Der Standard - 02.03.2020

(coco) #1

2 |MONTAG, 2. MÄRZ2020DTHEMA:NeThemaueFluchtbewegungen ER STANDARD


BiszueineMillionMenschen hoffen imsyrischenIdlib unter teilskatastrophalenBedingungen darauf,in dieTürkei
fliehenzukönnen.Doch deren Regierungistschonjetzt unter Druck–und gibtdiesen nun an die EUweiter.

E

sklang wie eine Erfolgsmel-
dung, als der türkische In-
nenminister Süleyman Soy-
lu Sonntag per Twitter bekannt-
gab, es hätten sich seit Freitagfrüh
bereits 78.358 Flüchtlinge auf den
Weg zur Grenze nach Griechen-
land und Bulgarien gemacht. Kurz
danach legte der Kommunika-
tionsdirektor des türkischen Prä-
sidenten Recep Tayyip Erdoğan,
Fahrettin Altun, noch einmal
nach und verkündete bereits Zah-
len von gut 80.000 Flüchtlingen,
die sich auf den Weg gemacht ha-
ben sollen. Dass diese Statements
sich in der Türkei so anhören, als
seien die Flüchtlinge bereits in
Griechenland oder Bulgarien an-
gekommen, ist beabsichtigt, auch
wenn es mit der Realität nichts
zu tun hat. Hauptsache, das türki-
sche Publikum glaubt, dass jetzt
endlich wieder Flüchtlinge das
Land verlassen, anstatt dass im-
mer nur noch mehr dazukommen.
Am Samstag hatte Erdoğan öf-
fentlich bestätigt, was bisher nur
als Gerücht herumgeisterte. „Wir
werden niemanden mehr daran
hindern, die Türkei in Richtung
EU zu verlassen“, sagte er. Der EU-
Türkei-Flüchtlingspakt sei hin-
fällig, weil die EU sich nicht an
ihre Zusagen gehalten habe. Um
den Worten Nachdruck zu verlei-
hen, hatten türkische Behörden
am Freitag dem Flüchtlingstreck
in Richtung griechische Grenze
noch nachgeholfen–auf denkbar
zynische Weise. In Zeytinburnu,
einem Stadtteil Istanbuls, in dem
besonders viele Flüchtlinge leben,
tauchten plötzlich weiße Busse
auf, von denen es hieß, sie würden
Flüchtlinge an die Grenze brin-
gen. Die Nachricht verbreitete
sich in Windeseile, einige Syrer
und Afghanen ließen buchstäb-
lich alles stehen und liegen und
prügelten sich fast, um einen Platz
zu bekommen–imsicheren Glau-
be, ihre Ausreise sei genehmigt.


Die Offensive im Hintergrund


Umso größerdann die Enttäu-
schung, dasssie an dergriechi-
schen Grenze und am Grenzfluss
Evrosbrutal gestoppt wurden. Dort
standen griechischesMilitär und
Bereitschaftspolizei und schossen
mit Tränengas auf die Flüchtlinge.
Trotzdem brechenseit Freitag im-
mer mehr frustrierte Syrer, Afgha-
nen, Iraker und Iranervon Istanbul
und anderen Städten in der Türkei
zur Grenze auf, weil sie dennoch
einen Funken Hoffnung haben, ir-
gendwie ins gelobte Land zu kom-
men. Zumindest überdie Ägäis,


von dertürkischenKüstenach Les-
bos,Chios und Samos,ist es offen-
bar am Wochenendeaucheinigen
HundertMigrantengelungen,
die EU-Außengrenze zu über-
winden (siehe unten).
Erdoğans Handeln hat unmittel-
bar mit dem Geschehen in Syrien
zu tun. In der an die Türkei an-
grenzenden Provinz Idlib warten
nach UN-Angaben fast eine Mil-
lion verzweifelterMenschen unter
katastrophalen Bedingungen dar-
auf, Richtung Türkei zu entkom-
men. ObwohlErdoğan die Rebel-
len, Islamisten und Jihadisten in
Idlib gegen die Truppen von Dik-
tator Bashar al-Assad unterstützt
und erst am Sonntag eine neue Mi-
litäroffensive gegen Assad in Gang
setzte, will er auf keinen Fall die-
se Flüchtlingeüberdie mit Mau-
ern und Stacheldraht gesicherte
Grenze in die Türkei lassen. Denn
imLandistderUnmutüberdiefast
vier Millionen Flüchtlinge, beson-
ders angesichts der Wirtschafts-
krise, groß. Niemand in der Türkei
will noch mehr, deshalbsetzt
Erdoğan auf die Bilder an der grie-
chischen Grenze,die zeigen sol-
len, dass endlich eine nennens-
werte Zahl von Flüchtlingen die
Türkei wieder verlässt.

Pogromartige Szenen
Insbesondere in den Großstäd-
tenentlangdertürkisch-syrischen
Grenze, wo teils genauso viele
Flüchtlinge wie Türken leben, ist
die Stimmung explosiv. Dort kam
es Samstagnacht zu massiven
Ausschreitungen gegen syrische
Geschäfte. In den sozialen Me-
dien verbreiteten sich Bilder,
auf denen geradezu pogromartige
Szenen zu sehen waren. Diese Bil-
der werden in den offiziellen Me-
dien nicht gezeigt, doch Erdoğan
weiß, dass er eine neue Flücht-
lingswelle aus Syrien politisch
nur schwer überleben könnte.
Einen klaren Bruch des 2016
vereinbarten EU-Türkei-Aktions-
plans sieht man jedenfalls auch in
Brüssel. Ankara wurden ja sechs
Milliarden Euro Hilfen für syri-
sche Flüchtlinge in der Türkei zu-
gesagt. Die Regierung verpflichtet
sich damals ihrerseits, alle irregu-
lärnachEuropagelangtenMigran-
ten zurückzunehmen. Gleichzei-
tigistdieEUbereit,fürjedenrück-
geführten Migranten einen an-
erkannten syrischen Flüchtling in
einem EU-Land aufzunehmen.
Das scheint im Chaos nun obsolet.
Noch diese Woche dürfte es ein
EU-Sondertreffen der Innen- und
Justizminister in Brüssel geben.

Erdoğan öffnetnur eine Grenze


Jürgen Gottschlich aus Istanbul, Thomas Mayer aus Brüssel

Griechenlandsetzt Tränengasgegen Flüchtlingeein


Die Ankunftszahlen auf den Ägäis-Inselnsteigen,weil die türkischeKüstenwache dieMigranten nicht mehr abhält


Adelheid Wölfl

I

nder Nacht auf Sonntag kam
es beim Grenzübergang Kas-
tanies zu Zusammenstößen
zwischen Migranten, die auf ille-
gale Weise von der Türkei nach
Griechenland gelangen wollten,
und der Polizei. Die griechischen
Grenzbeamten setzten Tränengas
ein. Manche Migranten bewarfen
die Grenzpolizei mit Steinen, an-
dere schnitten den Zaun auf.
Laut dem griechischen Außen-
ministerium konnten am Samstag
undamSonntag10.000Migranten
und Flüchtlinge daran gehindert
werden, illegal die Grenzen zu
übertreten. 73 Personen wurden
festgenommen. Beim Grenzüber-
gang Kastanies befanden sich am


Sonntag etwa 3000 Migranten. In
der Grenzstadt Orestiada waren
die türkischen Beamten „ver-
schwunden“. Der Sprecher der
griechischen Regierung Stelios
Petsas meinte, dass Griechenland
„Ziel eines organisierten illegalen
massenhaften Versuchs“, die
Grenzen zu verletzen, gewesen
sei. Griechenland hat seine Gren-
ze für all jene geschlossen, die kei-
ne Dokumente bei sich führen.

„Nicht verantwortlich“
Premier Kyriakos Mitsotakis be-
tonte, dass keine illegalen Grenz-
übertritte toleriert würden. „Grie-
chenland ist nicht für die tragi-
schen Ereignisse in Syrien verant-
wortlich und wird nicht die Kon-
sequenzen der Entscheidungen

anderer erleiden“, stellte er klar.
Premier Mitsotakis ist in ständi-
gem Kontakt mit anderen wichti-
gen EU-Staaten und EU-Institu-
tionen. Griechenland hat indes
gegen eine Nato-Resolution, laut
der der Türkei Unterstützung aus-
gesprochen wurde, weil ihre
Truppen in Idlib unter Beschuss
kamen, ein Veto eingelegt.
Die griechischen Grenzpa-
trouillen wurden sowohl an Land
als auch auf See verstärkt. Am
Grenzfluss Evros wurden Stachel-
drahtrollen ausgelegt. Beamte aus
ganz Griechenland wurden an die
türkisch-griechische Grenze ge-
bracht. 52 Boote der Küstenwache
undderMarinepatrouillierennun
auf der Ägäis. Die Ankünfte auf
den griechischen Inseln stiegen

dennoch am Sonntag stark an. In-
nerhalb von nur vier Stunden ka-
men 400 Migranten auf Lesbos an.
Denn die türkische Küstenwache
sorgt nicht mehr dafür, dass die
Schlauchboote am Ablegen gehin-
dert werden. Auf Lesbos stieg da-
her die Nervosität der Anwohner.
Einige hinderten Migranten dar-
an, aus ihren Booten zu steigen,
andere stoppten Versuche, weite-
re Menschen in das überfüllte
Lager Moria zu bringen.

Mehr Leute auf dem Seeweg
Heuer kamen bisher 6127 Mi-
grantenundFlüchtlingenachGrie-
chenland, davon kamen 4714 über
den Seeweg auf die ostägäischen
Inseln.Die Landgrenze zur Türkei
ist viel leichter zu kontrollieren.

Dort befindet sich auch eine rie-
sige Grenzanlage. Zurzeit werden
über 42.000 Migranten und
Flüchtlinge auf den Inseln gezählt
–die allermeisten auf Lesbos. Die
Mehrheit der Menschen kommt
aus Afghanistan (49 Prozent),
19Prozentvonihnen kommenaus
Syrien, sechs Prozent aus Soma-
lia. 33 Prozent der dort lebenden
Menschen sind minderjährig.
Sowohl an der griechisch-türki-
schen als auch an der bulgarisch-
türkischen Grenze gingen Migran-
ten und Flüchtlinge entlang, um
nach Möglichkeiten zu suchen,
dieGrenzezuüberqueren.Siever-
suchen, den Grenzfluss Evros zu
bezwingen. Auch in Bulgarien
wurden 1000 Sicherheitsleute an
die Grenze zur Türkei geschickt.

Quelle: APA, UNHCR,syria. live uamap.com; Foto: afp|DERSTANDARD

(Kontrollierte Gebiete, Stand 26. 2.)

Idlib

Antioche Harem

Ariha

Maaratal-Numan

Saraqeb

Assad-TruppenundVerbündete Kämpfe

Aleppo

SYRIEN


TÜRKEI

PROVINZ
IDLIB

Rebellengruppen mit Türkei Kurden

10 km

500 km

Mittelmeer

GRIECHENLAND SYRIEN

BULGARIEN

TÜRKEI
3,59 Mio.

ÄGYPTEN
130.

Griechische
Inseln

42.033*

LIBANON
910.
IRAK
250.

JORDANIEN
660.

PROVINZ
IDLIB

Grenzübergang
Edirne (Kastanies)

*Lesbos,Chios, Samos, Leros und Kos(alle Migranten, 27. 2.)

Die Zahl der
intern Vertriebenen
in Nordwest-Syrien
beträgt laut UNOCHA

948.000, davon
569.000 Kinder.
(Stand 26. 2. 2020)

Registrierte syrische Flüchtlinge im Ausland, Februar 2020

( lli bii d

Umkämpfte Provinz Idlib


Syrische Flüchtlinge in der Region

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