Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.03.2020

(Steven Felgate) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 2.MÄRZ 2020·NR.52·SEITE 11


Eine Kaserne irgendwoimIran. Ein jun-
gerRekrut und ein ältererWachmann füh-
reneinen zumTode Verurteilten zur Hin-
richtung. DerRekrut blickt demTodge-
weihten immerwieder ins Gesicht. Vorei-
ner Toilett ebrichtervon Krämpfenge-
schüttelt zusammen. Der Wachmann
lässt ihn in eineKabine gehen, aberstatt
sichzu übergeben, liestder Rekrut hinter
der geschlossenenTürinaller Ruhe einen
Zettel. Als er wieder herauskommt,
nimmt er demWachmann blitzartig die
Waffeab, fesselt ihn mit Handschellen
und erkämpft sichseinenWegins Freie.
MohammadRasoulofs„Sheytanvojud
nadarad“ („Es gibtkein Böses“), aus dem
diese Szenestammt, lief amFreitag zum
Abschlussdes Wettbewerbs der Berliner
Filmfestspiele, und nochwährend de rVor-
führungwarklar,dassdieser Filmeinen
der Hauptpreise desFestivals gewinnen
würde. DennRasoulofsFilm, der in vier
Episodendie Auswirkungen derTodes-
strafe auf das Leben der Menschen im
Iran darstellt, besitzt neben seiner erzäh-
lerischen aucheine moralische Qualität,
die ihn über die allermeistenBeiträg edie-
ser Berlinale heraushebt:Erhat eine un-
bedingteLiebe zu allen seinenFiguren,
den Opfernwie denTätern,dem Henker
ebenso wie dem Deserteur,die in jedem
Augenblickspürbar ist, und dieses Mo-
mentvonHumanität gibt der Geschichte
auchanjenen Stellen Kontur,die in ande-
renFilmen als bloßeAbschweifung er-
scheinen würden.
Die Schönheit der persischen Bergland-
schaft, in der ein Liebespaar für immer
voneinanderAbschied nimmt,weil der
jungeSoldat denväterlichenFreund sei-
ner Verlobten hingerichtet hat, isthier äs-


thetischnotwendig, weil sie dieTrennung
nochbitterer macht, und der banaleFami-
lienalltag, den wir am Anfang desFilms
sehen,hat einen dramaturgischen Sinn,
denn er mündetineine Exekution.

Es is talso gut undrichtig, dass„Shey-
tan vojud nadarad“ den Goldenen Bären
dieser 70. Berlinalegewonnen hat, so wie
es für sichspricht, dassRasoulof den Preis
nicht persönlich entgegennehmenkonnte,
weil ihm der iranischeStaat die Ausreise

verweigerte–die Abwesenheitdes Regis-
seursbestätigt die Zustandsbeschreibung
seinesFilms. Undesist ebensorichtig,
dassElizaHittmans „Never Rarely Someti-
mes Always“, derFavoritder Filmkritik,
den Großen Preis der Jurybekam,weil
HittmansAbtreibungsdrama dieselbe be-
dingunglose Menschlichkeit, dieRasou-
lofs Film auszeichnet, an einem anderen,
abgeg renzterenFall vorführt.Auch die
meistenanderen Entscheidungen der Jury
unter JeremyIrons sind nachvollziehbar,
obwohl man sichfragt, ob der silberne Ju-
biläums-Bär,der anstelle des ausgesetzten
Alfred-Bauer-Preises verliehen wurde,
nicht besser an KellyReichardts Anti-Wes-
tern „First Cow“ und derRegiepreis an
Tsai Ming-liangs Großstadt-Stillleben
„Rizi“ („Tage“) gegangen wäre.
Die einzigeAuszeichnung dieser Berli-
nale, hinter die man ein dickesFragezei-

chen setzen muss, istder Preis für die
„Herausragendekünstlerische Leistung“
des Kameramanns JürgenJürgesinIlja
Chrschanowskis „Dau.Natasha“. Zweifel-
los hat derfast achtzigjährigeJürgesam
Setdes Dau-Projekts ein ungeheures phy-
sisches und handwerklichesPensum be-
wältigt.Aber bei einemFilm,der wie
„Dau.Natasha“ denkürzestenWeg von
der Banalität zur Bestialitätgeht, is tdie
Kameravon dem,wassie zeigt, eben
nicht zu trennen. DieKunstdes Kamera-
manns isthier dieKomplizin der Inhuma-
nität desRegisseurs, und derkaltschnäuzi-
ge Zynismus, mit dem Chrschanowski sei-
ne Darsteller in die Selbstentwürdigung
treibt, klebt an jedem seiner Bilder.
Die siebzigsteBerlinalewarein Festi-
valdes Übergangs. Sie hatgezeigt, dass
Carlo Chatrian und Mariette Rissenbeek
als Doppelspitzeeigene programmati-
sche Akzentezusetzen verstehen, aber
sie hat den Erwartungen, die sichmit der
Berufungder beiden neuen Leiterverban-
den, aucheinen Dämpferversetzt.Die
Reihe „Encounters“, dievonChatrian als
zweiter Wettbewerb für experimentell
ausgerichteteFilme geschaf fenword en
ist, hat sichnicht bewährt, ihreUmwid-
mung zu einer deutlicher abgegrenzten
Sektion,etwa für Dokumentarfilme, wäre
dringend zu wünschen.Undauchdie Un-
terbringungder Filmfestspiele amPotsda-
mer Platz mussneu überdachtwerden.
Ein Festivalpalast, in demkeine Eröff-
nungsfeier stattfindenkann, istein Un-
ding.Aber hier istnicht dieFestivallei-
tung gefragt, sonderndie Kulturpolitik.
Wieimmer,wenn dieKunstallein nicht
mehr hilft. ANDREASKILB

Goldener Bär: „Sheytanvojud nadarad“
(„Es gibtkein Böses“)vonMohammad
Rasoulof
Silberner Bär: „Effacer l’historique“ von
Benoît Delépine und Gustave Kervern
Großer Preis der Jury: „Never Rarely
Sometimes Always“ vonEliza Hittman
Beste Regie: „Domangchinyeoja“ („Die
Frau, dierannte“)vonHong Sangsoo

BestesDrehbuch: „Favolacce“von
Fabio und Damiano d’Innocenzo
Beste Darsteller: Paula Beer in
„Undine“vonChristianPetzold und
Elio Germano in„Volevo nascondermi“
vonGiorgio Diritti
Herausragende künstlerische Leistung:
JürgenJürgesfür „Dau.Natasha“ von
Ilja Chrschanowski

„DerFuchsweiß viele Dinge, aber der
Igel weiß einegroße Sache“, wurde der
griechische Dichter Archilochus 1953
vomrussisch-britischen Philosophen Isai-
ah Berlin zitiert, der diesen Satz zum An-
lassnahm, einengrundlegendenUnter-
schied zwischen zwei Gruppenvon Den-
kern zu markieren: die einen, die alles in
den Diensteiner großen,kohärenten Idee
stellen, und die anderen, die mal dies und
mal dasverfolgen,getriebenvoneiner
Vielzahl unzusammenhängender Gedan-
kenund Er fahrungen. Dante, Platon oder
Hegel seienVertreterder Gruppe der
„Igel“,Shakespeare,Aristoteles oderGoe-
the dagegen als Beispiele der Gruppe der
„Füchse“ einzuordnen. Der britischeAus-
nahme-Mathematiker und Physiker Free-
man Dyson griffdiese Klassifikation
2007 in seinem Buch„AMany-Colored
Glass“ wieder auf undwendete sie auf die
Wissenschaftan: „Die meistengroßen
Entdeckungen wurden vonIgeln ge-
macht, die meistenkleinenvonFüchsen.“
Wissenschaftbrauche sowohl Igel als
auchFüchse für eingesundesWachstum:
Igel, um sichtief in dieNatur der Dingezu
vergraben, Füchse, um diekomplizierten,
vielfältigen Details unseresUniversums
in ihrerganzen Breitezuerkunden.
Dyson selbstfolgteseinen Interessen
in Fuchsmanier,indem er zeitlebens mit
Leichtigkeit voneinem Problem zum
nächs tenwechselte: Mathematik,Physik,
Technologie,Religion, Philosophie, Deu-
tungen desVergangenen undVisionen für
die Zukunft. Dasserals Vordenker ent-
scheidende Ideen entwickelte, machte


ihn zu einem weltbekannten Wissen-
schaftler und Intellektuellen. „Mankann
sagen, dassein ArtikelvonDyson je weils
das letzteWortenthalten wird, abgeleitet
auf dem direktestenund elegantesten
Weg“, brachteder amerikanische Physi-
kerElliotLieb 1996 imVorwortfür Dy-
sons Buch„SelectedPapers“ die Arbeits-
weise seinesKollegen auf den Punkt.
Die Anwendung eleganter Mathematik
auf praktische Problemewarein leitendes
Motiv seiner wissenschaftlichen Arbei-
ten. SiewarauchGrundlagedesjenigen

Beitrags Dysons, der ihm als Physiker den
größtenRuhm einbrachte: die Nutzbarma-
chung der Quantenfeldtheorie, einer
Theorie zur Beschreibung derWechsel-
wirkung zwischen Licht und Materie, in
der Interpretationexperimenteller Da-
ten. VorDyson gabesdazu verschiedene
Ansätze:eine mathematischüberauskom-
plizierte Theorie, nur untergroßen An-
strengungen praktischanzuwenden, unab-
hängiggefundenvomAmerikaner Julian
SeymourSchwinger und dem Japaner Shi-
nichiroTomonaga.Undeine einfachere,
anschauliche Methode, entwickelt in
AmerikavonRichardFeynman, deren
Fundierung und Gültigkeit aber unklar
waren. Dysons Leistungwares, diever-
schiedenen Ansätze seinerKollegenFeyn-
man, Schwinger undTomonagamathema-
tischzueinander in Beziehung zu setzen,
zu vereinen und damit praktis ch einsetz-
bar zu machen.Für diese Theorie der
Quantenelektrodynamik bekamen die
drei 1965 den Physik-Nobelpreis. Dyson
ging dabei zwar leer aus,registrierte dies
aber ohne jeden Groll.Inseiner Perspekti-
ve hatteerschließlichnur verbunden,
wasbereitsexistier te,„Fuchsarbeit“ an
„Igelgrundlagen“geleistet.
Freeman Dyson wurde am 15. Dezem-
ber 1923 im britischen Crowthorne als
Sohn des Musikersund KomponistenSir
George Dysongeboren. Sein frühes ma-
thematisches Interessevertiefte er von
1941 an imStudium der Mathematik am
TrinityCollegeinCambridge, unter ande-
rembei Godfrey Harold Hardy.Nachdem
Kriegwechselte er in die theoretische Phy-

sik und 1947 an die amerikanische Cor-
nell University,ander er auchRichard
Feynmankennenlernte. Die dortange-
strebtePromotionvollendete er aber nie.
Seine bahnbrechenden, 1949veröffent-
lichten Beiträgezur Quantenelektrodyna-
mik brachten ihm 1951 auchohne Doktor-
titel eine Professur an der CornellUniver-
sity und 1952 eineStelle amrenommier-
tenInstitute forAdvanced Study in
Princ eton. Dortarbei tete er in denfolgen-
den Jahrzehnten in vielenverschiedenen
Gebietender mathematischen Physik.Er
befas stesichaber auchmit technologi-
schen Projekten wie dem der Entwick-
lung eines nuklearen AntriebsvonRaum-
schif fen, genannt Projekt „Orion“.
Seit den späten siebzigerJahren widme-
te er sic hschließlichimmerstärkerdem
Schreiben.Auch in seinen zahlreichen po-
pulärwissenschaftlichen Werken behan-
delteere in breites Spektrum an Themen
und fiel zuletzt insbesondereimmer wie-
der mitStandpunkten auf, die nicht der
Mehrheitsmeinung entsprachen, wie der
Kritik an denVorhersagenvonKlimamo-
dellen und ausgearbeiteten Plänenzur Be-
siedlungdes Sonnensystems, die auchPro-
bleme der Biotechnologie umfassten.
„FreudigesTräumen“,eine optimistische
Sicht in die Zukunft,wardabei etwas, das
ihn auszeichnete.Das kommende Jahrhun-
dertwerd edasjenigeder Füchse sein,
schrieb er 2007, denn diese seien notwen-
dig, um Spitzentechnologie zu domestizie-
ren. Diese Aufgabe wirdDyson nicht
mehr selbstbegleitenkönnen. AmFreitag
starb er mit 96 Jahren in derNähe von
Freeman Dyson Fotolaif Princeton. SIBYLLEANDERL

Mitzwanzig Jahren setzt sichUlrik eOt-
tinger ansSteuer ihrer himmelblauen
Isett aund macht sichauf denWegvon
Süddeutschland nachParis. Siekommt
nur bis Sézanne, dortbleibt das kleine
Auto liegen. Die letzten hundertKilo-
metertrampt sie und erreicht im Mor-
gengrauen dasViertelSaint-Germain-
des-Présmit demfesten Vorsatz, hier
eine große Künstlerin zuwerden. Die
Szenerekonstruiertsie für ihren neuen
Film „Paris Calligrammes“ ausFilm-
und Fotomaterial der damaligenZeit:
Tauben picken au fPflaster, ein schwar-
zer Gangster-Citroënrast um Kurven
(wie der letzteWagen, der die junge
Frau mitnahm),Zeitungsbotenvertei-
len ihre Blätter,eine Frau inStöckel-
schuhen bahnt sichihren Wegüber das
Trottoir.Ottinger ersetzt die Bilderder
Erinnerung, die sie damals mangelsfil-
mischer Mittel nichtfesthaltenkonnte,
durch Bilder deskollektiven Medienge-
dächtnisses, die sichmit ihrerwortge-
wandten Erzählung aus dem Offzu ei-
ner Collagedes Parisder sechziger Jah-
re fügen.
Als Ottinger 1962 nachParis kam,
warFrankreichwirtschaftlichineiner
prekäreren Situation als das Nach-
kriegsdeutschland; der Algerien-Krieg
warsoebenvorbei, diekolonialeVer-
gangenheit nochüberall präsent.Die
jungeFrausolltemit alldem auf ihren
Streifzügen durch die Stadt in Berüh-
rung kommen.Unweigerlichführte ihr
Wegsie dabei auchindie RueduDra-
gon ins sechste Arrondissement, dort
hatteder deutsche Emigrant Fritz Pi-
cardseine Buchhandlung „Librairie Cal-
ligrammes“. In dem „Büchergewölbe“,
wieesimFilm heißt,mit seinen decken-
hohen Bücherstapelsäulen trafen sich
die Intellektuellen, die jüdischen Mi-
granten, die Surrealisten, Dadaisten
und ehemaligen Kämpferimspani-
schen Bürgerkrieg. Ottinger lässt sie für
ihrenFilmessay wieder zuWort kom-
men. Walter Mehringetwa trägt in ei-
nerOriginalaufnahmeden zehnten
Brief seiner „Briefeaus derMitter-
nacht“ vor, in dem er zwölf deutscher
Kollegengedenkt, dievonden Nazis
umgebracht wurden oder aufder
Fluchtvorihnendas Lebenließen.Bei
denGesprächen nachLesungeninPi-
cardsBuchtempel, bei denen Marxis-
tenmit französischen Heideggerianern
diskutierten,während Dadaistenmit
Situationisten „Gesprächsfäden dort
wiederaufnahmen,wo der Krieg sie
zerrissen hatte“ (Ottinger), wurdendie
Augender jungenKünstlerin „groß
undgrößer“.
Die Filmemacheringeht also zurück
an dieWurzel ihrerkünstlerischenAus-
bildung, zeigt,woher dergroße Teil ih-
rerInspiration stammt, führtinkurzen
Montagenaus,welche Pariser Erlebnis-
se sic hspäter bis in ihreAvantgarde-
spielfilme wie „Madame X“ (1977)
oder „Freak Orlando“ (1981) einschli-
chen –sowurdenetwa die CRS-Polizis-
ten, deren SchlagstöckeOttingerwäh-
rend derStudentenunruhen 1968 auf
das Pflastervor ihrer Dachwohnung
trommeln hörte,später in „Laokoon &
Söhne“ zurVorlagefür die Erinnyen,
die einKünstleratelier niederbrennen.
Dochwarum blickt sie ausgerechnet
jetzt nocheinmal zurückauf dasParis
der sechziger Jahre?
„Ichwolltenicht in seligen Erinne-
rungen schwelgen, der Blickzurückist
provoziertdurch den Blickind ie Gegen-
wart“, sagt UlrikeOttinger im Ge-
spräc hamRande der Berlinale.„Weil
unserepolitische Situation sichrapide,
vonTag zuTagverändert, wurde ich
nocheinmal auf die Erinnerung an die
Entwicklung in den sechziger Jahrenge-
stoßen.“ Die siebenundsiebzig Jahre
alteKünstlerin erzähltvonden Drehar-

beiten, für die sie nocheinmal zehn
Tage durchParis streifte und die Orte
aufsuchte, die eine Bedeutungfür sie
hatten. „Sie haben sichverändert. Man
sieht, dassman das,wasman eigentlich
mit ihnen sagen will, nicht mehr sagen
kann. Eswardeshalbkein leichtesUn-
terfangen, in Pariszudrehen.“ DieStra-
ßen, auf denen sie früherflanierte,sind
nun vollges tellt mitAutos. Um trotz-
dem Bilder zufinden, mit denen sie das
Parisder sechziger Jahrezeigenkonnte,
sicht etesie innerhalbvonzweiJahren
fast fünfhundertFilme. „Eswareine
hochkomplexe Montage“, sagt sie. „Ei-
ner der anstrengendstenFilme, die ich
gemacht habe.“
Das BerlinerFilmf estival hat ihr in
diesem Jahr die „BerlinaleKamera“ für
ihr Films chaffenverliehen, eine späte
Ehrung für dieKünstle rinund Regisseu-
rin, die immerkompromisslos ihrem
Stil und ihren Themen treugeblieben
ist. „Ichkann garnicht anders. Man hat
dochnur die Kraft,etwaszumachen,
wenn man wirklichzutiefst spürt, dass
man es genausoauchmache nsollte. An-
dersgeht esgarnicht“, sagt sie. In den
vergangenen Jahrenfiel Ottingervoral-
lemdurch ihre Dokumentarfilme auf,
zuletzt kam2016 „Chamissos Schat-
ten“ in die Kinos, einFilmüber dieRei-
se zu denweitgehend unbekanntenRe-
gionen der Beringsee. Während elf
Stunden, in vierfilmis cheKapitelunter-
teilt,sahsiemitruhigemBlick,mitNeu-
gier undRespekt den Menschenzu, die
auf Kamtschatka, in Alaskaoder auf
den Aleuten leben.Auchdiese Haltung
und das Interesse für Ethnologiehat sie
in Parisgefunden. Darumgeht es in „Pa-
risCallig rammes“ ebenso. So wie Ottin-
gerfrüher durch die Stadt streifte,wan-
dertder Essayfilmvoneinem Thema
zum nächsten. Unddas alles so elegant
und folgerichtig, dassman sichnur
manchmal zwischendrin wie beim Spa-
zierengehenkurz fragt:Wiesind wir
denn hiergelandet?
Vonder Librairie Calligrammesgeht
es in dasAtelier Friedlaender,indem
Ottinger ihreAusbildung zurKünstle-
ringemacht hat, für einenkurzen Blick
zurückauf ihreerstenGemälde, die
vonder französischenPop-Art, der „Fi-
guration narrative“, beeinflusst wa ren.
Der Algerien-Krieg wirdgestreift, eben-
so FrankreichsKolonialgeschichte. Die
führtinden Jardin Colonial und zu den
Ethnologen, die Ottinger später zu ih-
renReisen nachZentralasien inspirie-
rensollten. DieReisen sind auchandie-
sem TaginBerlin präsent.Zum maßge-
schneidertenhellen Nadelstreifenan-
zugmit Westeträgt Ottinger zwei massi-
ve persische Silberringemit Daumen-
großen Halbedelsteinen, Geschenke
und MitbringselvonRecher chereisen.
Wenn sievondiesenReisen erzählt,
leuchten ihreAugen. Ebenso,wenn sie
vomintellektuellenAustauschihrer Pa-
riser Jahrespricht.Fehlen uns heutesol-
cheOrtewie die Librairie Calligram-
mes und dierespektvolle, aber scharfe
Art, miteinander zu diskutieren?„Abso-
lut“, antwortetOttinger,ohne eine Se-
kunde zu zögern. „Das hat man heute
nur nochinkleinen Kreisen, zu Hause –
aber damalsfand esvoreiner gewissen
Öffentlichkeit statt. Heutereden die
Leutestattdessen überVersicherungen
oder wie man seinen Alltaggestaltet.
Niemand hätteüber soetwa sgerede t.
Man sprachüber die Bücher,die man
gelesen hat, und über politische und äs-
thetische Probleme. Der Alltag hat auf
andereWeise in die Gespräche einge-
griffen, transformiertinetwas Interes-
santes. Irgendetwasstimmt da heute
nicht.“ „Paris Calligrammes“ zeigt und
sagt, washeute „nichtstimmt“ undwo
diegeschichtlichenUrsachendafürlie-
gen. MARIAWIESNER

BaranRasoulof (Mitte) nimmt dieAuszeichnungstellvertretend für ihrenVaterentgegen, eingerahmtvonden „BestenDarstellern“ Elio Germano undPaula Beer Fotodpa


Die Preise der 70. Internationalen


FilmfestspieleBerlin


Das frühe Glück


der Kinokunst


Die Berlinale zeichnetUlrik eOttinger für ihr


Lebenswerkaus –mit Recht, wie ihr neuerFilm zeigt


UlrikeOttingervorAllen Ginsberg: Szene aus „Paris Calligrammes“ Fotodpa

Die Menschlichkeit und ihr Gegenteil


MohammadRasoulofsFilm „Es gibtkein Böses“ istder verdienteSieger der 70. BerlinerFilmfestspiele


Weiteres
zur 70. Berlinale
finden Sie im
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http://www.faz.net/
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Das Universum als Spielplatz der Füchse


Der britische Mathematiker,Physiker und VisionärFreeman Dyson istimAlter von96Jahrengestorben

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