Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.03.2020

(Steven Felgate) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 2.MÄRZ 2020·NR.52·SEITE 13


Kurz bevorRaffael am 6. April des Jah-
res1520 mit nur siebenunddreißig Jah-
renaneinem tödlichenFieber,vermut-
lichanMalaria,starb, hatteern ochein
GrundstückanRoms schönerViaGiu-
lia er worben. Das jedenfalls istein gesi-
chertes Faktum,wo sonstein merkwür-
diger Gegensatzgilt:Soviele WerkeRaf-
fael hinterlassen hat, so dürftig is tdie
QuellenlagezudiesemKünstler ,einem
der größten der Hochrenaissance. Ganz
Romsoll dengebildeten, ehrgeizigen,
dabei bewunderten und beliebtenKünst-
ler betrauert haben, der es in seinem
kurzen Leben zu einem dergefragtesten
seinerZeit brachte. Als GiorgioVasari
Raffaels Vita niederschreibt, istder
schon mehr als dreißig Jahretot,und so
dankbar man für dieseAufzeichnungen
sein muss, bleibt,wie so oftbei ihm,
schwer zu belegen,waswahr is tund was
Erfindung. DerForschung gehen jeden-
falls weder dieThemen noch dieKontro-
versen durch sämtliche Etappen dieser
rasantenKarriereaus, die früh mit ers-
tenAufträ geninRaffaels Heimatstadt
Urbino begann.Nach Stationen inPeru-
gia und Florenz,wo er,angeregt durch
Leonardo daVinci und Michelangelo,
seinen Stilweiterentwickelt, holtPapst
Julius II. den erst fünfundzwanzigjähri-
genStar nachRom. Hauptwerke seiner
reifen Zeit schafft er dort, imVatikan,
auchinder Farnesina,und übernimmt,
als Nachfolger DonatoBramantes, die
Bauleitung desPetersdoms. Aus Anlass
seines fünfhundertstenTodestagesfei-
ernviele AusstellungenRaffael in die-
sem Jahr,und dieForschung wirdneue
Erkenntnissevorlegen.
Jüngs tlud UlrichPfisterer ,selbst Au-
toreiner gerade erschienenRaffael-Mo-
nographie, zu einemKolloquium insZen-
tralinstitut fürKunstgeschichteinMün-
chen, dessen Direktor er ist.Zuden unge-
lösten Rätselngehörtdie Frage, wie
hoc hRaffaelsAnteil an manchem Ge-
mälde istund wasLeistung derWerk-
statt,ohne dieerdie vielenAufträg esei-
nerletzten zehn Jahre nicht hätteerfül-
lenkönnen–als „NeuartigesStilmanage-
ment“bezeic hnet Pfis terereinlei tend die
Praxis, Gehilfen „echte“,vomMeistersig-
nierteRaffaels produzierenzulassen.Mi-
chaelRohlmann schlugneueArgumen te
fürdie nochimmer umstritteneZuschrei-
bung der„AuferstehungChristi“ in São
Paulo vor, Befürworterngilt siealsRaffa-
els frühestesWerk. Rohlmann macht
kompositorische Ideen aus,die Raffael
eigeninspirativ in vielerlei Ge staltwie-
derverwandthabe. Dazu zählteneine
vonder sch rägliegendenGrabplatteher-
gestellteraumerschließende unddynami-
sierendeDiagonale, derenEinsatzder
Referent bi szum letztenWerk,der
„Transfiguration“, verfolgt, wo sie
schluchtartigdie beidenPersonengrup-
penamBodentrenne. Die Mehrzahl der
Vorträge galt de mreifen Werk in Rom.
AnneBloemacher(Münster) er wei-
tert dievielen Deutungsebenen der
„SchulevonAthen“ in dervatikanischen
Stanza dellaSegnatura um die These der
Visualisierung zweierArten künstleri-
schen Arbeitens.Die lin ke der beidenFi-
gu rengruppen auf dervorderen Bild-
ebene–sie umschließt eng denschrei-
bend en Py thagoras, dessen Schüler zum
Schweigenverpflichtet warenund den
Meisterbedingungslos anerkannt haben
sollen—könntefür den introvertier ten,
in ein geschränktemAus tausch arbeiten-
den Typus stehen. Die offengruppier te
rechte Schar,anderen Rand Raffael
auchsichselbs tdarstellte, steht nachdie-
ser These für denkooperativen und inte-
ragierendenKünstler typus. Umgibt sie
dochden etwa sauf einerTafel am Bo-
den erklärenden Euklid, verkörpert
durch den alskommunikativgeltenden

Bramante, der wieRaffael einegroße
Werks tatt unterhielt.Wiesohäufig habe
Raffael auchhier auf denAusgleic hvon
Gege nsätzengeacht et und, um alle wich-
ti genAspekt ekünstlerischen Schaffens
zu vereinen, sitzt da auchnoch allein
und sinnierend Heraklit, der vielleicht
Michelangelomeint oder das „melancho-
lischeKünstlergenieavant la lettre“.
EntgegengeltenderAuffassung hält
Kim Butler (Washington) nicht die
„SchulevonAthen“ für das zentrale
Werk dieserStanza, sonderndie „Dispu-
tation des Sakraments“; auf das üppig
mit Gold staffierte Freskowäreder
Blickdes Papstes beim Eintritt in seine
Privatbibliothek als Erstes gefallen. Das
Bildprogramm sei ein Gemeinschafts-
werk vonAuftraggeberPapstJulius II.,
seines theologischenRatgebersEgidio
da Viterbo undRaffaels. Inmitten einer
den katholischen Glaubenskosmosver-
körperndenVersammlung sitzt dervon
Julius II. für seine Eucharistielehrever-
ehrte Pa pstGregor der Große, zugleich
als Symbol päpstlichen Machtan-
spruchs. Eine der MeisterleistungenRaf-
faels sei diekomplexe Visualisierung
der Eucharistie mit dem Hostienaltar
im Bildfokus und dem Auferstandenen
im Zentrum derTrinität darüber.Dass
Raffael, Schöpfer sanfter Madonnen, er-
zählfreudiger Altäreund intellektueller
Ikonographie, auchanderskonnte,rief
im Rahmen einerReihe vonGedanken-
splitternRolf Quednau (Münster) ins
Gedächtnis: ein frivoles StückWeltlich-
keit im Vatikan, nämlichdie „Stufetta“,
das Badezimmer desKardinals Bibbie-
na. Raffael undWerkstatt schmückten
es im Auftrag desgeistlichen Herren
mit Körperpflegeszenen sowie eroti-
schen Darstellungen, in die erwohl als
Sachverständiger für die Antiken in
Rom—auchdas zähltezuseinenAufga-
ben —guteKenntnisse einschlägiger
Wanddekorationen einbrachte.
Raffaelskünstlerischem Testament
und letztemgroßen Bild, derVerklärung
Christi, der„Transfiguration“, näherte
sich AchimGnann (Wien)über dieweni-
generhaltenenZeugnisseder um fangrei-
chen Entwurfsarbeit .Ersten, nicht erhal-
tenenIdeenskizzenfolgten Einzelstudi-
en nachModellen,und zwar imUnte r-
schied zumausgeführtenGemäldeals
Akte. Phantastische Blätter illustrieren,
dass Raffael jedesDetail plante.Schüler
kopier tendie Vorzeichnun genund füg-
tensie inModellizusammen.DasGemäl-
de entstand in direkterKonkurrenz zur
„Erweckung des Lazarus“ vonSebastia-
no del Piombo,der vonMichelangelo
Vorlagen bekommen hatte.DieseRivali-
tätauf hö chster Ebenekönnte erklären,
so Gnann, dassder nicht erhaltene K ar-
tonzum Zweckgrößtmöglicher Präzisi-
on desFigurenbausoffenbar inAktenan-
gelegtwar.AlteRöntgenaufnahmenlas-
sen die nacktenKörper er kennen, dar-
überersttrugRaffael, der dasWerkei-
genhändig ausführte,lautInfra rotergeb-
nissen die Bekleidung freihändig auf. Ob
der Künstler dieseabsolut ungewöhnli-
cheVorgehensweiseauchbei anderen
Werken an wandte,müsse nochgeklärt
werden.Als eines derkomplizie rtesten
Raffael-Kapitel beschreibt GeorgSatzin-
ger(Bonn )dessenWirken als Architekt.
Das schmale,aber hochambitionierte
Œuvre sei größten teilszerstört, bliebun-
vollend et oder wurdestark verändert
undleide unter besondersprekärerQuel-
lenlage, die methodischenFehlern Vor-
schu bleistet. Unte rZuhilfenahmeeiner
Grundrissskizzeauf de rRückseiteeiner
VorzeichnungderTransfigurationschlug
der Vortrageinen Fassadenentwurfneu
als San Giovannidei Fiorentinizugehö-
rigvor,der Ki rcheder Florentiner in
Roms Via Giulia. BRITASACHS

V


illa Majorelle –die meisten
dürften bei diesemNamen an
das Anwesen denken, das der
CouturierYves Saint Laurent
1980 in Marrakescherworben hatte, in
dessen exotischem Garten2008 seine
Ascheverstreut wurde und neben dem
ihm sein Lebenspartner,Pierre Bergé,
2017 ein Museumsmausoleum errichtete.
Dochesgibt nocheine zweiteVilla Majo-
relle. Sie istviel weniger bekannt, liegt im
vergleichsweise provinziellenNancy und
warbislang nur anWochenendenauf Vor-
anmeldung zu besichtigen. Doch nun dürf-
te die –chronologisch–ersteVilla Majo-
relle aus dem Schatten der zweiten her-
austr eten. Seit 2016weitgehendrestau-
riert, empfängt sie seit MitteFebruar fünf
Tage die Woche Besucher.
Das Jugendstil-Kuriosumistschwerein-
zuordnen. Es istkein opulentes Gesamt-
kunstwerkwie der Brüsseler PalaisStoclet,
kein ar chitektonischer Geniestreichwie
die Maison Horta daselbst–um nur zwei
Einfamilienhäuserzunennen,die wie die
Villa Majorelle unmittelbar um das Jahr
1900herum entworfen wurden. Das Bau-
budgetwar beschränk t, der blutjunge Ar-
chitekt unerfahren.Dochdie zugleich bür-
gerliche und beschaulicheVillaentfaltet ei-
nen ganz ei genen Reiz. Mit einfachen,oft
sogar bescheidenen Mitteln erfüllt sie ih-
renVorsatz, zugleichWohnortund Vitrine
zu sein–Ersteres für dieFamilie desKunst-
schreinersLouisMajorelle (1859–1926),
Letzteres fürdieinder benachbartenMa-
nufaktur hergestellten Möbel.
Hausund Produktionsstätteerricht ete
der Künstle rund Unternehmer ineinembu-
kolischen Viertel westlichder Bahnlinie.
Aufgrund desrasantenBevölkerungswachs-
tumswichendieFelder ,Obstgärtenund Ge-
müsebeete dortbald Wohnvierteln –eine
Entwicklung, der nachMajorellesTodauch
der Parkumseine Villa zum Opferfallen
würde.Nach dem Deutsch-Französischen
Krieg1870/71zogenvieleElsässer und Mo-
sellaner in die Hauptstadt des „freien“ Os-
tens, um nicht in denannektierten Gebie-
tenunter der deutschen Fuchtel leben zu
müssen. Innertvierzig Jahrenstieg die Be-
völkerung sovon50000 auf 120 000 Ein-
wohner.Unter den Zuzüglernfanden sich
viele Industrielle und Entrepreneure–was
mit erklärt,warumNancy neben und viel-
leichtsogar vorParis zur französischenKa-
pitale des Artnouveauwerden konnte.
Die künstlerischen Bande zwischen
den beiden ungleichenStädtenwareneng.
So betrauteMajorelle mit dem Entwurf
seinerVilla nicht den inNancy geborenen
Lucien Weissenburger, der ihm beimBau
der Manufaktur sekundierthatteund dies
wenig späterauchbei jenem derVilla tun
würde.Vielmehr heuerte er mit HenriSau-
vage (1873–1932) einenPariser Studien-
freund und Geschäftspartneran–
richteten die beiden zum Beispiel mit viel
Erfolg das hauptstädtischeCafédeParis
ein (einrekonstruierter Salon des um
1955 zerstörtenEtablissements findet

sichimParise rMusée Carnavalet). Des-
gleichen schuf dieFriesedes Esszimmers
nicht ein Exponent der durch Victor Prou-
vé angeführtenlokalen Malschule, son-
dernder Pariser Francis Jourdain.
Wasder Villa ih re Geschlossenheitgibt,
istdie Allgegenwart pflanzlicher Motive.
Eingangsportalund -törchenmit ihrem De-
koraus farnförmigen Blechblätterngeben
das Themavor. Die Fassaden variierenes
mit ihren polychromen,durch blumen-
knospenartigeAufsätzeüberhöhtenKami-
nen,ihren emaillierten Steinzeug-Kacheln
mit Orchideenmusternunter jedemFens-
tersowie de nwasser grünen,ranken- oder
lianenförmigen Dachrinnen,Fallrohren,
Fenstergittern, Balkonbrüstungen und
-konsolen.Zauberhaftdas schmiedeeiser-

ne Silberblatt-Dekorder Eingangstür,über
dersicheineMarkisespreizt, die sofili-
gran is twie dieWimper einerFee. Das Sil-
berblatt-Motiv kolonisiert auchdie kleine
Eingangshalle,wo es in FormvonSchablo-
nenmalereien überdie Wändewuche rt
und alsHaken beziehungsweiseLampen
aus dem Garderobenmöbelheraus wächst.
Doch jäh weitet sich der Raum. Mit dem
Betr eten desTreppenhausesvollzieh tsich
derÜbergang vomIntime nins Monumen-
tale.Esist,als täte man einengroßen
Atemzug: Die Brustweitet sich, derBlick
steigt zum Tageslicht hin.Beziehungswei-
se genDachfir st,den Sauvage in Form ei-
nesstilisiertenumgekehrten Schiffsrump-
fesgestaltet hat,fassadenseitigbeleuchtet
durcheinpfeilförmi gesFensterdes Glaser-
meisters JacquesGruber (neben Antonin
Daum, Louis Majorelle, Victor Prouvéund
EugèneVallin eineder Hauptstützender
durchÉmile Galléim ersten Baujahr der
Villa 1901gegrü ndetenÉcole deNancy).
Empor führteine Holztreppe,deren ex-
pressi vgeschwungeneRampeaus Massiv-
eicheskulptier te Efeu ranken zieren.
Doch verweilen wir nochimErdge-
schoss,wo sichdie di eRezeptionsräume
befinden. Blickfangdes Esszimmersistder
außergew öhnliche freistehende Kamin
desKeramikmeisters Alexandre Bigot. Er
scheintgeradezu aus J. R.R.TolkiensPhan-
tasiewelthergebeamt worden zu sein.
Zwar übernimmt sein mächtiger Schaft
das Flechtmotiv der–wiedas gesamt eMo-
biliar derVilla–durch Majorelleentworfe-
nenMöbellinie „Les Épis“(„Die Ähren“).
Doch lässtseineStilisierung denNaturalis-
mus soweit hinter sichzurüc k, dassdas
biomorphe Gebilde mitden al sVasent rä-
gerdienenden Läppchenund denverflie-
ßenden Sitzgelegenheitenbeidseits des
sphärischenFeuerraumsaus behämmer-
temKupfer eherein chthonisches Wesen
evozier tals eineFrucht der Landwirt-

schaf t. Ungleich naturalistischer mutenda
die Hühner, Hasen und Schweinchen von
JourdainsgewölbtenDeckenfriesen an.
Oderauchdas skulptierte Mäuschen, das
aufdem mitSchlangenholz furnierten Buf-
fetüberdie Äh renhuscht.
Der anschließende Salonstehtseiner-
seits unter demZeichen de sTannenzap-
fens. Das Motivziehtsichvon dem bogen-
förmigen Holzmöbel,das de nKamin um-
fasst, über eineKonsole mit Spiegel bis hin
zu Sesselnund Stühlen (undprägteeinst
auchdie raffinierten Stuckaturen ,die lei-
der nur partiellfotografis ch dokumentiert
sind und sich drum auch nichtrestituieren
ließen).Einer völliganderenWelt ent-
stammt das Buntglasfensterüber demKa-
min, das–provisorisch?–eine 1916durch
ein Bombardementzerstörte Kreation
Grubers ersetzte. Seinmaurisches Gitter-
musterverweistauf Louis Majorelles
Sohn, Jacques, der 1917 nachMarok ko
übersiedelte–und dortspäter diezweite
Villa Majorelleerbaute.
Ein Ölbild des heute wieder hochge-
schätzten orientalistis chen Malershängt
imSchlafzimmerim erstenStock.Kommo-
de, Wandschrank und Bett sindUnikate.
Mit ihren Intars ien ausPerlmutt undKup-
fer, ihrenpflanzenförmigen Griffenund
Schlö ssernund ihrentraumartig zerflie-
ßendenFormen zählen sie zu Louis Majo-
relles Meisterwerken.Jacque sverfrachtete
das Ensemble nachdem Toddes Vaters
nachMarrakesch, dieStadtverwaltun gvon
Nancy erwarb es 1982 für dasMusée de
l’École deNancy zurück.Soschließt sich
ein Kreis,der zwei Jahrhunderteund zwei
Kontinenteüberspannt.Bis 2022werden
nochBad und Ankleidenebendem Schlaf-
zimmer sowie das Maleratelierimzweiten
Stock restituiert.Dannzumal dürftedie ers-
teVilla Majorelle sichwieder fast wie zu
Lebzeiten ihresNamengebers präsentie-
ren: al sWohnortund Vitrine.

WohnortundVitrine: In derVilla lebteder Kunstschreiner Louis Majorelle inmittender Möbel seinerManufaktur. FotoBridgeman

Majorelle liebteesschwungvoll. FotoAFP

Raffaels Rätsel


Eine Tagung in München will mehr Licht in das


Leben desRenaissance-Malerfürsten bringen


Ein Hausals Pflanze


Möbe lwie Äh ren,


Klinkenwie Ranken,


dazu skulptierte


Mäuschen: DieVilla


Majo relle in Nancyist


einfrischrenoviertes


Juwel desJugendstils,nur


vie lzuwenigbekannt.


VonMarcZitzmann,


Nancy

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