Süddeutsche Zeitung - 22.02.2020

(WallPaper) #1

Das Wochenende startet mit Sonnen-
schein. Im Laufe des Samstag ziehen im-
mer mehr Wolken auf.  Seite R14


15 °/7°


von christian mayer

W


enn man ein gewisses Alter
überschritten hat, wird man
gelegentlich wehmütig, man
sehnt sich zurück in eine Vergangenheit,
die nicht unbedingt besser, aber anders
war. Für viele jüngere Menschen mag es
überraschend sein, aber es gab in Mün-
chen mal so etwas wie eine richtig kalte
Jahreszeit. Der Winter war auch damals
schon chronisch unzuverlässig, aber ir-
gendwann setzte er sich fest und es
schneite, was das Zeug hielt. Bis alles ins
Rutschen kam und die Schlittenberge der
Stadt voller dick vermummter Menschen
waren, die man noch kilometerweit jauch-
zen hören konnte.
In manchen Jahren gab es über Wo-
chen arktische Verhältnisse an der Isar,
dann konnte man auf dem Nymphenbur-
ger Kanal Schlittschuh fahren, bis man
die rosige Gesichtsfarbe von Didi hatte,
dem legendären Obsthändler vor dem
Hauptgebäude der LMU, der noch bei
minus zehn Grad blendend gelaunt seine
Frostfrüchte verkaufte, natürlich mit
dem ortsüblichen Didi-Aufschlag und
einem Augenzwinkern.
Ja, so kalt war das damals in München.
Und natürlich konnte der Winter völlig
unerwartet über einen hereinbrechen.
Manchmal schlich er sich schon in den
letzten Tagen des Oktoberfests von hin-
ten heran; dann gab es vor den Bierzelten
auf einmal Blitzeis und die spätsommer-
lich gekleideten Besucher schlitterten
über die Holzbretter. Selbst am Fa-
schingsdienstag war man längst noch
nicht sicher vor der tückischen Polarluft
und überraschenden Neuschneemassen:
Wenn man etwas zu fröhlich sein Lieb-
lingslokal in der Innenstadt verlassen
wollte, landete man draußen auf dem Hin-
tern, woran natürlich nie der Gin Tonic,
sondern stets der Wintereinbruch Schuld
war. Wer nicht Knall auf Fall scheitern
wollte, trug damals im Münchner Fa-
sching unter dem Kostüm eine lange Un-
terhose, um für Temperaturstürze und
andere Eventualitäten gerüstet zu sein.
Angemessen ausgerüstet waren auch
die Münchnerinnen und Münchner, die
zur Edeldaunengesellschaft zählten. Die-
se heute fast schon ausgestorbene Spezi-
es freute sich nur deshalb auf den Winter,
weil sie dann endlich ihre luxuswattier-
ten Designerjacken vorführen konnte,
die durch die unfreiwillige Mitwirkung
kanadischer Gänse entstanden waren. In
den südlichen Stadtvierteln, vor allem
aber im Münchner Außenbezirk Kitzbü-
hel zelebrierte die Edeldaunengesell-
schaft ihren Ski-Ski-Hedonismus bis
zum offiziellen Saisonschluss nach Os-
tern, um dann übergangslos in die Bier-
gartensaison zu starten.
Heutzutage braucht man in München
keine Daunen mehr, denn der Winter ist
auf Nimmerwiedersehen verschwunden,
was die kanadischen Gänse sehr freut.
Statt Rodeln geht man im Februar halt Ra-
deln, und die langen Unterhosen lassen
sich in Zeiten des Klimawandels gut zum
Fensterputzen verwenden. Bald werden
im sonnenverwöhnten Englischen Gar-
ten Dattelpalmen und Südfrüchte wach-
sen. Das wird wiederum den Didi freuen,
wenn er noch seinen Stand vor der Uni
hat. Dann kann er dort demnächst das
ganze Jahr über Original Münchner Ana-
nas und Isar-Mangos verkaufen.

von heiner effern

München– Schon mal von Volterinnen
und Voltern gehört? Kurze Hilfe: Die ha-
ben nichts mit Anhängern eines französi-
schen Philosophen zu tun, und es handelt
sich auch nicht um die Heavy-Metal-
Band, deren Präsenz im Netz sinnigerwei-
se „Volterzone“ heißt. Volterinnen und
Volter sind Menschen, die alle Münchner
bei den Kommunalwahlen am 15. März
wählen können. Ihr Programm umfasst
41 Seiten. Ganz am Anfang steht eine Prä-
ambel, die Volt als paneuropäische Partei
vorstellt. Danach folgen umfangreiche
Kapitel zur Bildung, Digitalisierung oder
zum Umweltschutz in München.
Wer diese intern meist heiß diskutier-
ten Texte eines solchen Wahlprogramms
liest, weiß meist genau, was eine Partei
will. Allerdings ahnt niemand, wer Zeit
und Lust dazu hat, sich die Werke aller an-
tretenden Listen zu Gemüte zu führen.
Möglicherweise kommt mancher Wähler
über die Botschaften auf den Plakaten an
Straßen und Plätzen nicht hinaus. Diese
Menschen wissen dann, dass Volterinnen
und Volter in München am liebsten Zug
fahren würden wie in Zürich, Bauen wie in
Barcelona oder Wohnen wie in Wien.
Klingt tatsächlich stark nach Europa, aber
irgendwie bleibt es maximal bei einer Ah-
nung, was die Partei damit sagen will.
Deshalb hat dieSüddeutsche Zeitung
für die Kommunalwahl einen interakti-
ven Wahlcheck nach dem Vorbild der
Wahl-O-Maten etwa bei Landtagswahlen
erstellt (www.sz.de/wahlcheck). Die Basis
dafür bildeten die politischen Diskussio-
nen und die drängendsten Zukunftspro-
bleme der Stadt. Aber auch das konkrete
Lebensgefühl möglichst vieler Bürger soll-
te sich wiederfinden. 30 Fragen können
nie alle Chancen und Probleme abbilden.
Die Antworten sollen im besten Fall Orien-
tierung bei der Wahlentscheidung bieten.
Eine Empfehlung soll das Ergebnis aus-
drücklich nicht sein. (Mehr Details zur Ent-
stehung des SZ Wahlchecks unten.)
Natürlich ist eine Auswahl von Themen
immer auch subjektiv, und eine Entschei-
dung zwischen „Ja“, „Neutral“ und „Nein“
erlaubt auch den Parteien nicht, ihr ausdif-
ferenziertes Programm eins zu eins wie-
derzugeben. Die Reduzierung auf Frage
und klare Antwort führt aber auch dazu,
dass sich Parteien bekennen müssen oder
können. Manchen fiel das offensichtlich
nicht leicht, sie antworteten auffällig oft
mit „Neutral“ auf Fragen, bei denen man
bei der Lektüre des Programms eher auf
ein „Ja“ oder „Nein“ kommen würde. Zum
Beispiel bei der Frage, ob von 2025 an nur
noch Autos von Anwohnern oder mit Son-

dergenehmigung innerhalb des Mittleren
Rings fahren dürfen. Die Koalition der Be-
fürworter bilden Linke, die Partei, Mut,
ÖDP, Volt und Zusammen Bayern (Zuba).
Neutral stimmten überraschend Grüne
und Rosa Liste, weniger überraschend die
Freien Wähler. Der Rest ist dagegen. Beim
Grillen an der Isar wollen nur die SPD und
die ÖDP verpflichtend von Kohle auf Gas
umstellen. CSU, Grüne, Rosa Liste oder
die Bayernpartei gehören zu denen, die ge-
gen einen solchen Eingriff sind.

Während manche Antworten große
Einigkeit zeigen, etwa bei der Befürwor-
tung von mehr Beratungs- und Förderan-
geboten von Flüchtlingen, zeichnen ande-
re ein sehr klares Bild der politischen Posi-
tionen. Sechs Parteien sprechen sich ge-
gen große neue Stadtquartiere im Norden
und Nordosten für insgesamt 50 000 Ein-
wohner aus, neun sind dafür. Nur die Grü-
nen wollten sich nicht festlegen. Eine abso-
lute Mehrheit unter den teilnehmenden
Parteien findet sich für die Forderung,
dass Firmen, die sich in München neu an-
siedeln, für ihre Mitarbeiter Werkswoh-
nungen bauen müssen.
Bemerkenswert einig sind sich die Par-
teien auch bei der heiß diskutierten Neu-
verteilung des Straßenraums. Elf von 16
wollen Parkplätze für zusätzliche Busspu-
ren und Radwege streichen. Dagegen sind
nur CSU, Bayernpartei und AfD. Die FDP
und die Freien Wähler stellten auf „Neu-
tral“. Auch wenn sich immer wieder Über-
einstimmungen zwischen den Lagern
links und rechts der politischen Mitte zei-
gen, wird eines doch klar: Bei Kommunal-
wahlen entscheiden oft Sachthemen,
neue Anwohner-Tiefgaragen lassen sich
nicht nach Mustern der Bundes- oder Lan-
despolitik zuordnen. Deshalb wird man-
cher Nutzer des SZ-Wahlchecks über-
rascht sein, welchen Parteien er mit sei-
nen Antworten am nächsten kommt. Ein
Blick in die entsprechenden Wahlpro-
gramme könnte sich lohnen.

Christian Mayer wartet
immer noch, dass der
Winter zurückkehrt.


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NACHTS

Welche Liste sollten Sie wählen, damit Ihre
Interessen und Überzeugungen im nächs-
ten Münchner Stadtrat bestmöglich ver-
treten werden? Der SZ-Wahlcheck möchte
helfen, diese Frage zu beantworten. Die
München-Redaktion hat dazu einen Kata-
log von Fragen erstellt, um die in der Stadt-
politik gerungen wird: Sollen in München
Häuser über 100 Meter Höhe entstehen?
Muss der Verkehr innerhalb des Mittleren
Rings eingeschränkt, das Grillen mit Holz-
kohle an der Isar verboten werden?
Diese Fragen hat die SZ an alle 17 Partei-
en und Gruppierungen geschickt, die mit
einer Liste für den Stadtrat kandidieren. Je-
de Frage ist so formuliert, dass sie von ei-
ner konkreten Forderung handelt und ein-
deutig mit „Ja“, „Nein“ oder „Neutral“ zu be-
antworten ist. Mit Ausnahme der Bürgerin-
itiative Ausländerstopp haben alle Grup-

pen den Fragebogen ausgefüllt und zu
jeder der Thesen Stellung bezogen. Von
den insgesamt 40 Fragen hat die Redakti-
on anschließend zehn aussortiert, bei de-
nen sich die Parteien weitgehend einig wa-
ren. Die verbleibenden 30 können Sie nun
selbst beantworten, um Ihre Positionen
mit denen der Parteien abzugleichen. In
der digitalen Ausgabe sowie auf
http://www.sz.de/wahlcheckfinden Sie dazu ei-
ne interaktive Anwendung, die Ihnen die
prozentuale Übereinstimmung zu den ver-
schiedenen Gruppen am Ende anzeigt. Ih-
re Antworten sind für die SZ nicht einseh-
bar und werden nicht gespeichert.
Als Vorbild für den SZ-Wahlcheck dient
der Wahl-O-Mat, den die Bundeszentrale
für politische Bildung regelmäßig zu Bun-
destags- und Landtagswahlen, nicht aber
zu Kommunalwahlen anbietet. CHEN

München– Nachdem am Donnerstag-
abend mehr als 500 Bürger am Odeons-
platz der Opfer des rassistischen Angriffs
von Hanau gedacht hatten, trat eine Grup-
pe von Rechtsradikalen an derselben Stel-
le auf eigene Weise in Erscheinung: Kurz
nach 23 Uhr wurde die Polizei gerufen,
weil vier Personen in der Feldherrnhalle
Bier tranken und laut Musik hörten. Ein
Polizeisprecher bestätigte am Freitag,
dass die Feiernden dem Erscheinen nach
der rechten Szene zuzuordnen waren. Die
Bayerische Schlösserverwaltung prüft, ih-
nen die Reinigung der Feldherrnhalle in
Rechnung zu stellen. anh

Mancher wird überrascht sein,
welchen Parteien er mit
seinen Antworten nahe kommt

NULL ACHT NEUN

Isar-Mangos


in der Wintersonne


Wen wählen?


In drei Wochen fällt die Entscheidung


über den neuen Stadtrat – der SZ-Wahlcheck


bietet Orientierung


So entstand der SZ-Wahlcheck


Rechtsradikale


in der Feldherrnhalle


Ab 2025 sollen nur noch Autos von
Anwohnern oder mit Sonderge-
nehmigung innerhalb des Mittleren
Rings fahren dürfen.

Neue Gewerbeflächen sollten in
München nicht mehr ausgewiesen
werden.
Die Stadt soll das Betteln in der
gesamten Innenstadt verbieten.
Die Stadt braucht mehr
Anwohner-Parkgaragen.
Die Stadt soll das Grillen mit Holzkohle
an der Isar verbieten. Grillen mit Gas
bleibt in ausgewiesenen Zonen erlaubt.

Die Stadt soll am Frankfurter Ring eine
Seilbahn als Nahverkehrsmittel bauen.
Die Stadt soll mehr Biergärten und
kleine Cafés am Isarufer zulassen.
Es wird der Stadt guttun, wenn neue
Hochhäuser entstehen, die deutlich
über 100 Meter hinauswachsen.
Die Stadt soll die Ansiedelung weiterer
Großkonzerne verhindern.

Wenn die Stadt die Kosten für die
Kinderbetreuung senkt, müssen alle
Eltern gleichbehandelt werden –
auch dann, wenn ihre Kinder teurere
private Kitas besuchen.
Die Stadt soll das Kulturzentrum
Gasteig umfassend sanieren,
auch wenn das eine halbe Milliarde
Euro oder mehr kostet.

Firmen, die sich in München
ansiedeln, sollten dazu verpflichtet
werden, Werkswohnungen für ihre
Mitarbeiter zu bauen.

Die Stadt soll auf den letzten großen
noch unbesiedelten Flächen im
Nordosten (600 Hektar) und im Norden
(900 Hektar) neuen Wohnraum für
mindestens 50000 Menschen schaffen.

Die Stadt soll sich dafür einsetzen,
dass „leistungslose Gewinne“ durch
Wertsteigerung von Baugrundstücken
abgeschöpft werden können, z.B. um
damit günstigen Wohnraum zu schaffen.
Bei der Ansiedelung von Betrieben
sollte deren Umweltverträglichkeit den
Ausschlag geben.
Jeder Neubau in München soll
verpflichtend mit Photovoltaikanlagen
ausgestattet werden.
Die Stadt muss die Gewerbesteuer
erhöhen, um die zusätzlichen Mittel in
den Wohnungsbau investieren zu können.
Die Stadt soll mehr Beratungs- und
Förderangebote für Flüchtlinge schaffen.

Die Stadt soll Parkplätze für zusätzliche
Busspuren und Radwege streichen.

München soll im Olympiapark anstelle
des Eissportzentrums eine Sporthalle
für 2500 Zuschauer errichten.

Angesichts der steigenden Zahl von
alten Menschen, die pflegebedürftig
werden, soll die Stadt neue kommunale
Pflegeheime errichten.

Um Wohnraum zu schaffen und dichter
zu bauen, soll die Stadt mit Blick auf
das Gemeinwohl weniger Rücksicht auf
den Widerstand in den jeweils
betroffenen Stadtvierteln nehmen.

ja neutral nein CSU GrüneSPD FDP Freie WählerLinkeAfD BayernparteiDie ParteiFair München-ListeMut ÖDP Rosa ListeVolt ZusammenBayern

Die Positionen der Parteien
und Wählergruppen

zu ausgewählten Fragen
aus dem SZ-Wahlcheck

GRAFIK: SEAD MUJIĆ UND SARAH UNTERHITZENBERGER

NR. 44, SAMSTAG/SONNTAG, 22./23. FEBRUAR 2020 PGS


DAS WETTER


NEUBAU-EIGENTUMSWOHNUNGEN IN MÜNCHEN-AUBING

Unverbindliche Darstellung aus Sicht des Illustrators. Nachbargebäude sind nicht oder nur schematisch dargestellt.

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