Der Standard - 02.03.2020

(coco) #1

20 |MONTAG,2.MÄRZ2020DKommentar ER STANDARD


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.at/cartoons

Flüchtlingsresettlementjetzt!

UmChaos an der EU-Grenzeabzuwenden, muss man Erdoğan ein Angebotmachen


Was also könnendie EU und ihre
Mitgliedsstaatentun, um diese höchst
ungemütlicheSituation zu entschär-
fen? Wichtig ist, dass es an den Unions-
außengrenzen zur Türkei nicht zum
Chaoskommt. Um ein solcheshintan-
zuhalten, muss Erdoğan motiviert
werden, seine Grenzöffnungsansage
zurückzunehmen.
Und zwar nicht ausschließlich
durch Geld, also weitere Zahlungen
aus der EU, die die Türkei in ihrer
Rolle als Auffanglager für in Europa
unerwünschte Fremde einbetonieren.
Sondern auch durch Entlastung dieses
Landes,dem beialler berechtigtenKri-

tik, etwa am Vorgehen gegen eigene
Oppositionelle, zu konzedieren ist,
dass es im Rahmendes Pakts mit der
EU Schulen, medizinischeVersorgung
und Sozialhilfe für hunderttausende
syrische Flüchtlingeorganisiert hat.
Nun, wo aus der RegionumIdlib in
Syrien kriegsbedingt weitere Zehn-
tausende Menschen in Richtung türki-
sche Grenzestreben,brauchtesZu-
sagen für das Resettlement einer sub-
stanziellen Zahl von Flüchtlingen aus
der Türkei in Staaten der EU. Klar, dazu
müssten viele Regierungschefs über
ihren Schattenspringen. Aberdringli-
cher als jetzt war das noch nie.

M

it der Ankündigung, Flücht-
linge nicht mehr am Grenz-
übertritt in die EU zu hindern,
hat dertürkischePräsident Tayyip
Erdoğan tausende Menschen zu politi-
scher Verschubmasseerklärt. In Ver-
bindung mit deraus Grenzabriegelung
und Tränengaseinsatz bestehenden
ReaktioninGriechenland ist dasein
humanitärer Skandal–umdas Drin-
gendste als Erstes zu nennen.
Die verzweifelte Lageder Menschen
an der türkisch-griechischen Grenze
scheint nämlich bisher niemanden be-
sonders zu interessieren: 13.000 Syrer,
Afghanen und Iraker–unter ihnen laut
Beobachtern viele Frauen mit Kindern
–haben vonSamstagauf Sonntagdie
erste Nacht frierend im Niemandsland
zwischenderTürkeiundGriechenland
verbracht.
Sollten, wie aus der Türkei am Sonn-
tag zu hören, weitereauf Einreise in die
EU hoffende Personen an die türkisch-
griechische Grenzekommen, werden
dortwohl Elendslager entstehen. Das
inKaufzunehmenwäreunmenschlich
–und inZeiten des Coronavirus, das
sich bei engem Kontakt von Mensch zu
Menschverbreitet, übrigens zusätzlich
fahrlässig.
Vor allemaber hat Erdoğan mit
seiner Grenzöffnungsankündigung für
Flüchtlinge einepolitische Bombe ge-
zündet,diedenEU-Flüchtlingsdealmit
der Türkei akut bedroht. Die Unions-
mitgliedsstaaten, die im EU-Ratüber
asylpolitischeBelange bestimmen, be-
finden sich dadurch in einer Zwick-
mühle: Setzensie alleinauf Abschot-
tung und hoffen dabei tatenlos auftür-
kischesEinlenken,riskieren sie, den
Kürzeren zu ziehen.

L

assen sie hingegennach Tagen
zunehmenden Drucks zu,dasses
zu unkontrollierten Einreisen
kommt, beschwören sie damitnicht
zuletzt innenpolitische Verwerfungen
herauf: Dass in derlei Situationenin
Europa vor allem rechte und rechtsra-
dikale Kreiseprofitieren, hatdie große
Fluchtbewegung der Jahre 2015/16 ge-
lehrt. Gegenkräfte, die aufmenschen-
rechtskonforme und praxistaugliche
Lösungensetzenund Ankommenden
zu helfen versuchen, geraten dann
raschindie Defensive.
Tatsächlich scharrendie Aufwiegler
schon mit den Hufen, in Österreich
natürlich in Gestaltder FPÖ.Ineiner
PresseaussendungvomSonntagistvon
geöffneten„Flüchtlingsschleusen“und
„drohender Masseninvasion“ die Rede.

Irene Brickner

KOPF DESTAGES


B

onjour, Mafia!“ Es
sind Momente wie
dieser, mit denen
sich der slowakische
Wahlsieger Igor Matovič
den Ruf eines unerbitt-
lichen Kämpfers gegen
Korruption erarbeitet
hat. Der Gruß aus dem
französischen Cannes
wenige Wochen vor der
Wahl war an die hei-
mische Regierungsriege
gerichtet –übermittelt
per Videobotschaft und
hunderttausendfach im
Internet geteilt.
Die Szenerie: Matovič
und einige Getreue ste-
hen, in uniformähnliche
Anoraks gehüllt, vor der
Villa eines slowakischen
Ex-Ministers. Im Hinter-
grund die wolkenver-
hangene Côte d’Azur.
Hier also würde es versi-
ckern, das Geld der
Steuerzahler, erklärt Matovič und
klebtdasPortalmitPlakatenvoll–wei-
ßen Zetteln mit Staatswappen und der
Aufschrift „Eigentum der Slowaki-
schen Republik“.
So etwas kommt an in einem Land,
in dem der Glaube an politischen An-
stand nach dem Mord am Enthül-
lungsjournalisten Ján Kuciak vor zwei
Jahren schwer erschüttert worden ist.
Nun aber muss der 46-Jährige zeigen,
dass er der richtige Mann ist, um wie-
der für stabile Verhältnisse zu sorgen.
Einfach wird das nicht. Zwar erhielt
seine Partei Oľano –die Abkürzung
steht für Gewöhnliche Menschen und
unabhängige Persönlichkeiten–mit

25 Prozent einen beacht-
lichen Vertrauensvor-
schuss. Doch dem ehe-
maligen Unternehmer
eilt der Ruf eines streit-
süchtigen Provokateurs
voraus, der sich früher
oder später mit den
meisten Weggefährten
zerkracht. Legendär ist
etwa sein Konflikt mit
möglichen Kandidaten,
denen er per Lügende-
tektor auf den Zahn füh-
len wollte.
Zudem fehlt seiner
Partei, die seit zwei Le-
gislaturperioden im Par-
lament ist, eine klare
Ausrichtung. Der ver-
heiratete Vater zweier
Kinder wurde bereits
2010 zum Abgeordneten
gewählt–damals noch
auf einem Ticket der li-
beralen SaS, mit der er
sich bald überwarf. 2012
trat er erstmals mit seiner eigenen Be-
wegung Oľano an, die sich von ideo-
logischen Etiketten abgrenzt und als
unberechenbar bis erratisch gilt.
SeinGeldhatMatovičnachdemMa-
nagementstudium in Bratislava mit
dem Aufbau eines Verlags gemacht,
der Regionalzeitschriften herausgab.
Ähnlichkeiten mit dem tschechischen
Unternehmer und Premier Andrej
Babiš, der ebenfalls aus der Slowakei
stammt und eine ideologieferne Partei
anführt, stellen Kenner beider Herren
aber infrage: Babiš habe im Gegensatz
zum wankelmütigen Matovičwirklich
ein Imperium aufgebaut–und seine
Partei fest im Griff. Gerald Schubert

Nichtlinks, nicht


rechts,aber jetzt


ganz oben


Der Ex-Unternehmer Igor
Matovič ist Wahlsieger
in der Slowakei.
Foto: EPA/Martin Divisek

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Die Sieger am Hindukusch


GudrunHarrer

A

uch wenn europäische Asylbehörden vielleicht ver-
suchen werden, dies so darzustellen: Nein, der „Frie-
densvertrag“ für Afghanistan, den die USA und die
Taliban am Samstag unterschrieben haben, ist kein Wen-
depunkt in der afghanischen Flüchtlingsproblematik. Für
die pessimistische Einschätzung reicht es eigentlich, daran
zu erinnern, wer dieser „Friedenspartner“ ist, der nun –
natürlich abseits der Unterzeichnungszeremonie in Doha
–den„SiegdesWeißenTurbansüberdieArroganzdesWei-
ßen Hauses“ verkündet. Von den Säkularen, den Frauen
bis zu den Schiiten gibt es ganze Bevölkerungsgruppen, die
von einer Zukunft in einem Afghanistan, in dem die fun-
damentalistisch-islamistischen Taliban das Sagen haben,
Schlimmes erwarten. Sie haben es ja schon einmal erlebt.
Ja, es gibt keine militärische Lösung, und die Taliban sind
heute, fast achtzehneinhalb Jahrenach dem Eingreifender
USA und der Nato im Oktober 2001, militärisch stärker
denn je. Vor allem will US-Präsident Donald Trump, von
dem die Taliban nun den persönlichen Auftrag bekommen
haben, „böse Leute zu töten“, in einem Wahljahr aus Afgha-
nistan heraus: Genaugenommen heißt das, dass mit der
Reduktion auf 8600 Soldaten innerhalb von 135 Tagen die
US-Truppenstärke erreicht wird, die Trump zu seinem
Amtsbeginn vorfand. Aber bis Frühling 2021könnten tat-
sächlich alle US-Kampftruppen abgezogen sein.
Es wäre jedoch ein Missverständnis zu glauben, dass die
TalibandafüreineumfassendeWaffenstillstandsverpflich-
tung eingegangen sind: Ein Ende des Kriegs ist Thema der
innerafghanischen Verhandlungen, die in Kürze aufge-
nommen werden sollen und deren Zeitplan und Ausgang
ungewiss sind. Eine Waffenruhe gilt derzeit im Grunde nur
zwischen Taliban und USA. Was die Taliban dafür zu leis-
ten haben, ist zu verhindern, dass Afghanistan wieder zum
Aufmarschplatz für Al-Kaida und Konsorten wird. Dafür
sollen die US- und UN-Sanktionen gegen die Taliban fal-
len –und zwar relativ rasch, bis zum Sommer, auch wenn
es dann noch keine innerafghanische Lösung gibt.
Man muss sich an der Hoffnung festhalten, dass auch die
Taliban kriegsmüde sind–und tatsächlich verstanden ha-
ben, dass sie Afghanistan nicht allein und nur nach ihrem
paschtunischen Islam regieren können. Angesichts der
zehntausenden Afghanen und der tausenden Nato-Sol-
daten, die ihr Leben in diesem Krieg verloren haben, wäre
es jedoch obszön, diesen Deal einen „Frieden“ zu nennen.


Frauen,selber schuld?


Karin Bauer

M

ehr Frauen im Team bringen einem Unternehmen
mühsame Teilzeitregelungen, aber keine wirt-
schaftlichen Vorteile. Das scheint die vorherr-
schende Meinung der heimischen Wirtschaft zu sein. Hie-
sige Unternehmen sehen die Gleichstellung von Frauen als
gesellschaftliches und individuelles Thema, nicht als
unternehmerische Verantwortung, zeigt eine bundesweite
Umfrage des Beraterhauses Deloitte zum Weltfrauentag.
Wir haben zwar kiloweise Belege, dass Unternehmen mit
Geschlechterdiversität nachhaltig bessere Profits abwerfen
–das ist von Institutionen wie der London School of Eco-
nomics auf- und abwärts berechnet. In Österreich legt man
diesbezüglich auf Betriebswirtschaft keinen besonderen
Wert? Das ist irgendwie wunderlich.
Warum beschäftigen sich heimische Firmen überhaupt
mit Chancengleichheit im Job? Fast zwei Drittel glauben,
dass das gut ankommt im sogenannten War for Talents,
auch aus Fairness. Irgendwie weiß man offenbar, dass die
jungen Generationen Diskriminierung nicht wollen. Wett-
bewerbsvorteile daraus sind in Österreich minder relevant.
Komisch: Sogar die Rainmaker von Goldman Sachs–jene
Investmentbanker, die von Börsengängen leben–haben
sich verpflichtet, nur mehr Firmen mit entsprechendem
Frauenanteil in der Führung an die Märkte zu bringen. Was
kümmert’s uns in Österreich?
Interessant ist die Einigkeit beim Thema Aufstiegschan-
cen: Neun von zehn Firmen sehen klar Karrierehürden für
Frauen am Arbeitsmarkt. Warum das so sei? Gesellschaft-
liche Faktoren sind schuld, konservative Rollenbilder, feh-
lende Infrastruktur in der Kinderbetreuung und Vorurtei-
le, sagen die Firmen. Gut, dann sind es ja eh „die anderen“,
die eine Gleichstellung verhindern. Mit Führungsstil, alter
Präsenzkultur, Meetings nach 18.00 Uhr und geschlosse-
nen Männernetzwerken hat das nichts zu tun?
Schnell noch gefragt: Warum verdienen Frauen eigent-
lichwenigeralsMänner–wohlgemerktimmerhochgerech-
net auf Vollzeitäquivalente und ohne wilde Durchmi-
schung von Branchen? Sie verhandeln eben schlecht, lau-
tet die Antwort. Vielleicht ist die Entscheidung des Obers-
ten Gerichtshofs nicht bekannt, wonach individuelles Ge-
schick im Verhandeln Ungleichbezahlung keineswegs
rechtfertigt.Argumentiertwirdwieimmer:DieFrauensind
selbst schuld. Schulterzucken.
Die beste Antwort darauf: Deshalb brauchen wir Quoten.

GLEICHSTELLUNG


FRIEDEN ZWISCHEN USAUNDTALIBAN

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