Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

Freitag, 6. März 2020 ∙ Nr.55 ∙ 241.Jg. AZ 8021Züri ch∙ Fr .4. 90 ∙ €4.


50 Jahre Atomsperrvertrag: Es ist Zeit, an der Verbesserung des Abkommens zu arbeiten Seite 11


Migranten auf demWeg an dietürkisch-griechische Grenze in der Nähe derStadt Edirne. ERDEM SAHIN / EPA


Russland und die Türkei


einigen sich auf Waffenruhe in Idlib


Putin behält i n den harten Verhandlungen mit Erdogan in Moskau die Oberhand


MARKUSACKERET, MOSKAU


Auf welch schmalem Grat sichRussland
und dieTürkei derzeit angesichts der
Eskalation um die nordsyrischeRegion
Idlib bewegen, haben die beiden Präsi-
denten, Wladimir Putinund Recep Tay-
yip Erdogan, am Donnerstag in Moskau
vorgeführt.Rund sechs Stunden dauer-
ten die Gespräche im Kreml, mehrere
Stunden unter vierAugen und dann
im erweiterten Kreis mit denVerteidi-
gungs- undAussenministern undVertre-
tern von Armee und Geheimdiensten.
Trotzdem trugen sie am Abend vor den
Medien ein eher bescheidenes Ergebnis
vor. Putin nannte es «akzeptabel».


Nur eine vorläufige Lösung


Das Minimalziel wurde erreicht:Ab Mit-
ternachtandiesemFreitagsollendieWaf-
fen in Idlib schweigen.Ein je 6 Kilometer
breiter Sicherheitskorridor nördlich und
südlich der Schnellstrasse M4, die süd-
lich von Idlib die sogenannte Deeskala-
tionszone durchquert und auf die stra-
tegisch wichtige Stadt Sarakeb zuführt,
wird eingerichtet.Gemeinsame türkisch-
russischePatrouillen sind geplant.
Diese drei Punkte machen eineVer-
einbarung aus, die von den beidenAus-
senministern,Sergei Lawrow und Mev-
lüt Cavusoglu, im Kreml verlesen und
von den beidenVerteidigungsministern
unterschrieben wurde. Die von denTür-
ken beeinflussten jihadistischen Kämp-
fer und gemässigten syrischenRebel-
len sowie die syrischen Regierungs-
truppen, die vonRussland unterstützt
werden, müssen zur Einhaltung dieser
Abmachungen gebracht werden.
Moskau erwartet überdies, dasssich
die Türkei gemäss den Abmachungen
vom September 2018 in Sotschi nun


um die Entwaffnung der als terroris-
tisch eingestuften islamistischenVer-
bände bemüht.Von diesen, sagte Putin,
seien seit Beginn desJahres die Kampf-
handlungen ausgegangen, die zur Eska-
lation geführt hätten. Erdogan dagegen
machte die syrische Armee dafür ver-
antwortlich.Russland liess sich in das
Vorhaben,Idlib unter ihre Kontrolle
zu bringen, einspannen, wie Moskauer
Kommentatoren meinen.Das warPutin
selbstredendkeiner Erwähnung wert.
Die jetzt getroffeneVereinbarung ist,
wie es die meisten Beobachter vorher-
gesehen hatten, nur eine weitere Etappe,

die angesichts des drohenden türkisch-
russischen Zusammenstosses notwen-
dig geworden war. Russland kann ver-
mutlich besser damit leben als dieTür-
kei, weil schon jetzt die geringe Halb-
wertszeit der Abmachung absehbar ist;
Moskau und vor allemDamaskus set-
zen darauf, in einem nächsten Schritt
dem Ziel einer definitivenRückerobe-
rung vonIdlib doch noch näher zukom-
men.Russland verstärkte seineTruppen
in den vergangenenTagen. Indem der
Sicherheitskorridorentlang der Schnell-
strasse M4 gelegt wurde sowie Sarakeb
in syrischer Hand verbleibt und nach
Berichten von russischer Militärpolizei
gesichert wird,scheint dasRegime des
syrischen Machthabers Asad Gelände-
gewinne südlich der Strasseabzusichern.
Diese verbindet Sarakeb mit dem Hafen

von Latakia und ist strategisch fürRuss-
land und Asad wichtig.

Keine Schutzzone


Der russische Nahostexperte Alexei
Chlebnikow schrieb denn auch direkt
nach Bekanntwerden dieserVereinba-
rung, Russland habe erreicht,was es ge-
wollt habe. Die Türkei dagegen müsse
sich nun um die internVertriebenen und
die Jihadisten kümmern. Die Rede war
aber auch von der Schaffung vonRück-
kehrmöglichkeiten für die Geflüchteten.
Die Türkei und auch die interessierten
europäischenLänder dagegen hatten sich
mehr gewünscht – eine Art Schutzzone
entlang der türkischen Grenze von bis
zu 30 Kilometern. Erdogan kündigte an,
wenn nötig auf Angriffe zu antworten.
Putin und Erdogan setzten mit den
einander offenkundig hart abgerungenen
Abmachungen die bisherigePolitik fort,
di e die übergeordneten bilateralen Be-
ziehungen höher bewertet als die diver-
gierenden Interessen im syrischen Krieg.
Beide Präsidenten betonten, die harten
Gegensätze um Idlib dürften die guten
Beziehungen nicht zerstören,die seit dem
Tiefpunkt 2015/16 für beideLänder stark
an Bedeutung zugenommen haben.
Beide haben aber auch viel zu ver-
lieren. Erdogan stand nach demVer-
lust mehrererDutzend Soldaten durch
syrische – und wohl russisch gedeckte–
Angriffe vorWochenfrist innenpolitisch
unter Druck,Putin gegenüber standhaft
zu sein.Für den Kremlchef wiederum
verbindet sich mitSyrien die wieder-
gewonneneregional- und weltpoliti-
scheRolle und zugleich jene desVer-
mittlers. Deshalb war es ihm auch wich-
tig, dass Erdogan weiterhin im soge-
nannten Astana-Prozess zusammen mit
Iran mitmachen will.

Migrationskrise
Asylrecht:«Was Griechenland tut,
ist illegal», sagt ein Experte. Seite 3

Gewaltanwendung:Vorwürfe der
Türkei an Griechenland. Seite 3

Parmelin will


der Wirtschaft helfen


Massnahmen wegen Co ronavirus in Diskussion


Das Coronavirus hat sein erstes
Todesopfer in der Schweiz
gefordert.Auch dieFolgen für die
Wirtschaftkönnten einschneidend
sein.An einem Krisengipfel hat
WirtschaftsministerParmelin
Unterstützung inAussicht gestellt
und betont: «Es gibtkeine Tabus.»

HANSUELI SCHÖCHLI

Eine74-jährigeFrau aus dem Kanton
Waadt ist das erste offizielleTodesopfer
des Coronavirus in der Schweiz. Nebst
der Bedrohung desVirus für die Ge-
sundheit vor allem von älteren Men-
schen hat dieFurcht vor einerAusbrei-
tung potenziell einschneidendeFolgen
für dasWirtschaftsleben – mit einer
Kombinationvon Produktionsausfäl-
len und Nachfrageeinbrüchen. Ein düs-
teres «Dominoszenario» mit starker
globalerAusbreitung desVirus könnte
heuer dasWachstum derWeltwirtschaft
laut dem globalenLänderverein OECD
von knapp 3 auf etwa 1,5 Prozent hal-
bieren. Für reicheVolkswirtschaften
wie die Schweiz, die unterdurchschnitt-
lich wachsen, wäre in einem solchen
Szenario eineRezession zu befürchten.
Möglich wäre danach eine schnelle Er-
holung im zweiten Halbjahr (V-Szena-
rio) ebenso wie ein neuerlicherRückfall
im nächstenWinter (W-Szenario).
Am Donnerstag hat ein Krisengipfel
in Bern unter der Leitung vonWirt-
schaftsminister GuyParmelin mitVer-
tretern von Sozialpartnern und Kanto-
nen über möglicheFolgen und Mass-
nahmen diskutiert.Konkrete Entscheide
sind laut Beteiligten noch nichtgef allen.
Der Bundesratkönnte diesenFreitag ge-
wiss e Aufträge an betroffene Departe-
mente erteilen.«Es gibtkeine Tabus»,
sagteParmelin nach demTreffen. Er be-
tonte aber auch, dass die Gesetze einzu-
halten seien und man jetzt nicht einfach
über Nacht einen Krisenfonds mit we-
nig abgeklärtem Nutzen aus dem Boden
stampfenkönne.

Unbestrittene Kurzarbeit


Aufgeworfen wurde laut demWirt-
schaftsminister unter anderem die
Idee einer möglichen staatlichenKon-
junkturankurbelung. Finanzpolitischer
Spielraum wäre derzeit beim Bund vor-
handen, doch das istkein Freipass für
Geldverschwendung. Ein Klassiker der
staatlichenKonjunkturankurbelung–
Bauinvestitionen– wä re laut Ökonomen
kaum geeignet für die derzeitigeLage.
Bei Steuersenkungen oder direkten
Geldausschüttungen des Staates wäre zu
fragen, ob die Begünstigten diese Mittel
nicht einfach ansparen würden. Zusatz-
gelder für Innovationsprojekte mögen
derweil gut klingen, taugen aber kaum
als Konjunkturprogramm.
Zu den besonders stark betroffenen
Branchen zählen zum BeispielVeran-
stalter vonKultur- und Sportereignis-
sen, derTourismussektor und das Gast-
gewerbe. Auch Industriesektorenkönn-
ten erhebliche Einbussen erleiden.Aus
volkswirtschaftlicher Sicht kurzfristig

am wichtigsten ist lautTeilnehmern des
Krisentreffens dasVermeiden einer Ent-
lassungswelle und einer Pleitewelle. Die
Kurzarbeit ist dafürein weitgehend un-
bestrittenes Instrument, das sich wäh-
rend derRezession von 2009 bewährte.
Die Arbeitslosenversicherung zahlt für
Kurzarbeitsentschädigungen80 Prozent
des anrechenbarenVerdienstausfalls bei
voraussichtlich nur vorübergehendem
Arbeitsausfall. Zur Diskussion steht die
Idee einer Anweisung des Bundes an
di e Kantone für unbürokratische Be-
handlungen vonKurzarbeitsgesuchen.
Mit einer starken Zunahme solcher Ge-
suche ist zurechnen. Denkbar ist auch
eineReduktion der Karenzfristen.

Juristische Abklärungen


ZurVermeidung einerKonkurswelle
wegen Liquiditätsengpässen stehen aus-
sergewöhnliche Massnahmen zur Dis-
kussion.Zu hören sind Stichwortewie
Betreibungsferien, längere Zahlungs-
fristen fürVeranstalter, die Billette für
abgesagteVeranstaltungen rückerstat-
ten,Fristerstreckungen für Zahlungen
der Mehrwertsteuer undein Ausbau des
Bürgschaftswesens des Bundes. Da es
keine Tabus geben soll, gelten auch dar-
über hinausgehende Massnahmen als
denkbar wie etwa ein Härtefall-Fonds für
besonders stark betroffene Betriebe – mit
«grosszügiger»Auslegung der zwangs-
läufig kniffligen Abgrenzungsfragen.
Ein Hindernis ist allerdings das Epide-
miegesetz, das laut Bundesvertretern
im Prinzip Entschädigungen an Unter-
nehmen ausschliesst. Ein solches Gesetz
liesse sich zwar theoretisch durch Not-
recht gemäss Bundesverfassung über-
steuern, doch den Griff zum Notrecht
will ein demokratischerRechtsstaat nicht
leichten Herzens machen.Für viele denk-
bare Massnahmen sind derzeit juristische
und sonstige Abklärungen im Gang.
Zur Eindämmung desPendlerver-
kehrs und damit der Ansteckungs-
gefahren ermutigen Arbeitgeber ver-
mehrt zur Arbeitvon zu Hause aus.
Auch beim Bund geht es lautVerwal-
tungsangaben in diese Richtung. Theo-
retisch liesse sich im Dienstleistungsland
Schweiz wohl ein erheblicher Anteil der
Erwerbstätigkeiten grossenteils von zu
Hause aus durchführen.

Corona-Epidemie
Leitartikel:Jetzt einen kühlenKopf
bewahren. Seite 12

Medizin:Spitäler bereiten sich
auf mehrPatienten vor. Seite 14

Engpass:In Australien geht
das Toilettenpapier aus. Seite 22

Tourismus:Das Virus ist eine
existenzielle Bedrohung. Seite 22, 23

Recht:Wer haftet beiSchäden
wegen des Coronavirus? Seite 29

Hamsterkäufe:Der Kluge kauft
den Supermarkt leer. Seite 35

Kommentar:Geisterspiele im Profisport
sind eine Alibiübung. Seite11, 42–

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