Der Standard - 02.03.2020

(coco) #1

4 |MONTAG,2.MÄRZ 2020 International DER STANDARD


Zweifel amTagnach


demFriedensdeal


Kabul kritisiertUS-Deal mitdenTaliban


S

pätestens am Tag nach der feierlichen Unter-
zeichnung war wieder Nüchternheit einge-
kehrt: Keine 24 Stunden nach den Zeremonien,
bei denen am Verhandlungsort Doha und in Kabul
das als historisch gesehene Friedensabkommen
zwischen den USA und den afghanischen Taliban
besiegelt wurde, gab es schon wieder Zweifel. Der
afghanische Präsident Ashraf Ghani, der nicht mit-
verhandelt hatte, meldete sich zu Wort. Er wider-
sprachineinigenbedeutendenPunkten.Darunterist
der Zeithorizont für einen Gefangenenaustausch,
den die beiden Unterzeichner vereinbart hatten und
der für die Taliban ein zentraler Punkt gewesen war.
Dem Abkommen nach sollen 5000 Taliban-Kämp-
fer aus staatlichen Anstalten entlassen werden, im
Gegenzug ließen die Islamisten 1000 Mitglieder der
afghanischen Sicherheitskräfte frei. Es liege dieser
Punkt aber „nicht in der Befugnis der USA“, sagte
Ghani. Und es gebe keine Zustimmung seinerRegie-
rung, die auf die Verhandlungen ohnehin nur zaghaft
und lange ablehnend reagiert hatte. Ghani fürchtet
auch um die verbliebene Stabilität, derenBestand
vonder Vertragstreue der Taliban abhängig wäre.
Denn derwichtigste Punkt des Deals ist ja der Abzug
der US-Truppenbinnen 14 Monaten und eine Dis-
tanzierung der Taliban von terroristischen Gruppen.
Wie Kabul Letzteres–und auch Menschenrechte –
US-Sondergesandter Zalmay KhalilzadundMullah Abdul Ghani Baradar von den Taliban bei der Unterzeichnung inDoha. durchsetzenwürde, ist unklar. (red) KommentarS.

Foto: AFP

/K

arim Jaafar

DergefalleneFavorit für die Präsidentschaftsnominierung bei den Demokraten feiert in South Carolinaein Comeback.
Ob er den Schwung in den SuperTuesdaydieseWoche mitnehmen kann, istaberweiterhin offen.

auch wenn überraschte, wie klar
er gewann. Er selbst hatte den
„Palmetto State“ an der Südost-
küste einst als seine Brandmauer
bezeichnet, als eine Etappe, die
seinen schwachen Start in Iowa
und New Hampshire vergessen
lassen würde. Bei schwarzen
Amerikanern, die dort bei den De-
mokraten 56 Prozent der Wähler-
schaft bilden, steht er schon des-
halb hoch im Kurs, weil er acht
Jahre lang mit Barack Obama ein
weitgehend reibungslos funktio-
nierendes Gespann bildete.

Bekannte Größe statt Risiko
Zudem hatte sich ein einfluss-
reicher Lokalmatador mit einer
Verve für ihn eingesetzt, wie man
sie selten erlebt. Der Kongressab-
geordnete James Clyburn, aktuell
ranghöchster Afroamerikaner im
Politikbetrieb Washingtons, rief
mehrmalsdazuauf,Bidenzuwäh-
len, statt mit Sanders’ Wahl ein
hohes Risiko einzugehen. Augen-
maß statt gewagter Experimente:
In seiner Siegesrede griff Biden

S

ogelöst wie Joe Biden am
Samstagabend in Columbia,
der Hauptstadt South Caro-
linas, hinter einem Pult mit der
Aufschrift „Biden President“
steht, hat man ihn lange nicht
mehr gesehen. Zum ersten Mal
überhaupt, nach zwei missglück-
ten Anläufen 1988 und 2008 und
einem verpatzten Start in diesem
Jahr, hat er bei einer Vorwahl ge-
wonnen. Und weil der Veteran
gern Vergleiche mit Kampfsport-
arten anstellt, feiert er sein Come-
back mit einer Metapher aus der
Welt des Boxens.
„Diejenigen unter euch,die
schon einmal zu Boden geschla-
gen, ausgezählt, abgehängt wur-
den: Dies ist eure Kampagne!“, ruft
er seinen Anhängern zu, die es mit
ausgelassenem Jubel quittieren.
Noch vorwenigen Tagen habe die
Presse seine Kandidatur für tot er-
klärt. „Dank euch, die ihr das Herz
der Demokratischen Partei seid,
habenwir nun gewonnen.“
Mit48ProzentderStimmenent-
schied Biden die vierte Etappe des


Kandidatenrennens der Demokra-
ten eindeutig für sich. Bernie San-
ders, der linke Senator aus dem
Neuenglandstaat Vermont, kam
auf 20 Prozent, womit er unter den
Erwartungen blieb. Enttäuschend
schnitten Pete Buttigieg (acht Pro-
zent), Elizabeth Warren (sieben
Prozent) und Amy Klobuchar(drei
Prozent) ab, sodass sich die Frage
stellt, wie lange sie den Wahlma-
rathon noch durchhalten können.
Tom Steyer, ein Hedgefonds-Mil-
liardär aus San Francisco, enga-
giert im Kampf für den Klima-
schutz, zog noch in der Nacht auf
Sonntag, ernüchtertangesichts of-
fensichtlicherChancenlosigkeit,
die Reißleine. Zwar holte er elf
Prozent der Stimmen, aber da er
sich ganz auf South Carolina kon-
zentrierte, dort lang unterwegs
war und von allen Bewerbern die
mit Abstand höchste Summe für
Fernsehreklame ausgab, hatte er
sich mehr ausgerechnet.
Dass Biden als Erster durchs
Ziel gehen würde, entsprach den
Prognosen der Meinungsforscher,

das Motiv auf. Das Gerede von
einer Revolution ändere bei nie-
mandem etwas im praktischen
Leben, kritisierte er Sanders.
Ob der Triumph in South Caro-
lina tatsächlich die ersehnte Wen-
de für Biden bedeutet oder aber
nur eine Art Zwischenhoch, wird
sich am Dienstag erweisen, wenn

in 14 Bundesstaaten gewählt wird
und 34 Prozent der Delegierten-
sitze des Nominierungskonvents
zu vergeben sind. Sanders baut
darauf, die Konkurrenz in Kalifor-
nien und Texas so klar abzuhän-
gen, dass er nach dem Super Tues-
day mit deutlichem Vorsprung an
der Spitze des Feldes liegt. Sonn-
tag kommentierte er: „Es gibt vie-
le Staaten in diesem Land, und
niemandkanninallengewinnen“.
Biden wiederum will Dienstag
vor allem in Südstaaten mit ho-
hem afroamerikanischem Bevöl-
kerungsanteil so viele Stimmen
holen, dass er unangefochten die
Führung des moderaten Flügels
übernimmt. In dem Fall müssten
andere Gemäßigte wohl bald das
Handtuch werfen. Auch Michael
Bloomberg, Multimilliardär aus
New York, der Dienstag erstmals
auf Stimmzetteln steht, sollte all-
mählich, so suggerieren es Spre-
cher Bidens, ans Aufgeben den-
ken. Es sind Gedankenspiele,
denen Bloomberg zumindest für
den Moment eine Absage erteilt.

JoeBiden feiert seine Auferstehung


Frank Herrmann aus Washington

Mobbingklagen treffenJohnsonsInnenministerin–und dieRegierung


Der höchsteMitarbeiter im britischenInnenministeriumgeht, übtharte Kritik an seiner Ex-Chefin undzieht nunvorGericht


Sebastian Borger aus London

K

napp drei Monate nach
dem Wahlsieg schlingert
die konservative britische
Regierung. Premier Boris John-
son musste Kritik einstecken, weil
er Überschwemmungsopfern im
englischen Norden einen Soli-
daritätsbesuch verweigerte. Durch
den dringender werdenden Infor-
mationsbedarf im Hinblick auf die
Auswirkungen des Coronavirus
wirkt der Regierungsboykott der
öffentlich-rechtlichen BBC zuneh-
mendalbern.UndderInnenminis-
terinPritiPatelstehteinpeinlicher
Arbeitsgerichtsprozess ins Haus.
Die Querelen im notorisch
schlampigen Ministerium bestim-
men seit mehr als einer Woche die
Schlagzeilen der Zeitungen. Am
Samstag ging dann der oberste


Beamte des Hauses einen spekta-
kulären Schritt in die Öffentlich-
keit: Die Ministerin sei verlogen,
unbeherrscht und am Mobbing
beteiligt, so Staatssekretär Philip
Rutnam. Weil es aus Patels Um-
feld eine „gehässige Kampagne“
gegen ihn gebe und die Politikerin
eine Ehrenerklärung für ihn ver-
weigere, verlasse er den Dienst
und verklage die Regierung wegen
„ungerechtfertigter Entlassung“.
In Großbritannien ist die Beam-
tenschaft traditionell politisch
neutral. Bei Regierungswechseln
hat es schon früher Neubesetzun-
gen hoher Ämter, nicht zuletzt der
Amtschefs in wichtigen Ministe-
rien, gegeben; meist verliefen die-
se geräuschlos. Offenbar versuch-
tederKabinettssekretärMarkSed-
will, der höchste Beamte des Lan-
des,auchdiesmaleinegütlicheEi-

nigung herbeizuführen, was an
den Protagonisten scheiterte. Das
sei„sehrbedauerlich“,glaubtSed-
wills Vorgänger Robin Butler, der
Ende des vergangenen Jahrhun-
derts gleich drei Premiers (That-
cher, Major und Blair) diente.

Steile Karriere nach dem Tief
Die Parteirechte Patel arbeitete
als Lobbyistin für die Alkohol-
und Tabakindustrie, ehe sie 2010
ins Unterhaus kam. Ihrem Eintre-
tenfürdieTodesstrafehatsiemitt-
lerweile abgeschworen, energi-
sche Brexit-Befürworterin blieb
sie. Als Frau mit Migrationshin-
tergrund–ihre Eltern kamen aus
Indien via Uganda auf die Insel –
machte sie in ihrer von weißen
Männern geprägten Partei rasch
Karriere, gehörte auch schon
unter Theresa May als Entwick-

lungshilfeministerin dem Kabi-
nett an, wurde aber wegen gehei-
mer Kontakte zur israelischen Re-
gierung gefeuert. Damals wurde
Patel bei einer Lüge ertappt.
Seit Johnson sie im Juli überra-
schend in eines der schwierigsten
Ministerienberief,häufensichdie
Probleme. Die Ministerin schreie
herum, mache Mitarbeiter zur
Schnecke und veranlasse unnöti-
ge Nachtschichten, hieß es lange
hinter vorgehaltener Hand.
Die BBC berichtete am Sonntag
zusätzlich über die Mobbingbe-
schwerde einer Beamtin im
Arbeitsministerium wo Patel 2015
tätig war. Solche Berichte seien
meist „Hinweis auf eine Überfor-
derung“, glaubt Jonathan Powell,
der dem Labour-Premier Tony
Blair (1997 bis 2007) als Stabschef
diente. Aus Johnsons Amtssitz an

der Downing Street hieß es knapp,
der Premier habe „Vertrauen in
sein Kabinett“. Der Favorit im
Rennen um den Labour-Parteivor-
sitz, Keir Starmer, forderte eine
umfassende Untersuchung.
Ob zufällig oder nicht lüftete
Downing Street am Samstag ein
mehr oder weniger offenes Ge-
heimnis: Johnsons Freundin Car-
rie Symonds erwartet ihr erstes
Kind. Erst im vergangenen Monat
einigte sich Johnson mit seiner
langjährigen zweiten Frau Mari-
na, der Mutter seiner vier eheli-
chen Kinder, auf die Scheidung,
von der seit zwei Jahren die Rede
war. Die PR-Expertin Symonds
lebt bereits seit Juli mit dem Re-
gierungschef zusammen. Das für
Sommer prognostizierte freudige
EreignisfandsichSonntagaufden
Titelseiten vieler Zeitungen.

Joe Biden gab sich am Sonntag
sogelöst wie lange nicht mehr.
Foto: Imago/Zuma/Hogan
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