Süddeutsche Zeitung - 22.02.2020

(WallPaper) #1

75 Jahre nach der Befreiung vom Faschis-
mus durch Rote Armee und Alliierte ha-
ben wir in unseren Parlamenten, im
Staatsapparat, genauso wie in den Medi-
en viele Faschisten und den Rechtsextre-
mismus legitimiert. Die Akten der NSU
sind für Jahrzehnte geschlossen. Rechts-
extreme Terroristen werden zu Einzeltä-
tern mit psychischen Problemen umeti-
kettiert. Die CDU/CSU vulgarisiert mit ob-
skuren Theorien wie der vom „Hufeisen“
den rechten Terror und bewirbt sich als
Steigbügelhalter für die Faschisten der
AfD. Die FDP gesellt sich hinzu – und
lässt sich vom Faschisten Höcke wählen.
Der ehemalige Präsident des Verfassungs-
schutzes, der qua Amt mitverantwortlich
war für Unterlassungen bei der Bekämp-
fung rechter Netzwerke, sympathisiert
wohl nicht erst seit Amtsaufgabe mit
rechtsextremen Positionen. Ähnliches be-
obachten wir in Polizei, Armee, Justiz, bei
Bürgerinnen mit und ohne Mandat.
Nationalismus und Faschismus sind
global auf dem Vormarsch. So soll die kur-
dische Familie von einem der in Hanau er-
mordeten jungen Menschen aus der Tür-
kei geflohen sein. Hunderttausende
Kurd
innen fliehen gerade aus Idlib, das,
von Erdoğan initiiert, zur Eskalationszo-
ne wurde statt zur Schutzzone. Einen Tag
vor Hanau zog sich den Nachrichten zufol-
ge Erdogan „persönlich die höchste Rich-
terrobe an“ und sorgte dafür, dass der ge-
rade in allen Anklagepunkten freigespro-
chene Osman Kavala erneut verhaftet
wurde. Zugleich wurde ein Ermittlungs-
verfahren gegen die freisprechenden
Richter eröffnet. Kavala leitet Anadolu
Kültür, eine zivilgesellschaftliche Stif-
tung in der Türkei, die sich für Minderhei-
ten und Versöhnung einsetzt, so wie in Bil-
dungsprojekten in mehrheitlich kurdisch
bevölkerten Konfliktzonen, in welche die
Fliehenden aus Idlib gelangen – wenn sie
Glück haben und auf der Flucht nicht ge-
waltsam sterben.
75 Jahre nach der Befreiung vom Fa-
schismus macht nicht nur die deutsche
Wirtschaft, sondern unsere Regierung


selbst Deals mit Faschisten in der Außen-
politik und ist mitverantwortlich für die To-
ten von Idlib – und jenen im Mittelmeer.
Bisher versagt sie schlicht bei der Bekämp-
fung von rechtem Terror auf deutschem
Boden. Der Befund ist klar, nichts davon ist
neu. Der Befund ersetzt aber nicht das not-
wendige Handeln. Auf die Gewalt kann es
nur die Antwort staatlicher Gewalt geben.
Der rechte Terror und die rechtsextremen
Netzwerke müssen konsequent zerschla-
gen und nicht weiter diskutiert werden.

Shermin Langhoff, 50, ist Intendantin des
Maxim-Gorki-Theaters in Berlin

Ich habe mein Atelier im Bahnhofsviertel
in München neben den Shisha-Bars. Ab
und zu denke ich, dass hier auch etwas
passieren könnte. Bei dem Anschlag
beim Olympia-Einkaufszentrum hatte
ich Panik, dass jemand auch hier Leute er-
schießt. Nach Hanau habe ich gedacht, es
hätte die Shisha-Bar neben meinem Ateli-
er sein können. Wenn Politiker sagen:
„Der Anschlag hat uns alle getroffen“,
stimmt das so nicht. Es sind nicht alle
Menschen gleichermaßen bedroht. Die-
ser Rechtsextremismus war immer da, er
wurde nur verdrängt. Und jetzt werden
diese Leute mutiger. Man hört immer
noch das Wort „Fremdenfeindlichkeit“.
Wir sind keine Fremden, sondern hier ge-
boren und wir leben hier. Dahinter steckt
ein großes Nichtkennen, auch Desinteres-
se, dann ist es einfacher, uns als fremd zu
bezeichnen. Aber mit politischen Äuße-
rungen bin ich vorsichtig, auch im Netz.
Wenn man sichtbar und erfolgreich ist,
wird man Rassisten ein Dorn im Auge.

Ayzit Bostan, 51, ist Künstlerin und
Designerin.

Ich möchte als Erstes die Namen der Op-
fer nennen: Gökhan Gültekin, Ferhat Ün-
var, Hamza Kurtović, Mercedes Kierpacz,
Sedat Gürbüz, Kalojan Welkow, Bilal Gök-
çe, Said Nessar El Hashemi, Fatih
Saraçoğlu. Ihrer zu gedenken, ist das Min-
deste, was wir tun können. Es macht mich
wütend, dass 2020 immer noch von „Aus-
länderfeindlichkeit“ gesprochen wird. Die-
se Menschen sind Subjekte, keine unbe-
deutenden Gruppen oder „Ausländer“.
Das hat viel mit der Empathieunfähigkeit
der Dominanzgesellschaft zu tun. Lippen-
bekenntnisse und Polizeiwagen vor Mo-
scheen, wie sie Innenminister Seehofer in
Aussicht stellt, reichen nicht. Kurz empört
zu sein und dann zur Tagesordnung zu-
rückzukehren. Wo wir dieselben anma-
ßenden, rassistischen Stereotype über li-
banesische Clans oder gefährliche Musli-
me hören. Rassismus erzeugt Angst. Und
nicht Angst Rassismus. Menschen, die
von Rassismus betroffen sind, haben ei-
nen Grund, Angst zu haben. Es geht jetzt
nicht um die Sorgen der Dominanzgesell-
schaft. Nach Hanau reden weiße Männer,
dabei möchte ich die Stimmen der Angehö-
rigen oder Opfer hören oder von Perso-
nen, die von Rassismus betroffen sind. Ich
war mit meinem siebenjährigen Kind auf
der Demonstration in Neukölln und muss-
te ihm erklären, was passiert ist. Dass Ras-
sismus tötet. Ich habe mich an meine Kind-
heit in Deutschland erinnert, Mölln, Ros-
tock, Solingen. Das hat nie aufgehört.

Nuray Demir, geboren 1983 in Meschede,
ist Künstlerin und Kuratorin.

Die Kugeln des Attentäters treffen auch
mich und sie treffen uns alle. Sie treffen
auch unsere Demokratie. Aber über-
rascht bin ich nicht. Ich wurde nicht in
Deutschland geboren, lebe aber seit
50 Jahren hier, und trotzdem habe ich
seit ungefähr 2015, seit dem sagenhaften
Aufstieg der Rechten, jeden Tag Angst, so-
bald ich das Haus verlasse. Angst davor,
auf der Straße angegriffen zu werden,
Angst vor Übergriffen, vor plötzlichen
Faustschlägen. Damit rechne ich im Grun-
de jeden Moment. Diese Angst ist in den
letzten Jahren stärker geworden. Verbale
Übergriffe hat es immer gegeben, aber
seit den Morden des NSU hat sich die La-
ge geändert. Heute rechne ich jederzeit
damit, körperlich angegriffen zu werden.


Aras Ören, 80, ist Schriftsteller.


Die Radikalen sah man früher nur und ab
und zu in den Nachrichten, wie sie bei ir-
gendwelchen Demos aufmarschierten,
mit Bomberjacken und Springerstiefeln.
Dann kam der NSU und das, was man in
der Öffentlichkeit zunächst „Dönermor-
de“ nannte (Wer immer diesen Begriff in
die Welt gesetzt hat, ich werde es ihm nie
verzeihen). Inzwischen sitzen sie im Bun-

destag, auf Richterstühlen und im Verfas-
sungsschutz. Sie sitzen im Stadion und ma-
chen Affenlaute. Sie starren auf Bildschir-
me von Polizei-Rechnern und schicken
Drohbriefe, die sie mit „NSU 2.0.“ unter-
schreiben.
Sie töten Menschen aufgrund ihres Aus-
sehens und ihrer Herkunft. Dadurch, dass
es schon lange nicht mehr nur um Ausgren-
zung geht, sondern auch Gewalt angewen-
det wird, ändert sich alles. Je gewalttätiger
es zugeht, je stärker und brutaler die Rech-
ten werden, umso mehr verbietet es sich
eigentlich, passiv zu bleiben. Und wenn
man zwischen den Kulturen aufgewach-
sen ist, fragt man sich, ob man wirklich
noch im Dazwischen verharren kann. Oder
ob man die eine Seite der Identität, die eige-
nen Wurzeln, nicht doch im Stich lässt,
wenn man sich aus allem heraushält. Mit je-
dem rechtsradikalen Angriff wird das Ge-
fühl stärker, etwas tun zu müssen. „Can’t
we just all get along?“
Diese Frage, die Rodney King auf dem
Höhepunkt der Rassenunruhen in Los An-
geles vor laufenden Kameras stellte, habe
ich mir auch schon oft gestellt. Heute lau-
tet meine Antwort darauf: Leider nein.
Wenn die eine Seite in den Krieg zieht,
wenn sie zum Angriff übergeht, sich be-
waffnet, Menschen umbringt, dann müs-
sen sich alle anderen fragen, wie darauf zu
reagieren ist. Und eine Antwort finden. Ich
selbst habe keine Lösung, ich weiß nur,
dass alle bisherigen Lösungsansätze nicht
ausreichen. Es braucht neue Lösungen.
Irgendetwas muss passieren. Denn wir
haben Angst. Und wir haben endgültig
genug.

Cihan Acar, 33, ist Schriftsteller.

endlich. endlich kriechen die nazis aus
ihren löchern heraus. mit ihrem uralten
hass und dem modernsten sozialen netz-
werk. aber deutschland – das demokra-
tischste deutschland, das es je gegeben
hat – wird eine passende antwort darauf
finden: mit vernunft und solidarität.


SAID, 73, ist Schriftsteller.


Sie töten meine Brüder und Schwestern.
Sie besudeln dieses Land mit ihrem Ter-
ror. Sie nennen sich deutsche Patrioten.
Doch der Anschlag in Hanau galt nicht
nur meiner Community. Er zielte nicht
nur auf Einwanderer und Muslime. Er
zielte auf das Herz der Grundwerte unse-
rer Gesellschaft, auf den Pluralismus, auf
unsere freiheitlichen und demokrati-
schen Werte, auf unser Recht, angstfrei
und würdevoll zu leben.

Burhan Qurbani, 39, ist Filmregisseur,
sein „Berlin Alexanderplatz“ läuft im
Wettbewerb der Berlinale.

Wir spielen am Bochumer Schauspiel-
haus das Stück „2069 – Das Ende der An-
deren“, inszeniert von Julia Wissert. Darin
geht es um die Fiktion, dass es im Jahr
2069 in Deutschland keine weiße Mehr-
heitsgesellschaft mehr gibt, sondern die
Gesellschaft durchmischt ist. Dabei wer-
den genau die rassistischen Denkmuster
verhandelt, die den Nährboden schaffen
für den Hass in der Gesellschaft und derer
sich auch eine AfD bedient. Das Stück
stand am Donnerstag auf dem Spielplan,
und weil ich so schockiert war von dem At-
tentat in Hanau, habe ich spontan vor dem
Publikum etwas dazu gesagt. Weil so eine
Tat genau durch diesen unterschwelligen
Rassismus begünstigt wird, der ständig
wie ein Nebel die Medien und das Land
durchzieht. Von dem aber viele Menschen
in Deutschland glauben, dass wir ihn über-
wunden hätten. Ich als Person of color neh-

me diesen unterschwelligen Hass sehr
wohl wahr, in vielen Erlebnissen und auch
in der Sprache. Ich wollte darauf aufmerk-
sam machen, wie gefährlich das ist, und
wie sensibel man mit Sprache umgehen
muss. Dass es eben nicht überwunden ist.
Es kam dann mit dem Publikum zu einer
sehr emotionalen Diskussion. Man hat ge-
spürt, wie viel Redebedarf die Menschen
haben, wie viel Unsicherheit da im Raum
ist. Ich bin aus einem Dorf in der Schweiz,
mein Vater kommt von der Elfenbeinküs-
te. Ständig werde ich gefragt, woher aus
Afrika ich komme. In der Häufung ist das
diskriminierend. Die Aussage dahinter ist
immer: dass ich fremd bin, nicht hierher
gehöre. Gestern sagte ein Mann: „Meine
Kinder sind auch halb.“ Was heißt das:
halb? Heißt das, ich bin nicht „ganz“? Das
tut weh. Es gibt viele solche Beispiele.
Man wird müde, man stumpft ab. Aber
wir dürfen das nicht hinnehmen, wir müs-
sen eine Gegenkraft bilden, vor allem in
einem Land mit einer Vergangenheit wie
in Deutschland.

Gina Haller, 32, ist Schauspielerin.

Der rassistische Mord in Hanau wurde
von einem Rechtsradikalen begangen.
Ich misstraue der Aussage „das war die
Tat eines einzelnen Irren“, das ist ein gän-
giges, die Gesellschaft „beruhigendes“
Narrativ, das zu kurz greift. Seine Websei-
te, sein Manifest sind in meinen Augen
Tarnkappen, um die Erzählung des einsa-
men Wolfes für die Öffentlichkeit zu spin-
nen. Der Mörder weiß, dass er nicht ein-
sam ist, wenn führende Politiker aus der
Mitte der Gesellschaft öffentlich in Parla-
menten und Medien nationalsozialisti-
sches Gedankengut verbreiten können.
Der Mörder wusste, wo er hinmusste,
Shisha-Bars und 24/7-Kioske sind Orte,
an denen auch ich mit meinen arabischen
und türkischstämmigen deutschen
Freunden und Freundinnen nur hinkonn-
te, weil es die einzigen Orte waren, die es
gab, nach unzähligen Abweisungen vor
den Türen der „normalen“ Clubs und
Bars. Rechtsradikale wissen das. Sie
wissen genau, wo sie uns finden. Sie sind
vernetzt und durch die Ächtungen dieser
Orte durch die Mehrheitsgesellschaft füh-
len sie sich berufen, dort mit Waffen Säu-
berungen vorzunehmen.

Nuran David Calis, 44, ist Theaterautor
und -regisseur.

DEFGH Nr. 44, Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020 HF3 15


FEUILLETON


Sie sitzen überall


Jeden Tag Angst


Aus den Löchern


Es ändert alles


Im Nebel Nicht nur wir


Wo sie uns finden


Ich bin vorsichtig


Dominanz


Das neue Album von Grimes,
der Cyber-Pop-Königin
der Gegenwart  Seite 16

Digitale Schurkin


Wir Ungeschützten


Nach dem Anschlag in Hanau sprechen Künstler, Literaten und Intellektuelle


über die alte Angst und eine neue Wut


„Irgendetwas muss passieren. Denn wir haben Angst“: Mahnwache mit den Angehörigen der Opfer in Hanau. FOTO: THOMAS LOHNES / GETTY IMAGES

Weitere Beiträge von Kulturschaffenden
zum Anschlag in Hanau finden Sie im
Internet auf der Seite sz.de/kultur

»Das Buch der Stunde. Ein fulminantes Werk
über eine Kindheit in Armut.«

Rhein-Zeitung

»Eindrucksvoll, ohne Zeigefinger
und befreiend witzig.«

Stern

»Christian Baron erzählt einfühlsam von
Menschen, die nie eine Chance hatten.«

Deutschlandfunk

»Eine literarische Überraschung.«


rbb

»Christian Baron setzt bewusst auf die Kraft
der schonungslosen Offenheit. Die Wucht
seiner Erzählung gibt ihm Recht.«

SR2 Kulturradio

»Ein grandioser Roman.«


Denis Scheck

»Ein rast- und schonungsloses
Vater-Buch.«

Die ZDie Zeiteit

»Das Buch hat eine Wucht, die manche
Leser vielleicht aus der Kurve
tragen könnte.«

FrankfurFrankfurter Allgemeine Zeitungter Allgemeine Zeitung

»Ein fulminanter und erschütternder
Roman über familiäre Sprachlosigkeit.«

Zeit onlineZeit online

»Ein wirklich großer Roman.«


Neue ZNeue Zürcher Zeitungürcher Zeitung
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