Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

Freitag, 6. März 2020 MEINUNG & DEBATTE 11


EishockeyundFussball ohneZuschauer


Ohne Publikum ist der Profisport eine Alibiübung


Sportist heutemehr als alles andere einTeil der
Unterhaltungsindustrie. Die SchweizerFussball-
und Eishockeymeisterschaften locken pro Saison je
über zwei Millionen Zuschauer in die Stadien. Sie
sind der Dynamo, der das Geschäft antreibt. Des-
halb hat es auchkeinen Sinn, Eishockey- undFuss-
ballspiele ohne Zuschauer auszutragen. Sowenig es
Sinn hat,Konzerte ohne Zuhörer zu spielen,Filme
ohne Zuseher zu zeigen.
Das Coronavirus undseinerasanteVerbreitung
haben dieWelt in einenAusnahmezustand versetzt.
Nachdem der Bundesrat am MittwochVeranstal-
tungen mit mehr als150 Teilnehmern unter eine
Bewilligungspflicht gestellt hat,werden sich die ab-
gesagten Events zu häufen beginnen.
InFussball- und Eishockey-Kreisen schielt man
ins naheAusland, wo der Sport vorerst weiterläuft,
als wäre nichts geschehen. Am Dienstag schlug der
FCBayern im deutschen Cup Schalke 04 vor 62 000
Zuschauern. Am Mittwoch gewannAustria Lus-
tenau in den Halbfinals des österreichischen Cups


gegenWacker Innsbruck einen Steinwurf von der
Schweizer Grenze entfernt vor 5500 Zuschauern.
Man fragt sich in der Schweiz: Warum dürfen sie,
was man uns verbietet?
EinViruskenntkeine Grenzen. Es mag störend
sein, dass der Sport in Deutschland,Österreich oder
Frankreich weiterläuft, als wäre nichts geschehen,
dass dieVorbereitungen aufkommende Gross-
ereignisse wie die Eishockey-Weltmeisterschaft
in der Schweiz oder die paneuropäischeFussball-
Europameisterschaft unbeirrt fortgesetzt werden.
ThomasBach, der Präsident des Internationalen
OlympischenKomitees, sagte am Mittwoch,Wör-
ter wie «Absage» oder«Verschiebung» seien im
Zusammenhang mit den Sommerspielen inTokio
keinThema gewesen an der Exekutivsitzung in
Lausanne. Aussagen wie diesesind nicht nur igno-
rant, sondern dumm. Sie suggerieren,dass der Sport
über der Gesellschaft steht, und sie erklären das
schlechte Image, das grossenVerbänden wie dem
IOK oder derFifa anhaftet.
Ob dasVerbot von Massenveranstaltungen ver-
hältnismässig ist, wird man erst im Nachhinein wis-
sen. Doch gerade das ist das Problem im Zusam-
menhang mitdem Coronavirus: Niemand ist heute
in derLage, mit Sicherheit zu sagen, wie gross die
Gefahr ist,die davon ausgeht.Aussergewöhnliche
Ereignisse erfordern aussergewöhnliche Massnah-

men. Deshalb war es richtig, Grossveranstaltungen
zu verbieten, selbst wenn der Grenze von 10 00 Zu-
schauern eine gewisseWillkür innewohnt.
Die Massnahmen treffen den Sport hart. Die
SchweizerVereine generieren zwischen 20 und 40
Prozent des Umsatzes aus Zuschauereinnahmen.
Grossklubs wie der FCBasel oder dieYoung Boys
imFussball, die ZSC Lions oder der SC Bern im Eis-
hockey sind heute KMU,von derenLohnzahlungen
nicht nur die Sportler auf den Spielfeldern abhän-
gen. Doch dieAusnahmesituation, die das Corona-
virusgeschaffen hat, trifft sie nicht mehr als andere
Unternehmen, die in denkommendenWochen,
vielleicht Monaten mit schmerzhaften Umsatzein-
bussen zurechnen haben.Das nennt man in der
Geschäftswelt unternehmerisches Risiko,und auf
ein solches bereitet sich ein gewissenhafter Unter-
nehmer mitRückstellungen vor.
ClaudiusSchäfer, der CEO derSwissFootball
League, hat bereits nach staatlicher Unterstützung
gerufen. Es ist der üblicheReflex in der Schweiz,
wann immer irgendwo eine wirtschaftlicheAus-
nahmesituation eintritt. Doch vorher noch soll-
ten die beiden LigenVerantwortung übernehmen
und die Meisterschaften absagen. Spiele ohne Zu-
schauer durchzuführen, nur damit zweiTV-Spar-
tenkanäle einen Programminhalt haben, sind Alibi-
übungen, die des Profisports unwürdig sind.

Die beiden Ligen


solltenVe rantwortung


übernehmen und die


Meisterschaften absagen.


50 Jahre Atomsperrvertrag


Ein runder, aber kein fröhlicher Geburtstag


Seitdem die USA1945 mit dem Abwurf zweier
Atombomben aufJapan dem ZweitenWeltkrieg
ein brutales Ende setzten, ist die Menschheit mit
einer überlebenswichtigenFragekonfrontiert:Wie
kann sichergestellt werden, dass diese furchtbarste
allerWaffen nie wieder zum Einsatzkommt? Nach
dem Krieg erwogen die Amerikaner zunächst, die
Kontrolle über ihre Atomwaffen den neugegrün-
detenVereinten Nationen zu übergeben. Doch die-
serPlan scheiterte am Misstrauen in der Staaten-
welt. Denn wer würde sicherstellen, dass die Uno
ihreRolle unparteiisch ausüben würde? Und wer
würde garantieren, dasskein Staat heimlich doch
Atombomben entwickeln würde?
Mit dem ersten sowjetischen Atomtest1949 war
dieFrage eines Nuklearmonopols in den Händen
einer weisenWeltregierung endgültigTheorie ge-
worden; nunkonnte es nur noch darum gehen, die
Ausbreitung dieserWaffe zu begrenzen. DieWelt
lebe unter einem nuklearenDamoklesschwert,


sagte der amerikanische PräsidentJohnF. Kennedy
vor der Uno – er ging davon aus, dass bis zum Ende
seinerAmtszeit gegen zwanzig Staaten in den Be-
sitz von Atombombenkommenkönnten. Selbst die
kleine Schweizverfolgte aktiv diese Option.
Vor diesem Hintergrund war es ein grosser Er-
folg,als vor fünfzigJahren, am 5. März1970, der
Atomwaffensperrvertrag in Kraft trat. Er stellte
einen geschicktenTauschhandel dar:Wer ihn unter-
zeichnete, durfte Know-how zur friedlichen Nut-
zung derKernenergie erhalten, musste im Gegen-
zug aber inKontrollen einwilligen, die den heim-
lichenBau von Atombomben verhindern sollten.
EineAusnahme erhielten nur die damaligen fünf
AtommächteUSA,Frankreich, Grossbritannien,
Sowjetunion und China. Sie durften ihre Arsenale
behalten, mussten sich abervage verpflichten, über
eine vollständige Abrüstung zu verhandeln.
FünfzigJahre später lässt sich in positiver Hin-
sicht festhalten, dassKennedysVision nichtReali-
tät geworden ist. DieAusbreitung der Atomwaffen-
technik wurde wirksam gebremst. Heute gibt es
nichtDutzende von Atomwaffenstaaten, sondern
nur neun, und vor allem kam in diesemJahrhundert
nur ein einziger hinzu.Tr otzdem steckt der Atom-
sperrvertrag (Non-ProliferationTr eaty, NPT) un-
übersehbar in einer Krise.

Drei Gründe dafür verdienen besondere Er-
wähnung: Erstens ist es der sogenanntenWelt-
gemeinschaft – dem Sperrvertrag gehören190 Staa-
ten an – nicht gelungen, Missbräuchen einen Rie-
gel zu schieben.Nordkorea kündigte 200 2 kurzer-
hand seine Mitgliedschaft, als es sich zumBau von
Atombombenentschloss. Die von der Uno dar-
aufhin beschlossenen Strafmassnahmen änderten
daran nichts mehr. Wennein Land unter dem Deck-
mantel eines zivilenKernenergieprogramms jedoch
militärische Pläne verfolgen und sich einesTages
einfach aus demVertragswerk verabschieden kann,
so untergräbt dies denTauschhandel, der dasFun-
dament des NPT bildet.
Dasselbe Problem stellt sich heute imFall Iran:
Teheran droht offen mit einemAusstiegaus dem
Vertrag. Eine entschlossene Gegenreaktion auf die-
sesVerhalten sollte nicht nur dieAufgabe der Ame-
rikaner sein,sondern allerVertragsstaaten. Sonst
werden Nachbarn Nordkoreas und Irans ernsthaft
eine eigene nukleare Bewaffnung erwägen müssen.
Bereitsjetzt senden Saudiarabien und dieTürkei
entsprechende Signale aus. Die Gefahr einerVer-
vielfachung der Atomwaffenstaaten ist daherkei-
neswegs gebannt.
Zweitens leben die fünf anerkannten Atom-
mächte ihremTeil derVerpflichtungen ungenügend

nach: Der Abrüstungsprozess stockt seit langem.
Zum Mindesten sollten sich die USA undRuss-
land, die 90 Prozent der Atomwaffen besitzen, auf
eineVerlängerung ihresVertrages über die Begren-
zung strategischer Atomwaffen (New Start) eini-
ge n. Dieser droht in elf Monaten auszulaufen. Es
braucht aber auch weiterreichendeVerhandlungen,
etwa über dieVermeidung einesRüstungswettlaufs
im Bereich der Hyperschallraketen.
Drittens wird die Legitimität des NPT nun auch
von einer neuen Seite geschwächt: Der 20 17 von
mehr als hundert Staaten beschlossene und mög-
licherweise noch dieses Jahr in Kraft tretende
Atomwaffenverbotsvertrag strebt eine vollstän-
dige völkerrechtlicheÄchtung von Atombomben
an. Nicht nur ist dies ein unrealistisches Ziel und
fehlen demVertrag die Mechanismen zum Schutz
gegen Missbrauch.Das neue Abkommen tritt auch
inKonkurrenz zum NPT und untergräbt denKom-
promiss von1970. Die für denFrühlinggeplante
Konferenz zurÜberprüfung des Atomsperrvertrags
sollte daher genutzt werden, um sich auf dieVor-
züge des 50-jährigen Geburtstagskindes zu besin-
nen und an seinerVerbesserung zu arbeiten, anstatt
einfach seinem Zerfall zuzusehen. Denn das einst
vonKennedy beschriebeneDamoklesschwert ist
nie verschwunden.

MangelnderRespekt fürdas politischeSystem


Die Zürcher Klimaaktivisten vergreifen sich im Ton


Seit es die Klimajugend gibt, steht derVorwurf der
Heuchelei imRaum. Nicht dieJugendlichen ver-
halten sich bisweilen heuchlerisch, sondernPoliti-
ker, die in deren Namen längst bekannteForde-
rungen stellen.Das Schauspiel, das am Mittwoch
im Zürcher Stadtparlament vorgeführt wurde, ge-
hört in diese Kategorie.Draussen, vor demRats-
saal, standen ein paarDutzend Klimademonstran-
ten Spalier und bereiteten den Gemeinderäten
einen lauten Empfang. Und drinnen beklatschten
linke und grüneParlamentarier das «Ultimatum»
der Demonstrierenden, die endlichTaten von der
Politik forderten. Von einerPolitik wohlgemerkt,
die imFalle der Stadt Zürich von der Legislative
bis zur Exekutive links-grün dominiert ist.
Ins Bild passt, dass die grüne Gemeinderätin,
die im Namen der Demonstrierenden sprach, ihr
Votum direkt an die politische Gegenseite rich-
tete – obwohl man eineParlamentsminderheitaus
naheliegenden Gründen schlecht in dieVerant-


wortung nehmen kann. Angesichts der politischen
Kräfteverhältnisse verfügten die Klimademons-
trierenden über ausreichend Kanäle, ihre Anliegen
direkt insSystem einzuspeisen. Aber um inhaltliche
Forderungen geht eswohl wenigeralsumAufmerk-
samkeit, die den Klimademonstrationen infolge des
Coronavirus abhandengekommen ist.
Politische Provokation ist eineKunst.Der be-
wussteRegelbruch muss scharf genug sein, um
Empörung auszulösen.Wer aber zu weit geht, be-
schädigt die eigeneReputation. Nun sollte man Stil-
fragen im politischen Diskurs nicht dashöchste Ge-
wicht beimessen, aber man darf doch dieFrage stel-
len, wie demokratisch es ist, wenn gewähltenPar-
lamentsmitgliedern der Zugang zumRatsgebäude
erschwert wird. Dies taten die Demonstranten im
Falle der Gemeinderäte – und am Montag zuvor im
Falle der Kantonsräte – vorerst zwar nur symbolisch.
Es ist jedoch eineSymbolik, die abstossendwirkt.
Man hältPolitikern das Megafon vors Gesicht und
fordert sie auf, «denFinger herauszunehmen». Man
hantiert mit Ultimaten und droht mit «friedlichen,
aber drastischen Methoden», falls die gestellteFor-
derung nicht erfüllt wird. Bis am 31. August sollen
diePolitiker einen Massnahmenplan vorlegen. Sollte
das «Ultimatum»ungenutzt verstreichen, wollen die
Klimademonstrierenden noch einen Schritt weiter

gehen. Die Aktivisten müssen aufpassen, dass sie
das Spiel nicht zu weit treiben. Es geht nicht an,
dass sie demokratische Abläufe stören.
Man kann mit guten Gründen der Meinung sein,
es gehe in der Klimapolitik zu wenigrasch vorwärts.
Die Ergebnisse der Klimaproteste des vergange-
nenJahres sind vor allem mit Blick auf das inter-
nationaleParkett bescheiden.Dass dies die Klima-
aktivisten frustriert, ist verständlich. Legitim ist bei-
spielsweise diekonkreteForderung an den Zür-
cher Stadtrat, die Behandlung eines umfangreichen
KlimapaketsmitVorstössen verschiedenerParteien
zu beschleunigen.
Gleichwohl darf manauch von der Klimajugend
Respekt vor dem hiesigen politischenSystem ein-
fordern. Nicht nurVorstösse wurden in ihrem Sinn
eingebracht. Der Kantonsrat hat den «Klimanot-
stand» ausgerufen, und seit denWahlen vom ver-
gangenenFrühling amtet ein Grüner alsBaudirek-
tor. Bis sich diese demokratisch legitimiertenVer-
änderungen auswirken, braucht es Zeit. Mit unaus-
gegorenen Gesetzesvorschlägen ist niemandem
gedient. Alle einschneidenden Massnahmen wer-
den am Ende den Stimmberechtigten an der Urne
vorgelegt. Sie müssen mit anderen Worten mehr-
heitsfähig sein. An die demokratischen Spielregeln
müssen sich auch Klimaaktivisten halten.

An die demokratischen


Spielregeln muss sich


auch die Klimajugend


halten.


MICHAEL
VON LEDEBUR
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