde,
aber er wartet nicht auf die Antwort. Rasou-
lofs Film lehnt die Todesstrafe ab, egal, um
was es dabei geht.

Was die Preise dann eben nicht abbilden,
das ist, was an diesem Berlinale-Wettbe-
werb anders war als sonst. Immerhin war
es ja der erste, den der neue künstlerische
Direktor Carlo Chatrian zusammengestellt
hat, der seit diesem Jahr gemeinsam mit
Mariette Rissenbeek die Berlinale leitet.
Und ein Bemühen um Filme mit sehr
eigenen künstlerischen Handschriften
war durchaus sichtbar – da war Tsai Ming-
liangs schweigsames Einsamkeits-Drama
„Days“, man sah viel Courage in „Berlin
Alexanderplatz“ von Burhan Qurbani,
der Döblins Roman auf das Berlin der
Gegenwart hinbog, leise Intensität und
lakonischen Humor bei Kelly Reichardt in
„First Cow“.
Dass die beiden amerikanischen Beiträ-
ge, sowohl „Never Rarely Sometimes Al-
ways“ als auch „First Cow“, schon vorab bei
anderen Festivals gezeigt worden waren,
hätte man Chatrians Vorgänger Dieter
Kosslick vielleicht um die Ohren gehauen.
Aber der Februar ist kein idealer Termin.
Früher einmal war das nicht so wichtig,
inzwischen werden viele Filme aber kurz

vorher lanciert, damit sie für die Preise für
nationale Preise infrage kommen, die sich
aufs Vorjahr beziehen. Vor allem aber: Die
Berlinale kann sich, Führungswechsel hin
oder her, nicht schlagartig in Cannes 2005
verwandeln. Wer das erwartet hat, hat die
Entwicklungen in der Filmbranche in den
letzten Jahre nicht mitbekommen.
Denn ein Festival kann keine Filme zei-
gen, die es nicht gibt. Es ist – das war zu
Kosslicks Anfangszeit als Berlinale-Chef
vor zwanzig Jahren noch anders – auch bei
anderen Festivals sichtbar, dass es um
jenen Teil des Kinos, für den sich Festivals
interessieren, nicht besonders gut bestellt
ist. Anders als früher kursierten beim Fes-
tival eben nicht lauter Filmtitel, die hätten
da sein sollen, dann aber fehlten. Und ob
Cannes und Venedig tatsächlich mit einem
Wettbewerb ohne Durchhänger aufwarten
können, bleibt abzuwarten.
Es ist nur eine Frage der Zeit, bis der Um-
stand, dass das Arthouse-Kino nur noch
sehr geringe Besucherzahlen erwirtschaf-
tet, auch auf die Produktion durchschlägt.
Und die goldenen Zeiten des amerikani-
schen Independent-Kinos, in denen Festi-
valmacher aus dem Vollen schöpfen konn-
ten, sind schon lange vorbei. Sollte ein Fes-
tival sich daran anpassen, indem es von
Vornherein auf das setzt, was Streaming-
dienste sich leisten, um ihr Prestige aufzu-
motzen? Sollten dort mittelmäßige Filme
laufen, nur weil Leute darin mitspielen, die
auf dem roten Teppich etwas hermachen?
Sicher nicht. Erst wenn es keine Regisseu-
re mehr gibt, die dem wirtschaftlichen Wi-
derstand trotzen und einfach ihr Ding
durchziehen, ist alles verloren. Bis dahin
kann man von Festivals erwarten, dass sie
fürs Kino kämpfen. Bella, ciao.
susan vahabzadeh

DEFGH Nr. 51, Montag, 2. März 2020 HF2 9


Ist der Goldene Bär für
Rasoulofs Film eine rein
politische Entscheidung?

Um den Teil des Kinos, für den
sich Festivals interessieren, ist
es nicht besonders gut bestellt

Das Recht auf Suizid unterscheidet
sich grundsätzlich von allen
Formen der Euthanasie

Suizidhilfe setzt immer
die Bedingungen
von Autonomie voraus

Feuilleton
Spanien distanziert sich
nach „Me Too“-Vorwürfen
von Plácido Domingo 10

Literatur
EinGespräch mit Steven Levy
über Facebook und die
Risiken sozialer Netzwerke 11

DasPolitische Buch
Ein Porträt von Jitzchak Rabin,
für den ein Nahost-Friede
nicht nur eine Vision war 13

 http://www.sz.de/kultur

Van Gogh in


Quarantäne


NETZKOLUMNE


Die Freiheit zum Suizid


Es gehtnicht um Sterbehilfe, sondern um Selbsttötung: Zum Urteil des Bundesverfassungsgerichts,


das den Sterbewilligen ins Zentrum rückt und die Helfer, die ihm beistehen, an den Rand schiebt


Szenenapplaus für eine Katze


Die 70. Berlinale feierte die künstlerische Handschrift. Siegerfilm ist „There is No Evil“ des Iraners Mohammad Rasoulof


FEUILLETON

HEUTE


Der Gewinner des Goldenen Bären, der Regisseur Mohammad Rasoulof, war bei der Preisverleihung über das Smartphone seiner Tochter Baran Rasoulof zugeschaltet. FOTO:ANNEGRET HILSE / REUTERS

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