Süddeutsche Zeitung - 22.02.2020

(WallPaper) #1
Das Stadtmuseum passt perfekt.
Ideal fasst der lang gezogene Bau
den Wiener Karlsplatz ein, wie eine
Art kongenialer Rahmen, der das
Schmuckstück – die barocke Karls-
kirche – erst vollends zur Geltung
bringt.
So zumindest suggeriert es die
kleine Schwarzweißfotografie, die
Otto Wagner 1909/1910 in Auftrag
gegeben hat und die nun in einer
klugen Ausstellung des Photoinsti-
tuts Bonartes in Wien zu sehen ist.
Erst auf den zweiten Blick fällt auf,
dass der Wiener Architekt zur Voll-
endung dieser Arbeit selbst zum
Bleistift gegriffen hat: Das Stadtmu-
seum ist in die Fotografie erst nach-
träglich reingezeichnet worden, die
Ränder weisen dazu noch Anwei-
sungen für den perfekten Aus-
schnitt auf. Wenn man so will, han-
delt es sich hier also um eine frühe
Form von Photoshop – die jedoch
ihr Ziel verfehlte: Wagners großer
Lebenstraum, der Bau seines Stadt-
museums, blieb unerfüllt.
Die bearbeitete Aufnahme gehört
zu gut 80 Fotografien, die bis vor
Kurzem unentdeckt in einem Käst-
chen auf einem Wiener Dachboden
schlummerten. In der Ausstellung
„Ein Architekt als Medienstratege“
machen sie deutlich, wie revolutio-
när Otto Wagner die Fotografie für
seine Bauten, aber auch sein Archi-
tekturverständnis eingesetzt hat.
Was ja nur schlüssig ist: Der Urva-
ter der modernen Architektur hat
sich schließlich auch für einen radi-
kalen Wandel im Bauen engagiert.

Während andere Baumeister noch
Berührungsängste mit dem jungen
Medium hatten, nutzte der Wiener
die Fotografie gezielt für seine Zie-
le. Er hatte verstanden, wie zugäng-
lich dadurch Architektur auch für
Laien wurde, die weder Grundrisse
noch Aufrisse lesen können. Otto
Wagner war der erste überhaupt,
der in einem Architekturbuch Foto-
grafien verwendet hat. Er vermark-
tete seine Arbeiten nicht nur in
ledergebundenen Werkverzeichnis-
sen mit teuren Heliogravüren, son-
dern auch in Zeitschriften mit Foto-
grafien. Dafür verwendete er gerne
Aufnahmen aus seinem privaten
Umfeld und positionierte Familie
und Angestellte modellhaft in seine
Entwürfe. Und er ließ Broschüren
zu einzelnen seiner Bauten – etwa
der Postsparkasse oder der Stadt-
bahn – anfertigen, um für seine
kühnen Ideen zu werben. Bestückt
mit Fotografien, die höchst unge-
wöhnliche Perspektiven besaßen
und verwegene, fast schon exzentri-
sche Ausschnitte. Ein PR-Genie wie
Otto Wagner wusste eben, was
auffällt.laura weissmüller

Die Filmgeschichte hat es doch
noch gut gemeint mit „Grizzly II:
Revenge“. Angelegt als Sequel des
1976 erschienen Tierhorrorfilms
„Grizzly“ startete die Produktion



  1. Letzte Woche und fast vierzig
    Jahre später konnte der Film seine
    Premiere in Los Angeles feiern.
    Geldprobleme sorgten dafür, dass
    der Film nie über den Rohschnitt
    hinauskam und in Vergessenheit
    geriet. Und während der Film Jahr-
    zehnte über im Archiv verstaubte,
    wurden aus drei Nebendarstellern
    einfach mal Hollywoodstars.


George Clooney, Laura Dern und
Charlie Sheen – keiner von ihnen
war damals älter als Anfang zwan-
zig – spielen naive Teenies, die zu
Beginn des Films im Yellowstone
National Park von einem Monster-
Grizzlybären zerfleischt werden,
bevor dieser auf einem Rockkon-
zert mit 40000 Besuchern, das
eigens für den Dreh in Ungarn orga-
nisiert wurde, ein Blutbad anrich-
tet. tobias obermeier


von joachim hentschel

D


ie Geschichte passierte 2009,
kurz bevor Claire Boucher zu
einem der digitalsten Popsu-
perstars unserer Zeit wurde.
Und man würde sie gar nicht
extra erzählen, würde sie unter Jugend-
quark und Kunstschulblödsinn abheften,
wenn sie nicht eine so herausragende Ei-
genschaft hätte: Die Anekdote, um die es
geht, ist aus Wasser, Holz und Hühnerfe-
dern. Also von vorn bis hinten analog.
Denn es begab sich zu der Zeit, als Clai-
re Boucher – aus Vancouver, Kanada, Jahr-
gang 1988 – in Montreal Neurowissen-
schaften studierte, nachts im Bett „Huckle-
berry Finn“ las und dann ihren Freund
William überredete, mit ihr die Fahrt über
den Mississippi nachzuspielen.
In der Scheune eines Kumpels schrei-
nerten sie ein sechs Meter langes, alter-
tümliches Motorfloß, luden eine Nähma-
schine, zehn Kilo Kartoffeln und ein paar
lebendige Hühner an Bord. Sie stachen im
Juni 2009 von Minneapolis aus in See.
Boucher gab sich für die Reise den Namen
Veruschka Xox, natürlich war es eine
Kunstaktion, eine Mischung aus Steam-
Punk-Bewegung und Historischem Hei-
matmuseum Bad Schlürpfen.

Sie kamen nicht ganz bis New Orleans.
Schon nach wenigen Flussbiegungen ging
der Außenbordmotor kaputt, die zwei
legten einen Notstopp ein. Mehrfach tauch-
te die Polizei auf, beschlagnahmte am En-
de das Floß, steckte die Hühner ins Tier-
heim. Boucher und ihr Freund mussten
die Fahrt nach Süden mit dem Bus vollen-
den. „Die Idee mit Tom Sawyer fand ich ja
ganz schön“, zitierte die LokalzeitungStar
Tribunedamals einen der beteiligten Poli-
zisten, „aber wir haben nun mal nicht
mehr 1883. Man muss sich an die Regeln
halten“.
Wie nahe 1883, also die frühe Industria-
lisierung, und 2020 oft beieinanderliegen,
ästhetisch und mental – das weiß jeder,
der schon einmal eine Craft-Beer-Bar
besucht hat. Trotzdem hat Claire Boucher
sich in den elf Jahren seit dem kruden
Mark-Twain-Reenactment künstlerisch
eminent weiterbewegt.
Heute, mit 31, nennt sie sich Grimes, ver-
fügt über ganze Schockmengen digitaler
Gesichter, Haarfarben und Charakter-
profile. Ist Musikerin, Sängerin und Social-
Media-Slam-Poetin, Videoregisseurin,
Grafikdesignerin. Eine Donna Universale
der Cyber-Renaissance, deren öffentliche
Präsenz oft so wirkt, als wären ein paar
besonders irre Instagram-Facefilter soft-
waretechnisch komplett aus dem Ruder
gelaufen und hätten, unter Manga-Ein-
horn-Playstation-Alarmgeheul, das ganze
Betriebssystem übernommen.
Die Musik von Grimes, eine auf Anhieb
kaum verschlagwortbare Interferenz aus
süßem Pop, Clubsound-Krawall und au-
ßerirdischer Esoterik, leitet wenig Ruhm
aus Verkaufsmengen oder Chartplatzie-
rungen ab – dafür umso mehr aus Zahlen,

die man eher in den Monitoringberichten
von Content-Agenturen suchen würde:
Social-Media-Interaktionen, Bewegtbild-
Reichweiten, Follower-Statistiken.
Grimes’ letztes Album „Art Angels“ war
voller knallbunter Hits, verkaufte sich seit
2015 in den USA dennoch nur 50 000-mal.
Allein das Instagram-Foto vom 9. Januar
2020, auf dem sie im japanischen Gewand
und mit Rapunzelzöpfen ihren schwange-
ren Bauch vorzeigt, hatte dagegen zuletzt
fast 270 000 Likes. Viele fürchten sich vor
ihr. Aus allerlei verschiedenen Gründen,
die womöglich alle falsch sind.
Klingt wahnsinnig anstrengend? Ist es
auch. Und ja, falls irgendwer den Begriff
Künstliche Intelligenz vermisst hat: keine
Sorge, der kommt auch gleich noch.
Grimes veröffentlicht nun ihr fünftes Al-
bum „Miss Anthropocene“, aber vorher
noch schnell die Information, auf die viele
atemlos warten: Seit 2018 ist sie mit dem
Unternehmer Elon Musk zusammen, der
nicht nur Tesla erfunden hat, die berühm-
teste aller denkbaren Batterieautofirmen,
sondern auch mit eigenen Raketen zum

Mars fliegen und Menschen durch eine
Luftkissenröhre von San Francisco nach
Los Angeles schießen will.
Niemand wird bestreiten, dass es für
Grimes’ Kunst hochgradig egal ist, was der
Vater ihres ungeborenen Kindes beruflich
macht, aber trotzdem ist die Situation na-
türlich höchst suggestiv. Da sitzen sie also
beisammen, wie vor elf Jahren die zwei ver-
lorenen Technologie-Nostalgiker auf dem
Mississippi: Musk, der Heureka-Mann der
ganz neuen New Economy, und Grimes,
die quecksilbrige Cyber-Pop-Königin.
Man erkennt Potenzial für herrliche kreati-
ve Synergien, die viele kulturelle Grenzen
transzendieren könnten.

Oder, und der misogyne Einwand
kommt leider oft: Man sieht nur die Frau,
die ihre Glaubwürdigkeit fürs Leben mit
dem Milliardenmann opfert. Allerdings
stürzt sich die Figur Grimes gern selbst in
jede Social-Media-Debatte, die etwas Hass
verspricht, zu Themen wie LSD, Sexismus,
Klimawandel. 2014 verband sie ihre Weige-
rung, an der sagenhaft beknackten Ice Bu-
cket Challenge teilzunehmen, mit einer
schludrigen Attacke gegen die Organisati-
on, die damit Spenden sammelte. Im Rah-
men einer von Adidas gesponsorten Insta-
gram-Strecke beschrieb sie bizarre Well-
nessrituale, und kurz darauf erklärte sie
im Podcast eines bekannten amerikani-
schen Physikers sinngemäß, künstliche
Intelligenz werde bald jede menschliche
Kreativität obsolet machen.
Die Musikerin Zola Jesus nannte Gri-
mes daraufhin „die Stimme des privilegier-
ten Silizium-Faschismus“, denn natürlich
ist das politisch: Wollen wir die Kunst ohne
jede Verhandlung den Händen der Techno-
logie-Elite überlassen? Oder braut sich
hier ein Kulturkampf zusammen, dessen

Waffen man nicht einfach im Fortnite-
Spiel kaufen kann?
Wenn man Grimes’ Aussagen zur Ver-
öffentlichung von „Miss Anthropocene“
liest, bekommt man den Eindruck, dass sie
sich für die Machtfragen rund um die Digi-
talisierung der Kunst eigentlich nicht son-
derlich interessiert. Sie scheint mehr das
Abenteuer darin zu sehen, die aufregende
ästhetische Chemie, die zu blubbern begin-
nen könnte, wenn sich Mensch und Algo-
rithmus erst mal richtig aneinander rei-
ben. Und genau hierzu bringt das neue
Album zehn großartige, verstörende, schö-
ne und hässliche, im besten Sinne furcht-
los ermittelte Vorschläge.
Dabei zeichnen die „Miss Anthropoce-
ne“-Songs all die typischen Pop-Assozia-
tionsketten der Gegenwart nach, changie-
ren von laut geatmetem Weltraum-
Schwurbel zum R’n’B der Studentendiscos
und Wodka-Nachtclubs, vom asiatischen
K-Pop mit seinem heiß gemangelten Kin-
dergesang zu Tanzbeats, die alle die an den
Drum’n’Bass und Trip-Hop der Neunziger
erinnern, die damals alt genug zum Turn-
schuhkauf waren. In „Delete Forever“
klingt Grimes mit Wandergitarre und Fie-
del sogar mehr nach Lagerfeuer-Country,

als es die rundum beliebte Taylor Swift
jemals tat, die sich in ihrer aktuellen
Netflix-Doku als aufrichtig musizierendes
Tagebuchmädchen porträtiert. Der verblie-
bene Rest der Welt sortiert weiter pingelig
die Argumente für und gegen den James-
Bond-Song von Billie Eilish, derweil ent-
hüllt Grimes mit „New Gods“ ihre höchstei-
gene Theatervorhang-Ballade. „The world
is a bad place, baby“, singt sie da. „Only
brand new gods can save me.“
Ob Grimes an dieser neuen Musik tat-
sächlich mithilfe von künstlicher Intelli-
genz gearbeitet hat, wie manch einer es
heute ja bereits tut, ist unbekannt – wahr-
scheinlich eher nicht. Gerade deshalb
kann man „Miss Anthropocene“ als fantas-
tische Vision sehen, als klug formuliertes
Konzept dafür, wie Pop im Zeitalter des Al-
gorithmus klingen könnte und sollte. Im
besten Fall wird er seine stilistische Band-
breite nicht mehr als Zeichen von Virtuosi-
tät vor sich hertragen, sondern als starken,
assoziativen Fluss verwenden. Er wird aus
all den abgetrennten Traditionssträngen
etwas Neues flechten, dessen Einzelteile
wir vielleicht wiedererkennen, ohne dass
sie deshalb unbedingt auf irgendeine kon-
krete Vergangenheit verweisen wollen. Er
wird ganz sicher nicht so klingen, wie
Science-Fiction-Leser sich futuristische
Musik vorstellen. Vielleicht wird er immer
ein bisschen unfertig wirken, auch das gilt
für diese Platte. Eine ständige Beta-Version.
Die wichtigste These allerdings, die Clai-
re Boucher mit dieser Platte aufstellt, naiv
oder nicht, politisch oder ignorant, ist eine
andere: Im Kern braucht der Pop der Zu-
kunft ein pochendes, fleischiges Herz, und
das spürt man selbst in den arrogantesten
Momenten ihrer Grimes-Musik. Die digita-
le Schurkin spielt sie exzellent. Doch sie
bleibt eine große Sentimentalistin.

Grizzly endlich da! Otto Wagner und die Fotografie


FOTO: 2019 GBGB INTERNATIONAL

Wenn bei derWeltdas L ausfällt,
bleiben drei Buchstaben übrig:
WET. So leuchtet es in Berlin seit
Monaten nachts vom Axel-Springer-
Hochhaus herunter, denn das
große L in der Leuchtreklame für
das publizistische Flaggschiff des
Verlags ist, in 78 Meter Höhe über
dem neunzehnten Stockwerk, aus-
gegangen. Die Berliner sind dar-
über ziemlich amüsiert. Manche
halten mit dem Auto am Rand der
Lindenstraße an, auf dem Weg von
Kreuzberg zum Spittelmarkt, etwa
in Höhe des Jüdischen Museums.
Sie steigen aus, machen Handyfo-
tos, grinsen. WET. Wie schwer kann
es sein, einen störrischen Werbe-
buchstaben wieder zum Leuchten
zu bringen und die Welt zu repa-
rieren?
Unklar ist, wann genau es damit
losging. Mitte Oktober fiel der aus-
gefallene Buchstabe dem Verfasser


  • er fuhr mit dem Fahrrad vorbei –
    zum ersten Mal auf. Ende Oktober,
    Mitte November: immer noch WET.
    Bizarr! – sagt da niemand Be-
    scheid? Mitte Januar strahlte das L
    dann wieder, es musste um die
    Weihnachtszeit oder den Jahres-
    wechsel herum also repariert wor-
    den sein. Es strahlte nun sogar viel
    heller als die anderen drei Buchsta-
    ben. Und scheint sich dabei ziem-
    lich verausgabt zu haben. Jetzt ist
    es nämlich wieder kaputt.
    Die schönsten Fantasien ließen sich
    anstellen. Man ist bei Springer mit
    dem Einzug in die neue Megaver-
    lagswabe nebenan, die man sich


von Rem Koolhaas hat entwerfen
lassen, so okkupiert, dass man sich
um die alte Reklame auf dem Gold-
turm von 1966 nicht mehr richtig
kümmern kann. Oder es lohnt sich
eh nicht, für analoge Werbung die-
ser Art noch Geld auszugeben, jetzt
wo sich doch alles ins Netz verla-
gert. Dann könnte man allerdings
auch die anderen drei Buchstaben
ausknipsen. Auch denkbar: Sprin-
ger möchte den Kreuzbergern, in
deren Richtung die Werbung weist,
ein bisschen den Stinkefinger zei-
gen: Ihr lest dieWeltja eh nicht und
findet sie doof, warum sollten wir
da für euch unser L reparieren?
Nun ja, sicher überinterpretiert,
zwischendurch funktionierte es ja
wieder. Bevor es dann wieder aus-
fiel. Was ist da los?
jan kedves

Eine Präsenz, die wirkt, als
wären ein paar Facefilter völlig
aus dem Ruder gelaufen

Die digitale
Schurkin spielt sie
exzellent

Ehe er zu Dynamit wurde, war
Friedrich Nietzsche ein deutscher
Knabe und Jüngling. Der Knabe
hörte im Röckener Pfarrhaus den
Vater am Klavier improvisieren. Als
Fünfjähriger, im Jahr 1849, in dem
der Vater starb, zog er die ersten
Notenlinien. Ein Jahr später, schon
in Naumburg, schenkte die Mutter
ihm ein eigenes Klavier. Der Jüng-
ling in Schulpforta war es gewohnt,
Klavierauszüge zu machen, Ton-
satzübungen. 400 Blatt mit Kompo-
sitionen gibt es in Nietzsches Nach-
lass in Weimar. Sie geistern durch
seine Biografien, jetzt wird eine
Auswahl daraus erstmals gezeigt,
in den pultartigen weißen Vitrinen
des Goethe-Schiller-Archivs (Nietz-
sche komponiert. Notenmanuskrip-
te aus dem Nachlass. Bis 14. Juni).
Man kann hier sehen, wie der Jüng-
ling „Das zerbrochene Ringlein“
nach Eichendorff in Noten setzt,
und die letzte Strophe des selbstver-
fassten Textes zum Lied „Die Fi-
scherin“ gibt es nur hier, auf dem
Notenblatt. Mit feiner Stahlfeder
komponiert der Jüngling, immer
vom Klavier her, dem Naumburger
Freundschaftskult mit Gustav Krug
und Wilhelm Pinder unterlegt er
eine Tonspur, auch will er das Weih-
nachtsoratorium reformieren.
Lange bevor er den Komponis-
ten kennenlernt, studiert er Wag-
ners „Tristan und Isolde“ im Kla-
vierauszug. Im Stil von Liszt
schreibt er ungarische Melodien,
skizziert eine symphonischen Dich-
tung, über den Ostgoten Ermana-

rich, zu den Notenblättern gibt es
eine Hörstation.
Als er sich von Wagner längst
abgewandt hat, im November 1881,
hört er in Genua zum ersten Mal
Bizets „Carmen“. Im Klavierauszug,
den er sich rasch besorgt, steht am
Rand des Schicksalsmotivs von

Don José: „Ein Epigramm auf die
Leidenschaft, das Beste, was seit
Stendhals ,De l’amour‘ geschrieben
worden ist.“ Und am Rand von Car-
mens „Habanera“: „Eros, so wie die
Alten es empfanden.“ In der letzten
Vitrine liegt das „Gebet an das Le-
ben“, auf einen Text von Lou Andre-
as-Salomé. Es ist das einzige ge-
druckte Werk des Komponisten
Nietzsche.lothar müller

Ein paar furchtlos
ermittelte Vorschläge dafür,
was passiert, wenn
sich Mensch und Algorithmus
erst mal richtig aneinander
reiben: Claire Boucher
alias Grimes und Avatar.
FOTO: 4AD/BEGGARS GROUP/INDIGO

VIER FAVORITEN DER WOCHE


In der Komödie „Ammore e malavita“
(2017), einem der in Italien erfolgreichs-
ten Filme der vergangenen Jahre, gibt es
eine Szene, in der eine amerikanische
Reisegruppe das Viertel Scampia im Nor-
den Neapels besucht. In dieser trostlosen
Vorstadt, beherrscht von ebenso gewalti-
gen wie verfallenen Wohnblocks, spielen
entscheidende Szenen von Roberto Savia-
nos „Gomorrha“, von Buch, Film und
Fernsehserie. Zum Schrecken und zum
Vergnügen der Gruppe wird dann einer
Touristin die Handtasche entrissen, und
alle Vorurteile sind bestätigt.
Seit dem Jahr 2016 ist geplant, die
schlimmsten Blocks abzureißen: vier
Blocks, ihrer dreieckigen Form wegen
„vele“ („Segel“) genannt. In den Sechzi-
gern und frühen Siebzigern gebaut, soll-
ten sie Wohnraum für vierzig- bis siebzig-
tausend Menschen bieten. Wie viele Men-
schen tatsächlich dort lebten, ist nicht be-
kannt. Drei Blocks gingen schon um das
Jahr 2000 dahin. Am vergangenen Don-
nerstag begann man, unter den Augen
der italienischen Öffentlichkeit, drei wei-
tere Häuser abzureißen. Ein „Segel“ soll
stehen bleiben, als Ort der Erinnerung
oder als Museum oder als Dokument ei-
nes der größten Irrtümer in der Geschich-
te des italienischen Städtebaus. Viel-
leicht aber auch nur: einer Kette von Ver-
hängnissen, die insgesamt zu einer völli-
gen Überforderung aller sozialen und
ökonomischen Verhältnisse führten.
Es gäbe Scampia nicht ohne das histori-
sche Zentrum Neapels, die größte und
bis heute in großen Teilen weder sanier-
te noch gentrifizierte Altstadt Europas.
Von dort sollte die Bevölkerung in lichte
und luftige Wohnungen überführt wer-
den, die Le Corbusiers Konzept der „Uni-
té d’Habitation“ (der „Wohnmaschinen“)
folgen, zugleich aber vertraute Elemente
der Altstadt in sich aufnehmen sollten:
Durchgänge, schmale Gassen, kleine
und große Piazzen (die später erheblich
dazu beitrugen, die Arbeit der Polizei zu
erschweren). Das Leben sollte, wie zuvor,


weitgehend im Freien stattfinden. Zum
gleichfalls geplanten Bau von Einkaufs-
möglichkeiten, sozialen oder kirchlichen
Einrichtungen oder gar Parks kam es al-
lerdings kaum, vermutlich aus Gründen
der Spekulation. Als ein Erdbeben dann
im Jahr 1980 Teile des historischen Zen-
trums unbewohnbar machte und die nun-
mehr Obdachlosen in Scampia unterka-
men, fiel die Macht im Viertel an mafiöse
Gruppen, die das Viertel zu einem Zen-
trum des Drogenhandels machten. De-
ren Geschichte kulminierte in der „faida
di Scampia“ des Jahres 2004, einer Feh-
de innerhalb der Camorra, die Roberto
Saviano in „Gomorrha“ schildert.
Der Berichterstattung der italieni-
schen Medien über den Abriss der „vele“
geht das Triumphale weitgehend ab.
Was da geschieht, ist erkennbar eine Rati-
fizierung des Scheiterns. Zugleich aber
wird deutlich, in welchem Maße sich das
Überleben in prekären Verhältnissen in
eine kulturelle Ressource verwandelt
hat. Der Alltag in Scampia mochte
schwierig gewesen sein. Aber man hatte
immerhin einen Alltag, und nun lässt
sich davon erzählen. Und auch an „Am-
more e malavita“ wird man sich noch lan-
ge erinnern. thomas steinfeld


Nach dem Erdbeben


kamen erst die Obdachlosen,


dann die Camorra


Lauter atmen


Das neue Album von Grimes, der Cyber-Pop-Königin


der Gegenwart, und die Zukunft des Pop


Hochburgen


der Armut


Neapels legendäre Wohnblöcke
„vele“ werden abgerissen

16 FEUILLETON HF2 Samstag/Sonntag, 22./23. Februar 2020, Nr. 44 DEFGH


Kaputte Welt


FOTO: KLASSIK STIFTUNG WEIMAR

FOTO: KEDVES

FOTO: © PRIVATBESITZ

Nietzsche komponiert

Free download pdf