Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.03.2020

(Steven Felgate) #1

SEITE 12·MONTAG,2.MÄRZ2020·NR.52 Feuilleton FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


S


ilberblauer Chromglanz im Licht
des Morgenrots: Welcheine Zu-
versicht strahlt uns aus der Musik
des „BalletMécanique“ von
George Antheil auf dem Jahr 1926 entge-
gen! DasRatter nder Holzlatten, dievon
den Schlagzeugern–mit ihren Schweißer-
schutzbrillenvorden Augen–gegendie
RotorblättervonPropellern gehaltenwer-
den, will uns in den Rauschdes Auf-
bruchsversetzen. WagnerscheÜberwälti-
gungsästhetik mit den Mitteln industriell
gefertigter Maschinen! Man hörtheute,
vierundneunzig Jahrespäter ,diese Musik
mit gewisserRührung undversteht kaum
noch,warumsie bei derUraufführung
1926 inParissolcheinen Skandal auslös-
te.Damalswarf sichEzraPound wie ein
Löwe mit der Wucht seinerStimme in die
Schlacht, um dieses Manifestdes Futu ris-
mus zuverteidigen.
Jetzt, imFrankfurtLAB, bei „Cresc...“,
der Biennale für aktuelle MusikFrankfurt
Rhein Main, spielt das Ensemble Modern
zwar nicht die lärmendeUrfassung mit

Luftschutzsirenen undmechanischen Kla-
vieren, aber mankann auchinder Versi-
on von1953, wo der Anteil handgemach-
terMusik bei den vier Klavieren und
zwölf Schlagzeugernwiedergegenhun-
dertProzent tendiert, die innereSinnfäl-
ligkeitgenießen, die schon dieUrfassung
besaß. Es gibtForm und Gestalt, Kon-
trastund Bezug in dieserrastlosen Ma-
schinenmotorik. Da steckt Vernunftdrin.
Wasaber besondersmitreißt, istdie kühl
gekurvte Eleganz, mit der die Musiker
des Ensemble Moderndiese Musik spie-
len. Durch ihreInterpretationverklei-
nernsie denAbstand zwischenFuturis-
mus und Klassizismus, zwischen Antheil
und Ravel. Es ist, als ob das zurVirtuosi-
tätgesteiger te Handwerkdes Musik-Ma-
chens dem Menschen am eindrucksvolls-
tenzur Selbstbehauptunggegenüber der
Maschineverhelfen kann.
Das Ensemble Modernwurde vorvier-
zig Jahrengegründet, und esfeiertdiesen
runden Geburtstagein ganzes Jahrglanz-
voll. Mit dem selten zu hörendenZyklus
„Les espaces acoustiques“vonGérard
Grise ygastier teszwischen dem 31. März
und dem 1. Mai in der Berliner Philharmo-
nie, der Elbphilharmonie Hamburgund
der Kölner Philharmonie. Damit bringt es
ein gewichtigesWerk aus dem letzten
Drittel des zwanzigstenJahrhunderts di-
rekt in die Mittedes traditionellenKon-
zertlebens. Dieses Ringen um Sichtbar-
keit, diese Bejahung desRepräsentativen,
diese ausdauernde Arbeit um Integration
neuer Musik istinZeiten der Spartierung
und ZersplitterungvonAufmerksamkeit
wichtiger denn jegeworden. Auchfür das
Ensemble Modernselbst.
Es genießt jakeinesfalls bis zu neunzig
Prozent institutionelleFörderung wie ein
staatliches Symphonieorchester. Mindes-
tens dreiViertelseines Jahresetats von
vier bis fünf Millionen Euromussdas En-

semble, in dem alle neunzehn Musikerin-
nen und Musiker alsgleichberechtigte
Gesellschafterdas wirtschaftliche Risiko
selbsttragen, erwirtschaftenoder einwer-
ben. Die Geldgeber sind häufigKulturstif-
tungen der öffentlichen Hand. Denn an-
dersals in der BildendenKunstzeigen pri-
vate Mäzene oderFirmen der Musikge-
genübergroße Zurückhaltung. „Musik ist
wahnsinnig flüchtig“, sagt Christian
Fausch, der Geschäftsführer des Ensem-
ble Modern, das seit seiner Gründung in
FrankfurtamMain sitzt.„Man kann Mu-
sik nicht in der Lobbydes Firmensitzes
ausstellen.Undviele scheuenvorihr zu-
rück, haben den Eindruck:Wenn ic hein-
mal drin bin imKonzert,komm ichvor
dem Ende nicht mehrraus. Ic hkann mich
nicht wievoreinem Bild oder einer Skulp-
tur umdrehen undweiter gehen.“ Musik
istkeine haptischeWertanlage.
Als das Ensemble Modern1980 von
Mitgliedernder Jungen Deutschen Phil-
harmonie, angesporntvomKomponisten

und Dirigenten HansZender,gegründet
wurde,gehörte es zu den Pionieren in Eu-
ropa. Vier Jahrezuvor warinParis das En-
semble Intercontemporain unterFeder-
führungvonPierre Boulez entstanden,
seit 1968gabesbereits die London Sinfo-
nietta. Sie alle haben dieFestivalland-
schaft, aber auchdie Kompositionskultur
in Europaverändert. Rundfunkanstalten
konnten direkt für sieAufträgevergeben;
das „Ensemblestück“–mit dur chaus va-
riabler Besetzung–ist ein eigenes Genre
geworden.
Dochinzwischen sind dieZeiten vor-
bei, da bei den Donaueschinger Musikta-
genentweder das KlangforumWien, das
Ensemble Intercontemporain oder das
Ensemble Moderndas Terrain unter sich
aufteilten. EineFüllean Ensembles ist
seitdem entstanden, zumTeil hat die En-
semble ModernAkademie inFrankfurt
durch ihreeigeneNach wuchsarbeit die
jungen Konkur renten auf dem Markt
selbstherangezogen. In ihrem ganzen
Idealismus bedachtedie Gründergenerati-

on allerdings eines nicht:dasssie selbst
alt wird. „Die Altersvorsorge für die Grün-
dungsmitglieder istein großes Problem.
Undesgibt keine LösungvonSeiten der
Institution“,räumt ChristianFauschein.
„Es hängt alles daran,ob dereinzelneMu-
sikerVorkehrungen getrof fenhat.Die
Künstlersozialkasse istnatürlichein wich-
tiges Instrument.Aber sie leistetnur eine
Minimalabdeckung. Wirmachen uns
dazu momentan intensiv Gedanken, wie
man das zwar nicht mehr für die Grün-
dungsgeneration, aber für die nächste
und übernächste Generation ändern
kann.“ Seitkurz em habe die Bayerische
Versorgungskammer eine Satzungsände-
rung verabschiedet, die zulasse, dasssich
auchMitglieder des Ensemble Modern
dortversichernlassenkönnen.
Man fragt sich, ob so ein Lebensmodell
voller Idealismus und hohem wirtschaftli-
chen Risikonoch eine Zukunfthaben
kann. ChristianFausch bejaht das: „Der
Markt im klassischen Bereich derfestan-
gestellten Orchestermusiker wirdnicht
größer,imGegenteil.Zudem haben die
Musiker heutegrößereChancen, ein indi-
viduelleres Berufsprofil zu entwickeln:
dasssie freischaffend tätig sind, in der
Neuen und in der Alten Musik,imBe-
reichder Vermittlung, dasssie komponie-
renund Hörspiele machen.“ Allerdings,
so Fausch, bildendie Hochschulen fürsol-
chePatchwork-Profile immer nochnicht
aus. DieStudienziele seien nachwie vor
auf eine Solistenkar riereund auf den Be-
rufals Or chestermusiker ausgerichtet.
Inzwischen deckt dasRepertoiredes
Ensemble Modernvon AntonWebernbis
AshleyFuregut hundertzehn Jahreab.
Damit ist„die Moderne“ so umfangreich
wie dasKernrepertoireeines klassischen
Symphonieorchesters.Sie wir dsichhisto-
risieren. Die hörbareEleganz bei Antheil
istbereits ein erster Anflug derNostalgie
des Neuen. JAN BRACHMANN

AufDante, Goethe,Umberto Eco, Boccac-
cio und AlessandroManzonifolgt Giusep-
pe Tomasi di Lampedusa (1896 bis 1957):
Seinem Jahrhundertroman „Der Leo-
pard“, der,postumveröffentlicht,gerade
in der bereits dritten deutschenÜberset-
zungerschienen ist, widmetdie Vereini-
gungDeutsch-Italienischer Gesellschaf-
ten(VDIG) in diesem Jahr den Lesemara-
thon, mit dem sie seit 2015 ein Meister-

werk der italienischen Literatur prote-
giert. An derkonzertierten Aktion, die am


  1. Märzweitgehen dgleichzeitig in mehr
    als zwanzigStädten zwischenLübeckund
    Karlsruhe, Bremen und Dresdendurchge-
    führtwird, beteiligensichDante-Gesell-
    schaf ten, Literaturhäuser,Bibliotheken
    und Buchhandlungen:Vertreter aus dem
    Kulturlebenbeider Länder werden, je-
    weils in ihrer Muttersprache, ausgewählte
    Passagen lesen. Die Auftaktveranstaltung
    findetimLiteraturhaus Münchenstatt, wo
    GioacchinoLanza Tomasi, der Adoptiv-
    sohn und Erbe des Schriftstellers, sowie
    der Übersetzer BurkhartKroeber erwartet
    werden. aro.


Was wird,wennjunge Pionierealtwerden?


AuchAvantgardistenbekommen irgendwanngraue Haare: Musiker des Ensemble Modernspielen das „BalletMécanique“vonGeorgeAntheil imFrankfurtLAB. FotoWalter Vorjohann

Die Jahrhundertwenden, so schrieb Jo-
ris-Kar lHuysmans1891,ähnelten ein-
ander auf eigentümlicheWeise: Hin-
terdem strahlenden Licht derVer-
nunftgähnten dieAbgründedes Aber-
glaubens, auf demHumusdesRationa-
lismusgediehen auchdie Mystiker
und Spiritistenumsoprächtiger .Diese
ganz eigene Dialektikder Aufklärung
dürfteauchMichel Houellebecqim
Sinngehabt haben, als er Huysmans,
dieGalionsfigur des französischenÄs-
thetizismus, zum zentralen Referenz-
punkt seinesRomans „Unterwerfung“
machte.Undweil Houellebecqjaim-
mer zieht,Huysmans’Eigensinnigkeit
für das deutsche Publikum aber doch
eheretwas abseitig ist, kredenzt Phil-
ipp PreussamRuhr-Theater in Mül-
heimeinen Verschnitt der beiden Bü-
cher für die Bühne. Die misanthropi-
sche Kontaktscheue der beiden Prot-
agonisten derRomane karikierend,
setzt RamallahAubrechts Bühneda-
bei auf größtmögliche Nähe: Die
Mehrheit des Publikums sitztmit den
Schauspielernaneiner langen Tafel,
der darumherum drapierteRestwird
permanentgefilmt und überGreen-
screen-Technik auf gemäldeartigen
Bildschirmen inWerkevon Gustave
Moreaugeschnitten.
Das istinsofernclever, als dasStück
hier schön illustriert,wasdie beiden
Romanvorlagen wortreichbeklagen,
aber schon ihrerseits nicht mehr einzu-
lösenwissen: DieKunstist ke ine aurati-
sche Veranstaltungmehr,sondernnur
nochironisch-verzweifeltes Zitat,ge-
fangen in Selbstreflexivität.Und damit
istmanauchschonmittenin derMalai-
se der beidengesetzten Herrenund ih-
resZustandsder Welterschöpfung:
Des Esseintes, Huysmans’überreizter
Dandy, leidetan der Banalitätder Mo-
derne,vorder er sichineine ArtSmart
Home der Belle Époqueflüchte tund
sicheiner gleichermaßenradikalen
wie vergeblic hen Stimulationseiner
Sinnewidmet.HouellebecqsPhilolo-
gen-KarikaturFrançois hingegen düm-
pelt abgestumpftinihrer spätmoder-
nen Existenz, da hilftauchseine stu-
dentische AffäreMyriam nichts.

DieserKontrapunkt vonExzess
und Erschöpfungfunktioniert gerade
zuBeginn desStücksprächtig,wasvor
allemamkongenialen Spiel derHaupt-
darsteller liegt:Felix Römer turnt herr-
lichspleenig zwischenVerzweiflung
und Maximalexaltation herum,wäh-
rend Petra vonder Beek in ikonogra-
phischerReminiszenzan Houellebecq
selbs tinJeans-Kluftund Park aden sa-
turier tenGegenpart gibt.
Dasalles isteine Weile lang nett an-
zuschauen,verliertaber baldanDyna-
mik,auchweil die Bühnenfassung den
Wehwehchen der beidenAntihelden
zu vielRaum widmetund darüberdie
tiefe re politische Dimensionvon
HouellebecqsRoman zukurz kommt.
So wirddie KonversionvonFrançois
zum Islam–und damitdie Anbiede-
rung an die neuen Machthaber–am
Endedes Stücks ka rikaturesk auf die
Spitzegetrieben,wennihn drei burka-
behangene Frauen umsorgen, wäh-
rend amTischein gewaltiger goldener
Phallus-Kopf sprichtund dieHer-
renphantasiendemaskiert. Dasaber
überdeckt einweiteres Mal diePointe
Houellebecqs:Der Islamsteht beiihm
vorallem als prominente Chiffre für
die Verführungskraftall jener Entlas-
tungsangebote,wie sie diereligiöse
und politischeReaktion aller Couleur
insbesonderedem entpatriarchalisier-
tenund di fferenzierungsmüdenMann
derGegenwartgerade unterbreitet.In-
demdasStück diese Dimensionins Lä-
cherli chezieht, übersieht es diedunk-
len politischen Hoffnungen, welche
die Phalanxder Antimodernen gerade
an den bedrängten Mann knüpft: dass
er imAufbegehren gegenseineideel-
le, gesellschaftlicheund ökonomische
Entwertung den ganzenBallast der
seelenlosen, liberalen Modernegleich
mitabräumenmöge. Die Salonvarian-
te dieser HoffnungverkörpertHouelle-
becqs Protagonistals modernemüder
BourgeoisinseinemÜberlaufen ins
Feld de rneuen islamischen Ordnung.
Sein brutalrealer Gegenpartabersind
die radikalisier tenModernisierungs-
verlierer in Halle oder Hanau, die ihr
Werk fernab der Theatertafelnverrich-
ten. BENJAMINLOY

      

 


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mit Lampedusa


DasEnsemble Modern


steht seitvierzigJahren


fürdie Zukunftder


Musi k. Es feiertsein


Jubiläumglänzend,


doch wasaus den


Musi kern der


Gründungsgeneration


wird, istungewiss.


Bankett


mit Burka


Misanthropen-Theater


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