Der Standard - 02.03.2020

(coco) #1

DERSTANDARD Kommentar der anderen MONTAG, 2. MÄRZ2020 | 19


PHILIPPE NARVAL


Pflege –dieHerausforderung trifftuns persönlich


Erschöpfung,
manchmalWut
und oft auch
ein Gefühl der
Ratlosigkeit.
Meine Frau
und ich sind
pflegendeAn-
gehörige, Eltern
eines Kindesmit Asperger-Syn-
drom.Als vor siebenJahren
beim Volksschuleintritt die
Diagnose einer Störung aus
dem Autismus-Spektrum ge-
stellt wurde, hatten wir noch
keineAhnung, was uns das ab-
verlangen würde. Pflege, das
war die Betreuung alter Men-
schen in Heimen, durch mobile
Diensteund Hilfen. Pflege, das
war ein abstrakterBegriff,weit
weg von einer jungenFamilie
wie der unseren.Heute weiß

ich, auch wir gehören zu dieser
Debatte.

W

ir lesen Fachliteratur,
suchen Experten auf
und organisieren The-
rapien. Wir bilden uns fort,
denn mit herkömmlicher elter-
licher Intuition kommen wir
nicht an unser Kind heran. So
sind wir gefordert, selbst zu
Experten zu werden.
Manchmal gibt es gute Tage,
an denen wir miteinander la-
chen. Öfter aber strudeln wir,
wenn am Abend wieder ein
Wutausbruch losgeht oder einer
von uns zu Hause bleiben muss,
weil unser Kind in der Früh
plötzlich nicht die Kapazität
aufbringt, die Herausforderun-
gen des Alltags zu meistern.
Ich habe gelernt, dass das
System für dich als pflegenden

Angehörigen nichts übrig hat.
Therapien, Supervision und Be-
gleitung von Eltern von Kindern
mit geistiger Behinderung oder
auch psychischen Erkrankun-
gen sind im Gesundheitssystem
nicht vorgesehen. Angehörige
müssen sich selbst organisieren
und vor allem selbst bezahlen.
Wenn wie vor kurzem dringend
benötigte Kassenstellen in der
Kinderpsychiatrie gefordert
werden und die Gesundheits-
kasse diese ohne Begründung
einfach ablehnt, kann man nur
den Kopf schütteln. Bei teuren
Umstrukturierungen und Kas-
senfusionen scheint Geld beim
Versicherungsträger wiederum
keine Rolle zu spielen.
Unser Kind bereichert und
fordert uns und seine Geschwis-
ter jeden Tag. Wir versuchen

tagtäglich, seinen und unseren
Bedürfnissen gerecht zu wer-
den. Wir versuchen täglich, ihn
in ein selbstbestimmtes Leben
zu führen. In der Erziehung
liegt der Fokus von Pflege nicht
nur auf Versorgung, sondern
auch auf dem kontinuierlichen
Versuch, das Kind zu fördern.
Das sollte auch für den Staat
von Interesse sein, denn ein
selbstständiger Erwachsener er-
spart dem System am Ende vie-
les an Verantwortung und Geld.

W

as ich mir deshalb
wünschen würde?
Mehr Anerkennung,
mehr Unterstützung–und sei
es nur durch Begleitung und In-
formation. Eltern und pflegende
Angehörige sind eine Ressour-
ce. Wenn man sie stützt, beglei-
tet und vernetzt, können sie

Unglaubliches leisten. Derzeit
sind sie auf sich allein gestellt.
Für eine dringend nötige Re-
form der Pflege habe ich keine
Patentrezepte, aber ich weiß
heute aus persönlicher Erfah-
rung, dass Pflege fordert. Pflege
ist Zuwendung, ist Ruhe be-
wahren, auch wenn du eigent-
lich keine Geduld mehr hast,
und Kraft aufbringen, wenn du
eigentlich nicht mehr kannst.
All jene, die Pflege zum Beruf
gemacht haben, verdienen
unsere Anerkennung. Die For-
derungen dieser Berufsgruppe
nach einer Arbeitszeitverkür-
zung und besserer Entlohnung
sind vollkommen gerechtfertigt.
Pflege fordert körperlich und
emotional, sie muss unserer
Gesellschaft mehr wert sein, in
Anerkennung und Ressourcen.

Die Gefahr istgroß, dass sich die fallendenKurse an den Börsen zu einem echten „Bärenmarkt“ entwickeln.
Das Coronavirus mag ansteckenderAuslöser sein, die Hauptursache istesnicht.

verkürzt die Bilanzen (fast) aller
Unternehmen–für verschuldete
besonders fatal –, und damit wird
ihr Eigenkapital dezimiert. Der
Verfall der Immobilienpreise und
die Wertverluste des („kapitalge-
deckten“) Pensionskapitals ver-
schlechtern die Finanzlage der
Haushalte, sie reagieren mit Aus-
gabenreduktion. Die Unterneh-
men schränken ihre Investitionen
massiv ein. Am fatalsten trifft die
Vermögensentwertung die Ban-
ken, die Bilanzsummen schmel-
zen, ihr Eigenkapital wird in Wo-
chen ausradiert, es kommt zu Ban-
kenkrachs nach Dominoart. Insge-
samt folgen auf Finanzkrisen da-
herDepressionenwieinden1870-
er- und 1930er-Jahren.
Anders als damals hat die Poli-
tik 2008 daraus gelernt, die Ban-
ken gerettet, Konjunkturpakete
geschnürt und so eine Depression
verhindert. Die systemischen
Ursachen blieben aber ausgeblen-
det, und so begann die „Finanz-
alchemie“ wieder zu boomen –
mehr denn je. Wer nicht (gründ-
lich) lernt, muss wiederholen.
Um meine Grundthese mit ein
paar Zahlen zu untermauern: Auf
einen der längsten Bullenmärkte

I

nnerhalb einer Woche sind die
Aktienkurse um etwa 15 Pro-
zent eingebrochen. Haupt-
ursache scheint die Ausbreitung
des Coronavirus zu sein, sie ist
freilich nur der Auslöser. Dieser
wird bei jeder schweren Finanz-
krise mit der Ursache verwech-
selt. Sie besteht in einem–inden
vergangenen Jahren geradezu gro-
tesken–„Bullenmarkt“: Seit März
2009 sind die Aktienkurse in den
USA auf fast das Fünffache gestie-
gen, in Deutschland auf fast das
Vierfache. Und das in der Phase
der schlechtesten mittelfristigen
Entwicklung der Realwirtschaft
der gesamten Nachkriegszeit. Der
Boom baute ein Absturzpotenzial
auf, das ein Auslöser früher oder
später zur Entladung bringt. Wel-
ches Ereignis „zündet“, ist nicht
prognostizierbar–dass auf einen
„Bullen“ ein „Bär“ folgt, aber
schon.
Für Mainstream-Ökonomen ist
allerdings auch Letzteres un-
erkennbar. Nähmen sie nämlich
wahr, dass nicht nur Aktienkurse,
sondern alle spekulativen Preise,
also auch jene von Rohstoffen
oder Wechselkursen, systema-
tisch von ihren wahren, funda-


mentalen Werten abweichen, dass
also die „freiesten“ Märkte ma-
nisch-depressive Schwankungen
generieren, dann wäre die Allge-
meine Gleichgewichtstheorie zu
verwerfen und damit alle daraus
abgeleiteten Leitlinien wie Null-
defizit,Deregulierung derArbeits-
märkte, kapitalgedeckte Alters-
vorsorge. Das aber ist nach Jahr-
zehntenmarktreligiöserMissions-
arbeit undenkbar.

Boomende Finanzalchemie
Dies beantwortet die schlichte
Frage von Queen Elizabeth II an
die Ökonomen nach der letzten
Finanzkrise: Warum habt ihr sie
nicht kommen sehen? Mit „neoli-
beraler Brille“ sind die systemi-
schen Ursachen von Finanzkrisen
unerkennbar. Denn sie bestehen
im gleichzeitigen Auftreten von
mehreren Bärenmärkten. So gin-
gen den größten Finanzkrisen wie
1873, 1929 oder 2008 Bullenmärk-
te bei Aktien, Immobilien und
Rohstoffen voraus, die in der Kri-
se in Bärenmärkte kippten. Auf
die fiktive Vermögensvermehrung
folgt deren Entwertung.
Das hat fatale Folgen für die
Realwirtschaft: Der Wertverlust

der Geschichte zwischen 1982
und 2000–die Aktienkurse stie-
gen auf etwa das Zehnfache–folg-
te ein massiver Kurssturz–das
Platzen der „Internetbubble“
musste als Ursache herhalten –,
zwischen 2003 und 2007 stiegen
die Kurse wieder auf das Zwei- bis
Dreifache, es folgte der Crash
2007/2008, die Kurse fielen um
mehr als 50 Prozent–diesmal wa-
ren die Banken die Schuldigen –,
und danach arbeitete das Geld we-
der fleißiger als je zuvor.

Gegensteuernde Notenbanken
Die Gefahr, dass sich der aktu-
elle Kurssturz zu einem echten
„Bärenmarkt“ auswächst, ist groß,
weil die Ausbreitung des Corona-
virus mit Sicherheit weitergehen
wird und gleichzeitig der Konflikt
in Syrien zu eskalieren droht:
Greift die Türkei massiv in den
Krieg von Bashar al-Assad und
Wladimir Putin ein, so könnten
Bündnismechanismen ausgelöst
werden: Russland wird Abschüs-
se seiner Bomber nicht unbeant-
wortet lassen, Recep Tayyip
Erdoğan die Nato-Beistands-
pflicht verstärkt einfordern, und
Donald Trump könnte im Wahl-

jahr eine Ablenkung von den Ver-
mögensverlusten der US-Bürger
gut brauchen, zumal das Ab-
schmelzen von Pensionsansprü-
chen auch Millionen „kleiner Leu-
te“ trifft (entfernt erinnert dies
alles–ein wenig–andie Wochen
vor dem Ausbruch des Ersten
Weltkriegs).
Grund für ein wenig Optimis-
mus liefern die Notenbanken: An-
ders als 2008 sind sie sich heute
der fatalen Folgen einer gleichzei-
tigen Entwertung von Aktien, Im-
mobilien und Rohstoffen bewusst
und werden versuchen, gegenzu-
steuern. Aber wie? Mit Zinssen-
kungen kann lediglich die US-No-
tenbank für kurzzeitige Entlas-
tung sorgen, also könnte man Ak-
tien kaufen. Doch das Beispiel Ja-
pans (dort ist die Notenbank mitt-
lerweile der weitaus größte „Ak-
tionär“–schoneinbisserlpervers)
zeigt: Eine Systemkrise lässt sich
so nicht überwinden.
Das Schwierigste am Lernen ist
das Ver-lernen.

STEPHAN SCHULMEISTER ist Wirt-
schaftsforscher, Universitätslektor und
Buchautor. Zuletzt erschienen: „Der Weg
zur Prosperität“.

Die Börsianer stellen sich auf unsichere Zeiten ein. Die vergangene Woche war an den Börsen die schwärzeste seit der Finanzkrise 2008.

Foto: Reuters

/Lucas Jackson

Die nächsteFinanzkrise ist im Anrollen


Stephan Schulmeister
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