Die Welt - 22.02.2020

(Barré) #1
Als Adrian Kerner, 47, das mit Tuch
ausgeschlagene Holzkästchen öffnete,
ahnte er noch nicht, dass es ein Ge-
heimnis birgt. Er hatte es bei der Haus-
haltsauflösung des Großelternhauses
gefunden – und es nicht übers Herz ge-
bracht, die Kiste wegzuwerfen. Er legte
sie erst einmal beiseite. Darin liegen,
akkurat sortiert, die persönlichen Do-
kumente seines 1980 verstorbenen
Großvaters Joseph. Familienfotos. Ein
längst abgelaufener Pass. Und, ganz
unten, ein sorgfältig gefaltetes, vergilb-
tes Dokument, bestehend aus drei eng
beschriebenen Seiten. Es sieht aus, als
ob es viele Jahrzehnte immer wieder
mit den Fingern vorsichtig glatt gestri-
chen worden wäre.
Es ist ein Ticket nach Amerika.
One Way. Die Wildcard zum Auswan-
dern. Doch sein Großvater Joseph hatte
sie damals nicht eingelöst, jedoch wie
einen Schatz aufgehoben. Warum nur
ließ ein lediger Schustergeselle eine
Passage nach New York mit einem
Schiff der Reederei Cunard Line von
1923 verfallen? Sie war im Voraus be-
zahlt worden. Damals, zu Zeiten der ga-
loppierenden Inflation, entsprach die
Summe mindestens dem Jahresgehalt
eines Handwerkers.
Sein Enkel, von Beruf Bundeswehrof-
fizier, will mehr wissen. Mithilfe von
WELT geht er auf Spurensuche. Das Ti-
cket der Cunard Line Nr. 85920 ist aus-
gestellt auf Joseph Kerner, übersetzt in
sieben weitere Sprachen: Deutsch, Un-
garisch, Jiddisch, Tschechisch, Slowa-
kisch, Rumänisch und Kroatisch. Da-
mals wanderten Millionen Menschen
aus Europa nach Amerika aus. Josephs
Prepaid-Ticket galt ein Jahr lang, ausge-
stellt am 6. April 1923, bezahlt von ei-
nem Herrn Anton Folk aus der 1310, Se-
minary Avenue, in der Kleinstadt Bloo-
mington im US-Bundesstaat Illinois. Es
umfasste nicht nur die Überfahrt, son-
dern zugleich auch die Anreise von dem
Schwabendörfchen St. Anna im heuti-
gen Rumänien sowie die Weiterreise in
den Mittleren Westen.

J


osephs Tochter lebt heute im
bayerischen Landshut. Hilde Ker-
ner, 82, erinnert sich an den Rei-
seplan. Sie sagt: „Mein Vater hat darü-
ber nie sprechen wollen. Er war ein stil-
ler, verschlossener, gutmütiger Mann.
Er hat sich für seine Familie aufgeop-
fert. Ich glaube, in seinen letzten
Lebensjahren hat er sich sehr gegrämt,
damals nicht nach Amerika ausgewan-
dert zu sein.“
Joseph wuchs mit mehreren Schwes-
tern auf, er war der einzige Junge. Sei-
ne älteste Schwester Katharina war be-
reits zehn Jahre zuvor, allein, nach
Amerika ausgewandert: Mit 21 Jahren
reiste sie im Juli 1913 auf der letzten
Fahrt der „Neckar“ kurz vor dem Aus-
bruch des Ersten Weltkrieges von Bre-
men nach Baltimore und fand Unter-
kunft und Arbeit bei entfernten Cou-
sins und Cousinen in dem Örtchen
Bloomington. Als sie sich mit dem Ge-
schäftsmann George Hoffman verlob-
te, das war um 1921, begann sie, ihre Ge-
schwister nachzuholen. Der amerikani-
sche Emergency Quota Act von 1921 be-
günstigte deutsche Bewerber. 51.000
durften pro Jahr einreisen, mehr als
aus irgendeinem anderen europäischen
Land. Auch in Bloomington waren da-
mals fleißige Handwerker, Kranken-
schwestern und Näherinnen gesucht,
aber auch Hausfrauen. So wanderte Jo-
sephs jüngere Schwester Magdalena,
genannt Lentschi, 1921 aus. Sie reiste

GETTY IMAGES/ BILDBEARBEITUNG WELT (2); ADRIAN KERNER

(2); CUNARD; BETTMANN ARCHIVE

A


mit 24 Jahren auf der „Germania“ von
Hamburg nach New York und zog zu
ihrer Schwester Katharina. Beide ver-
suchten, ihren kleinen Bruder Joseph
ebenfalls nachzuholen. Sie überzeug-
ten den Mann einer Cousine, den
Händler Anton Folk, die Summe für ei-
ne Schiffspassage vorzustrecken. Das
hätte Joseph nach und nach abarbeiten
sollen.

S


eine Tochter Hilde Kerner ver-
mutet heute: „Joseph war damals
erst 17, minderjährig. Er hätte die
Erlaubnis seines Vaters benötigt. Auch
das Visum hätte er selbst nicht beantra-
gen können.“ Aber der Vater Anton ließ
seinen einzigen Sohn nicht ziehen. Jo-
seph gab schließlich nach – und blieb in
St. Anna. Der Kontakt zu den Schwes-
tern in Amerika brach fast ab. Geplante
Heimatbesuche machte die Weltwirt-
schaftskrise 1929 mit dem Schwarzen
Freitag zunichte, dann trennte der
Zweite Weltkrieg die Familie – und sie
kamen nie wieder zusammen.
Joseph blieb als Schuster in St. An-
na, heiratete, zog zwei Kinder groß,
Hilde und Wilhelm. 1945 geriet er in
russische Kriegsgefangenschaft, über-
lebte fünf Jahre Zwangsarbeit, arbei-
tete nach seiner Rückkehr in einer
Schuhfabrik. Aufgrund der Enteignun-
gen durch das kommunistische Re-
gime in Rumänien verarmte die Fami-
lie, verlorihre Ersparnisse. Seine Kin-
der Hilde und Wilhelm wanderten
nach Deutschland aus. Er kümmerte
sich um eines der Enkelkinder.

V


on seinen Schwestern in Ameri-
ka hörte er so gut wie nichts
mehr; der ohnehin nur sporadi-
sche Briefkontakt verebbte. Seine
Tochter Hilde erinnert sich: „Ich
glaube, das hat Joseph sehr bedauert.“
WWWas er nicht wissen konnte: Seineas er nicht wissen konnte: Seine
Schwester Magdalena war kinderlos
bereits 1934 an den Folgen einer
Krankheit in einem Chicagoer Kran-
kenhaus gestorben. Katharina zog in
Bloomington drei Kinder groß: Helen,
geboren 1924, George, geboren 1926,
und den nach ihrem in Europa geblie-
benen Bruder benannten jüngsten
Sohn: Joseph, geboren 1928. Katharina
starb in den 70er-Jahren auf der ande-
ren Seite des Atlantiks.Joseph erlag
1980 den Folgen eines Schlaganfalls.
Den Enkel hat das erst jetzt gelüftete
Geheimnis seiner Familie sehr berührt.
Er überlegt, wie er seinem Großvater ei-
nen letzten Gefallen erweisen könne –
und hat eine verrückte Idee. Kurzent-
schlossen ruft Adrian Kerner bei der
Reederei Cunard an. Er fragt, ob das 97
Jahre alte Ticket noch gültig sei – und er
damit stellvertretend für seinen Groß-
vater über den Atlantik fahren könne.
Die Antwort der Reederei: Ja.
Anja Tabarelli, Director Sales & Mar-
keting Cunard Deutschland, erklärt:
„Ein 97 Jahre altes Ticket – was könnte
passender sein zu unserem diesjährigen
Jubiläum: 180 Jahre Cunard? Wir freuen
uns, Adrian Kerner dabei zu unterstüt-
zen, seine Familiengeschichte fortzu-
schreiben und mit uns zusammen ein
neues Kapitel zu beginnen.“
Adrian Kerner wird also mit seiner
Frau Georgeta, 40, zum ersten Mal auf
Kreuzfahrt gehen. Sie werden damit ih-
re Hochzeitsreise nachholen – und fah-
ren im Sommer auf der „Queen Mary 2“
von Southampton nach New York. Mit
dabei: das Porträtfoto seines Großva-
ters Joseph als junger Mann. Passender-ters Joseph als junger Mann. Passender-
weise läuft die Transatlantiktour unter
dem Thema „Ahnenforschung“.
Er hat sich noch etwas vorgenom-
men. Irgendwann will Adrian Kerner
nach Bloomington, Illinois, reisen –
auf den Spuren der vergessenen
Ahnen.

Ein


vergilbtes


Ein


ergilbtes


Ein


Ticket


Im Nachlass seines Großvaters findet Adrian Kerner eine 97 Jahre alte


Schiffsfahrkarte. Sie wurde nie eingelöst. Kira Hanser geht mit dem


Enkel auf Spurensuche – und sie lösen ein Familiengeheimnis


nach New York


ergilbtes


nach New York


ergilbtes


JOSEPH HAT SICH SEHR GEGRÄMT,


DAMALS NICHT NACH AMERIKADAMALS NICHT NACH AMERIKA


AUSGEWANDERT ZU SEIN


,,


Verblüffend ähnlich: Enkel Adrian Kerner (u.)
mit dem 97 Jahre alten Schiffsticket.
Oben: Sein Großvater Joseph als junger Mann
in den 1920er-Jahren

Auswandererglück: Unterwegs mit der „Mauretania“ nach New York, Gemälde um 1920

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22.02.20 Samstag, 22. Februar 2020DWBE-VP1


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