Frankfurter Allgemeine Zeitung - 02.03.2020

(Steven Felgate) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG,2.MÄRZ 2020·NR.52·SEITE 9


E


sist vielgespottet worden,dass
Bernie Sanders derzeit wohl
einer derwenigenweißenPoli-
tik-Männer dezentübervierzig ist, den
viele Frauengut finden. Mehrnoch:
Unterden inzwischen 2579 amerikani-
sche nund internationalenKünstlern,
die Sanders’ Präsidentschaftskandida-
tur nun offiziell unterstützen, isteine
leichte Mehrheit ebenfallsweiblich.
Die Kampagne, dieetwasandas hiesi-
ge Engagementvon Künstler nund
Schriftsteller nwie Günter Grassfür
WillyBrandt 1969 erinnert, wird von
„Artists4Bernie“ organisiert, einer
Gruppe, dievomKünstlerMohammed
Salemyzusammenmit de rKuratorin
und AutorinJenniferTeetssowie dem
Kollektiv DISgegründetwurde. Be-
rühmteNamen wieNanGoldin ,Kara
Walker undHitoSteyerl gehörtenzu
den Erstunterzeichnern,aber auchJim
Jarmusch, EdAtkins oderKader Attia.
Allengemein ist, dass sie dendemo-
kratis chen Präsidentschaftskandida-
tenSandersinihrem offenen Brief zu
unter stützenversuchen, indemsie ihn
als genaues GegenbildzuTrump por-
trätieren:„Wirsind derfesten Überzeu-
gung, dass nurSanders die Werteund
Tugendenrepräsentiert, aufdie wir
alle alsKulturproduzentenimmerge-
hofft haben“,heißtesindem Brief.
Auch agier eeine Sanders-Administra-
tion zumWohle derKünstler undaller
Kulturbe reiche .Der of fene Brief zi-
tiertzudem Sanders’ Versprechen, ein
„Präsidentder Künste“ zu sein.Tat-
sächlichwar Sandersselbstkulturelltä-
tig: In denSiebzigernund Achtzigern
produzierteermit seinerProduktions-
firma„AmericanPeople ’s Historical
Society“ Lehrmaterialien zu Arbeiter-
fragen undGeschichte .Nahez uparal-
lel zu JosephBeuys’ Kandidatur bei
den Grünen 1980 und dem Drehvon
dessen unsterblichem Musikvideo
„Sonnestatt Reagan!“ drehteSanders
1979einen kurzen un drecht improvi-
siertenFilm über seinenpolitischen
Helden, der auch aufYoutubeverfüg-
bar ist:einehalbstündige Dokumenta-
tion über den sozialistischen Gewerk-
scha fter un dmehrjährigenPräsident-
scha ftskandidaten EugeneV.Debs,
der von1855bis 192 6lebte. Aus schie-
rerfinanziellerNotsprac herdamals
alle männlichen Rollenindem Film
selbst,während dieKünstlerinNancy
Barnett, seine Nachbarin, sämtliche
weiblichen Rollenübernahm. Seineda-
malig eArmut verbindetSandersinje-
demFallmitdem Großteil derihnheu-
te unter stützendenKünstler .Auchvon
der sozialistischenKollektivierung der
Produktionsmittel hielterseinerzeit
scho nnotgedrungen viel:Konnteer
die Stromrechnungnicht bezahlen,
nahmer Verlängerungskabelund ging
in denKeller desalten Gebäudes,um
siean dieSteckdosedes Vermieter san-
zuschließen. DiemateriellenNöte des
Kunstprekariatskennt er also gut.Es
könnteinteressant sein, obTrumpinei-
nem seinerverbalen Ausfälledem-
nächs tauchgegen Künstlerals Minder-
heit wettert.Vorausschauenderweise
hatten diese immerhin die Mengeder
Erstunterzeichner desoffenen Briefs
bei 665gestoppt–mitauchnur einem
Künstler mehr hätteTrumpein teuf-
lisc hsimple sArgumen tgegen dieFür-
sprecher seinesKonkurrenteninder
Handgehabt.

Artfor Bernie


VonStefanTrinks

Das Wetter istmiserabel, an Malenim
Freien isttagelang nicht zu denken. Der
Löwe im Tierparkhält einfachnicht still;
und irgendwann möchtedas Aktmodell
malwieder den Armaus der Schlinge
nehmen,die ihm half, überStunden ein
und dieselbePosition zu halten.Willkom-
mene HilfeinsolchenFällenbrachte Ma-
lernund Bildhauerndie Er findung der
Fotogra fie. Wieviele andereetwabe-
grüßte Eugène Delacroix sie begeistert
als Gedächtnisstütze,auchvon Gustave
Caillebotte weiß man, dass er sichihrer
bediente, undFranz vonLenbach scha ff-
te seineviele nPorträtaufträgenur,weil
er sie mit Hilfedurchgepauster Bildnis-
fotosrationalisierte.Ein ganz besonde-
resEinsatzgebietdes Li chtbilds wurden
die Kunstakademien; übtenangehende
Künstle rihreFertigkeiten bis dahin am
Vorbildvon Zeichnungen, Gipsabgüssen,
Stichen und ebenlebenden Modellen,
halfennun Fotosammlungen,Aufwand
und Kostenzusparen,vorallemaber er-
weiter tensie dasRepertoireanVorla gen
ins nahezuUnermessliche. Mankann
nur ahnen,wasinAkademienanFoto-
schätzenverlorengegangensein muss
durch zwei Kriegeoderweil si eals techni-
sches Hilfsmaterial irgendwann überflüs-
sigwaren undausrangiert wurden, bevor
das Medium selbst in denStatusvon
Kunstaufrückte.
Berlin hatteGlück :Imdorti genAr-
chiv der Universi tätder Künste blieb
eineumfangreiche, wertvolleLehrsamm-
lungerhalten.Aufgebauthaben siedie
Vorgängerinstitute, die BerlinerKunst-
akademie und dieUnterrichtsanstalt des
Kunstg ewerbemuseumsetw avon 1850
an. In denzwanzigerJah renwurde bei-
des zusammengelegt, dann baldkaum
nochbeachtet. Als man inden vergange-
nenfünf Jahren imRahmen einesFor-
schungsprojektes diesenSchatz mit Hilfe
der Fotoabteilung des MünchnerStadt-
museums inventarisierte und digitalisier-
te,zählt eman 25000Aufnahmenund
stieß auf die Namen vieler berühmterFo-
tografen.ZumBeispiel EadweardMuy-
bridge, dessenSerien fotografie nnicht
nurKunststudenten erstmals genaue An-
schauungvonBewegungsabläufenver-
mittelten.
In derAusstellung„Vorbilder/Nachbil-
der“, die UlrichPohlmannaus 320 Bil-
dernimMünchnerStadtmuseumkura-
tierte, hängenMuybridgesStudien bei
den Aktaufnahmen. Ebensoitalienische
Jünglinge, dieWilhelmvonGloede nvor
der Kameraden „Dornauszieher“ und an-
dereAntikennachs tellen ließ; dazuAuf-
nahmenschlankerFrauen odervonmop-

peligen Babys als Bildvorlagen für Putti
undEngelchen.Positiv er Nebeneffekt:
Mit „Disziplinarschwierigkeiten“ im Akt-
saal,esgab sogarVerhaftungen,wie
Akademieprotokolle überliefern, dürfte
nach Einführungdes neuenLehrmittels
Schlu ss gewesen sein.
Ob Gustave Le Grays„Zweimaster im
Mondschein“, raffiniertaus zweiNegati-
venkomponiert, oder Aufnahmen im
Wald vonFontainebleauvonEugène Cu-
veliers,der dortimKreisder Barbizon-
Maler lebte–fotografier tgelangten auch
Landschaften undNaturstücke in den
Atelierszur Anschauung, die derAllge-
meinheit sehrviel schwieriger zugäng-
lichwaren als heute, Kautschukbäume in
Ceylon etwa oder dasgewaltige Schau-
spiel der Niagarafälle, dasder Amerika-
nerHermannF. Nielson auf die Platte
bannte.Künstler ,die weiteReisenunter-
nehmenkonnten,umOriginalschauplät-
ze kennenzulernen,weil sie vielleicht
Orientszenen im Sinn hatten, waren
abenteuerlustigeAusnahmen,viele ,und
ganz sicherdie Studiosi hielten si ch auch
hierfür anFotomaterial.Überraschender-
weise tauchten in denSchachtelnsogar
bisl angunbekannteFrühwerkevon Al-
fred Stieglitz auf; derhatteals junger
Mann in BerlinMaschin enba ustudiert
undsich besondersfür de nfotot echni-
sche nUnter richtbei HermannWilhelm
Vogelinteressiert,sechs pittoreskeGen-
reszenen,die er in Italien arrangierthat-
te,blieben an seinemStudienort. Quali-
tät er sten Ranges lieferten Fratell iAlina-
ri mit Nahaufnahmenvon Weizenähren-
grannen bis Pfirsichflaum, wieAdolphe

Brauns herrlicheBlüten dürften sie,
resistent gegenWelken und Schimmeln,
viele Jahrgängevon Jungkünstlerngenau-
es Hinschauengelehrt haben.Bei Karl
BlossfeldtstudiertenKunstg ewerbler in
Berlin „Modellieren nachPflanzen“,da-
fürhatteerzunächstKleinplastikenvon
starkvergrößerten Pflanzenteilen ge-
formt, dann aberdas Unterrichtsmateri-
al umkonturscharfeDetailaufnahmen er-
weitert, die der Bildband„Urformen der
Kunst“ berühmtmachte.SeineWitwe
vermacht eBlossfeldtsikonische Aufnah-
men demArchiv,zudesse nwertvollsten
Beständen siegehörenund auch zu sei-
nen modernsten,dennmit einemum-
fangreichenKonvolut vonAlbertRen-
ger-Patzschsneusachlichen Ablichtun-
gender Welt und ihrer Dinge enden die
Fotoankäufe1928.
In einemFundus vonachtJahrzehnten
großenteils frühenFotomaterialsschla-
gensich naturgemäß außermotivischer
Kreativität auchtechnische Erfindungen
nieder.UmTiereinBewegun gablichten
zu können oder einkaiserliche sManö-
ver, entwickelteOttomarAnschützgefei-
ert eTechni kenfür Momentaufnahmen
von„Affen, Rehen,Füchsen,Wölfen“,
nicht zuvergessen seinefauchenden Ti-
ger. Das ergabviel Material, das unter an-
derenPaul Me yerheim, Professor fürTier-
malerei, äußerst nützlichwar.Nicht nur
zwei flügels chlagendeKakadusüber-
nahm er eins zu einsbeim Malen. Hinge-
genbeschäftig tenAlbrecht Meydenbau-
er statischeObjekte,genauer Architek-
tur,für de renunverzer rteAbbildung er
diePhotogrammetrie erfand undim
Dienste derKöniglich-PreußischenMess-
bildanstalt bemerkenswertgroßformati-
ge BilderdeutscherBaudenkmäler anfer-
tigte–dasStraßburgerMünsterzählteda-
mals dazu und Meydenbauers Aufnahme
einesAbschnittsvomWesttu rm istan
Präzisionnicht zu überbieten.
Wiedie Fotografienals Vorlagedien-
tenbeweisen Quadraturnetze und auf
den RückseitenNotizenund Umrisspau-
sen. Dasssie dennoch fast unbeschadet
überdauerten,verdankt sich breitrandi-
genKartonunterlagen, dieFingerspuren
vonder aufgezogenenFotografie fern-
hielten unddie Abzügeschonten, bis ihr
künstle rischer Eigenwert endlicher-
kannt war. BRITA SACHS

„Vorbilder/Nachbilder“. Die fotografische
Lehrsammlung derUniversität derKünste
Berlin 1850–1930. Im MünchnerStadtmuseum;
bis 14. Juni.Von AugustanimMuseum für
Fotografie derStaatlichen Museen zu Berlin.
Die umfangreiche Publikation, erschienen im
SnoekVerlag,kostet an der Museumskasse
39, 80 Euro.

RobertGambier BoltonsPorträteinesTigers,der die Zähne bleckt, entstanden um 1891 ©Archiv derUniversität derKünste, Berlin

Notre-Dame,FotovonÉdouardBaldus,
um 1857 ©Archiv derUniversität derKünste, Berlin

D


en Star der Moskauer Protest-
bewegungscheint dieVerant-
wortung, die auf ihm lastet,
zu beflügeln. Jegor Schukow,
der 21 JahrealtePolitologiestudent der
MoskauerForschungshochschule High-
er School of Economics(HSE), dem sei-
ne dreijährigeHaftstrafefür Aufruf ezu
Extremismus zur Bewährung ausge-
setzt wurde, istauf dem Sprung zum
nächs tenInterview, als wir ihn in einer
Universitätsbibliothek treffen. Schu-
kowerklärtlächelnd,vordemUrteils-
spruc hhabe erfest damitgerechnet,
einsitzen zu müssen, und das beinahe
herbeigesehnt.Denn Gefängnis sei in
Russland für einen angehendenPoliti-
kerbeinahe normal und für ihn oben-
drein einTest gewesen, ob er der Idea-
le, die ervertrete,würdig sei.
Dietraditionellliberale HSE, deren
Studenten und Dozentenvoriges Jahr
beiden Pr otestengegen dieFälschung
der Wahl zurStadt-Duma und die darauf-
folgenden Prozessebesonders aktivwa-
ren, hat jüngstdas innereReglement für
kritischeÄußerungen verschärft.Um
diepolitischenFreiheiten zuverteidi-
gen, be teiligt Schukow sich jetzt an der
Gründung einer Studentengewerk-
schaf t. Er unterstützt dasvonStudenten
derHSE betriebene Online-Journal
„Doxa“,das si ch für verhaftete Kommili-
tonen einsetzt unddem deswegendie
Hochschulleitungihren universitären
Statusaberkannte. Vorallem aber disku-
tier terinseiner überYoutubeabrufba-
renSendungmit dem beziehungsrei-
chen Titel„Der Ihre auf Bewährung“
(UslownoWasch) stellvertretend fürsei-
ne Generatio nmit Politikernund Intel-
lektuellen überKorruption undRechts-
nihilismus in seinem Land.
Im Gegensatz zur Mehrheit der poli-
tischaktiven Jugend positioniertSchu-
kowsichnicht links, sondernversteht
sichals Libertärer. Er glaube anradika-
le Freiheit, denKapitalismus und eine
reduzierte Rolle desStaates, sagt er,er-
klärtdas aber auchmit der Situation in
seinem Land, in dem dieStaatsmacht
in alle Lebensfelder eindringe.Vielen
seiner akademischenFreunde undFür-
sprecher, die seinePosition nichtteilen,
imponiertzugleichdie Konsequenz des
gewaltfreienKampfesgegen die Dikta-
tur im Sinn des amerikanischenPolito-
logen Gene Sharp,wozu er seine Lands-
leutemit seinem populärenVideoblog
zu mobilisierenversuchte. Ein „Exper-
te“des StaatssicherheitsdienstesFSB
habe aus seiner Gewaltablehnung je-
dochgefolgert, er befürworteeinen
Putsch, sagt Schukow.

Mädchenhafte Monarchistin

Inseiner Sendung preistSchukow gegen-
über der Duma-AbgeordnetenNatalja
Poklonskaja, einer mona rchistischen
Ex-Staatsanwältin vonder annektierten
Krim, die „heiligen“ Mitarbeiter der
MenschenrechtsgesellschaftMemorial,
die sichumpolitische Gefangeneküm-
mern, historische Zeugnisse sammeln,
vomrussischenStaat abermit Bußgel-
dernüberhäuftwerden,weil sie nicht
alle Publikationen mit dem diskreditie-
renden Label„AusländischerAgent“
markieren.AufSchukowsVorwurf, sie
habe seinerzeit für das Gesetzüber Aus-
ländischeAgenten gestimmt, erwidert
Poklonskajamit mädchenhaftemAugen-
aufschlag, als Mitglied der Kremlpartei
„EinigesRussland“ sei sie dazu ver-
pflichtetgewesen.
Diemittler weile 28 Bußgeldbeschei-
de betragen insgesamt 86 000 Euro, er-
fahren wir im Bürovon Memorial, in
demman deshalb schon einenSpenden-
aufrufverschickt hat. Dadurch sei viel
Geldzusammengekommen,teilt die Lei-
terinder Bildungsprojektevon Memori-
al,Irina Scherbakowa, mit ,wobei einige
Unterstützer viel,manche nur einpaar
Euroaufgebracht hätten. Diestaatliche
Repressionmobilisieredie Zivilgesell-
schaft,sagtdie Memorial-An wältin Ma-
rina Agalzowa, die denbei Kundgebun-
genFestgenommenen hilft, Klagenan
denEuropäischenMenschenrechtsge-
richtshof aufzusetzen. Hundert seien
schon nachStraßburg abgeschicktwor-
den, weitere zweihundert seie ninAr-
beit, so die Juristin. Die 33 Jahrealte
strahlendeFrau be kennt, siesei vonei-
nem internationalen Schiedsgericht zu
Memorialgewechselt,weil si eWichtiges
bewir kenwollte. Sie fürchtet, PutinsVer-
fassungsreform werdedazuführen, dass
russische GerichteStraßburgerEntschei-
dungen aushebelnkönnten. Ihr Landbe-

wege sichauf einenAbgrund zu, soAgal-
zowa,dem müsse man widerstehen.
Auch die Memorial-Nachwuchsfor-
scherin Jekaterina Melnikowaist über
die Willkürjustiz ihresStaates entsetzt,
der Memorial offenbar in den Bankrott
treibenwolle.Zugleichfinde sie im-
mer mehr Gleichgesinnte,die sic hfür
Freiheitsrechteund Umweltschutz en-
gagierten, sagt die 26 Jahre alteMelni-
kowa, die überBürgerbewegungenpu-
bliziertundVorträgehält.Geradedie
jungeGeneration, die nur Putin erlebt
habe, begeisteresichfür die Dissiden-
tenbewegung,so Melnikowa. Viele hiel-
tenMahnwachen für politische Gefan-
gene,undzwarnichtnurinMoskau,
sondernauch i nden Regionen.
Doch auchander HSE ändere sichdie
Arbeitssituation,sagt der Philosophie-
professorViktorGorbatow, den wirin ei-
nemCafétreffen. Einerseitssei seinVer-
hältnis zuStudenten enger und solidari-
scher geworden, berichtetGorbat ow,
dervoriges Jahrgegendie Inhaftierung
desJournalisten Iwan Golunowdemons-
trier te,dem Drogen untergeschoben
worden waren. Dochdie Hochschullei-
tung lasse erstmals bestimmte Dozenten
wissen,dasssie mit ihnen unzufrieden
sei. Deswegen hättenschon einige Geis-
teswissenschaftler gekündigt. Kurzsich-
tigfand Gorbatowauchdie Entschei-
dung,dem Portal Doxa, dasüber Proble-
me anrussischen wiewestlichen Univer-
sitätenbericht et und den Philosophen
SlavojŽižek zu einem Seminar einladen
konnte, denformellenSchutz zu entzie-
hen.Sodiskreditieredie HSE sichselbst.

Gier nachakademischerFreiheit

Eine der Gelehrten, die die HSEverlie-
ßen, istdie jungePhilosophin und linke
FeministinEllaRossman,die über Gen-
derkonstruktion in der Sowjetunion
und im DrittenReich forscht. Si ehabe
den Glauben an ihreAlma Materverlo-
ren, als deren LeitungvorigenHerbst
dem Literaturprofessor Gassan Gus-
sejnow, der denrussischen Sprachge-
brauc h„kloakenhaft“ nannte, empfahl,
sichdafür zu entschuldigen, erzählt
Rossman uns in einem anderen Lokal.
Dochsie machtweiter bei derOff-Cam-
pus-BildungsplattformAnti-Universi-
tät, die sie mitRedakteurenvonDoxa
gegründethat und die diesenWinter
ihreerstenSeminareabhält.
Die Anti-Universität hat sich dem akti-
ven, nichthierarchische nLernen und
derakademischenFreiheitverschrie-
ben, also dem,wasrussis chen Universi-
tätenderzei tfehlt .Die Veranstaltungen
sind kostenlos, erfordernaber vonTeil-
nehmernwieLeiterngroßenArbeitsein-
satz. Rossman leitet jeden Samstagin
derKunstgalerie „NaShabolovke“ die
Herbert-Marcuse-Werkstatt für kultur-
und gesellschaftskritisches Schreiben.
Aber auchdie PhilosophiedozentinTat-
jana Lewina,die weiterhi nander HSE
lehrt, hält imRahmen der Anti-Universi-
tätinwechselnden Lokalitäten öffentli-
cheGratisvorträge überweibliche Identi-
täten–jüngs tetwaüber das Problemfe-
mininerSelbstfindunginder Pr otestbe-
wegung,wenn vorallem Männerkämp-
fenund ins Gefängnisgesperrt werden.
Lewina lobt dieneueStudentengenerati-
on,die jungen Leute seientolerant, setz-
tensichfür Frauenrechte ,Obdachlose,
Inklusion ein.Zugleich neigten viele zu
Depressionen,Besuchebeim Psychothe-
rapeuten seien heute die Norm.
Die Anti-Universität bietetaberauch
Arbeitskreisemit der derzeitführenden
russischen Aktionskünstlerin Katrin
Nenaschewa an. Nenasche wa repräsen-
tier teine postheroischePerformance-
Kunst, die soziale Missstände nicht
mehr offensiv bekämpft, sondern Wun-
denbehandelt.Als Antwortauf die in
Moskau vielerortsfunktionierenden Ge-
sichtserkennungskameras organisierte
sie die Aktion „Folge!“ (Sleduj),bei der
sie mit einer Gruppe junger Mädchen,
die sichzuvor abstrakteLinienund Zei-
chen aufsGesichtgemalthatten, durch
die Straßen zog. Dassuprematistische
Make-up behinderedie Gesichtserken-
nungnicht, weiß Nenaschewa,die wir in
einemKulturzentrumtreffen, ihreAkti-
on sei einDialogangebot an dieStadtre-
gierung, diedieKameras ohneErklä run-
gen, ohne Bürgerbefragungeinfac hin-
stalliere. Dochsie und ihreMitperforme-
rinnen wurdenvonPolizisten festgenom-
men,die di eSchmink ekonfiszier ten.
Jeden DonnerstagleitetNenaschewa
außerdem eine Gesprächsgruppefür
Männer,aberauchFrauen, die ihren
Hang,Partner ode rKinde rschlechtzu
behandeln, überwinden wollen. Der
Wunschnachsolch einer Veranstaltung
seiihrvorzweiJahrengekommen, nach-
dem sie mit einemFreund insbesetzte
Donezkgereistwar,woFreischärler sie
beidefestnahmen undfolterten, sagt die
Künstlerin. Damalshabesie begriff en,
dassdie immernur dämonisierten Ge-
walttäter eigentlichselbstdringend Hil-
fe brauchten.AufFacebooklobtsie die
Seminarteilnehmer,weilsie den Mut
aufbrächten, sichmit ihrem Problem aus-
einanderzusetzen.Feministinnenhätten
freili ch wenig Verständnisfür ihr eMiss-
brauchsüberwindungskurse,verrät Nen-
asche wa,die auc hmit Psychiatriepatien-
tenund suizidalenJugendlichenarbeit et
und es als ihre Aufgabe ansieht,sichde-
reranzunehmen,umdie sic hkeiner
kümmernwill.

Kein Welken, kein Schimmeln


MalennachFotos:GroßartigeStudienaufnahmen in einerMünchenerAusstellung


Keine Angstvor


Psychotherapie


Zwei Männer,die über sieben Jahre
hinwegeinen Schwarzmarkthandel
mit Karten fürKonzerte vonKünst-
lernwie Ed Sheeran, Bruno Marsand
Taylor Swiftbetrieben haben, sind
jetzt in Großbritannien verurteilt
worden. Das EhepaarPeterHunter
und David Smith soll zwischen 2010
und 2017 unterwechselnden Identitä-
tenmit Hilf evon Kreditkartenund In-
ternetbots Konzert- und Theaterkar-
tengekauf tund dannteuer über
Zweitmarkt-Websites wie Viagogo
und Stubhubweiter verkaufthaben,
berichten„The Guardian“ und das
Portal „klassik.com“. Dem Gericht
zufolgeerzielten sie einenUmsatz
vonmindestens 10,8 MillionenPfund
(12,9 MillionenEuro). Die beiden
Männer müssen nun für vier bezie-
hungsweise zweieinhalb Jahreins Ge-
fängnis. DasUrteil is tdas er ste, seit
britische Behörden im Jahr 2017 be-
gannen, den unautorisiertenTicket-
Zweitmarktzuuntersuchen. Derweil
gabein Sprecher der umstrittenen
Online-PlattformViagogo an, das
Paar sei nachBekanntwerden des
Falls sofortgesperrt worden. F.A.Z.

Sie wollen ihrLand


nichtinden Abgrund


stürzen lassen. Daher


proben Moskauer


Jungakademiker die


Solidarität und suchen


neue Freiräume.


VonKerstin Holm,


Moskau


Vier JahreHaft


Konzertkartenschacher

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