Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

Freitag, 6. März 2020 SCHWEIZ 13


Das Kantonsspital Luzernbereitet sichkonsequent


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AmMontagbeginnt das erste Fifa-Strafverfahren – sofern


der Prozess nichtwegen des Coronavirus platzt SEITE 15


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Die linken Mühen

mit dem Antisemitismus

Viele SP -Genossen tun sich schwer damit, linken und muslimischen Judenhass klar zu benennen – Lea Kusano gehört nicht zu ihnen


LUCIEN SCHERRER


Sie hat Proteste für Flüchtlingskin-
der organisiert, prangert die «milliar-
denschwere Nahrungsmittelindus-
trie» wegen irreführenderWerbung in
Sachen Salatsaucen an, und wegen ihr
(oder,jenachSichtweise:dankihr)muss
die Berner Stadtverwaltung 35 Prozent
ihrer Führungspositionen mitFrauen
besetzen. LeaKusano ist einekonse-
quente Linke, aktiv und unbequem,
mit einer tiefen Abneigung gegen-
über Monokulturen – egal,ob diesege-
schlechtlich, ideologisch oder kulturell
begründet sind. «Ich bin in die SP ein-
getreten, als BundesrätinRuth Metz-
ler abgewählt wurde, um mit Christoph
Blocher einem weiteren Mann Platz
zu machen», erzählt sie. Doch mittler-
weile hadert die 40-jährige Ethnolo-
gin in Sachen Monokulturen auch mit
ihrem eigenen politischen Umfeld, das
sich in den letztenJahren stark ideolo-
gisiert habe. «Wie viel », so f ragt sie sich
etwa, «braucht es eigentlich , um in der
Linken als ‹rechts› zu gelten?»


Beschämende Reaktionen


Ihre Antwort: Sehr wenig – esreicht,
nichtjedenBürgerlichenalsMenschen-
feind zu betrachten,Gewalt vonLinks-
extremisten zu kritisieren oder Anti-
semitismus selbst dann zu verurteilen,
wenn er in den eigenenReihen gedeiht,
sich unter dem Deckmantel aggressiver
«Israelkritik» verbirgt oder vonreligiö-
sen Minderheiten ausgeht. So hat ihr
Cédric Wermuth,derLinksaussen-Kan-
didat für das SP-Präsidium,kürzlic h
auf Twitter vorgehalten, sie fröne dem


«Talkpoint vonRechtsaussen», weil sie
ihmvorgeworfenhatte,ersetzesichnur
gegen Antisemitismus ein, wenn es ge-
rade opportun sei.
Das Thema Judenhass beschäftigt
Kusano persönlich, denn ihreVorfah-
ren mütterlicherseits sindJuden, die in
Osteuropa zwangsbekehrt und verfolgt
wurden. Ihre Mutter und ihre Schwes-
terhabendenjüdischenGlaubeninder
Schweizwiederangenommen,sieselber
istkonfessionslos,fühltsichdemJuden-
tum jedoch verbunden.Dazu gehört
auch,dasssiedenStaatIsraeltrotzallen
Unzulänglichkeiten als eine Art «Safe
Space» fürJuden verteidigt – gerade
jetzt, wo derAntisemitismus in Europa
und den USA wiederspürbarzunimmt.
Mit ihrer proisraelischen Haltung
hat sichKusano allerdings schon viele
Feindegemacht.2012sorgtedieBerne-
rin in ihrer Heimatstadt gar für einen
regelrechten Skandal. Sie erdreistete
sich nämlich,ein e von der Stadt Bern
alimentierte,vonRegula Rytzeröffnete
und von allen linkenParteien unter-
stützteAusstellung über dieVertrei-
bung derPalästinenser öffentlich als
einseitig, antiisraelisch und grenzwertig
zu kritisieren. Womit si e, wie Proteste
in Deutschland und Gegendarstellun-
gen von Berner Lehrern zeigen, nicht
ganz allein war.
Dennoch löste Kusanos Gottes-
dienststörung geradezu «beschä-


mende» Gegenreaktionen aus, wie der
sonst eher linksgrüne «Bund» in einem
Kommentarmonierte.DerOrganisator
der Ausstellung, ein religiöser Sozialist
Namens Matthias Hui, versuchte die
Jungpolitikerin mit Zitaten aus einer
privaten Mail öffentlich blosszustellen;
eine grüne Stadträtin wiederum foto-
grafierte sie bei einem Schwatz mit
einem EDU-Politiker und stellte das
Bild ins Netz (Kommentar:«Was will
uns dieses Bild sagen?»).
Kurz nach dem Skandal wurdeKu-
sano mit dem bestenResultat ins Ber-
ner Stadtparlament gewählt, doch im
linken Kuchen wirkt die Geschichte bis
heutenach.EinigeGenossengrüssensie
schon gar nicht mehr.Andere sagen ihr
ins Gesicht, siekönne «alsJüdin» doch
gar nicht anders denken, während wie-
der andere mittels Ahnenforschung zu
beweisen versuchen, dass sie gar nicht
das Recht habe, sich alsJüdin zu «in-
szenieren», weil nur ihre Grossmutter
väterlicherseitsjüdischgewesensei(was
nicht stimmt).

Reden überIslamfeindlichkeit


Die heftigenReaktionen zeigen jeden-
falls, dass dieThemen «Israel» und
«Antisemitismus» innerhalb der Lin-
ken einen empfindlichen Nerv treffen.
Denn zum einen gehört der Kampf
gegen jegliche Formen vonRassis-
mus und Antisemitismus unbestritten
zur linken DNA. Zum anderen stehen
viele Antirassisten vor einem morali-
schen Dilemma,sobald sich auch ideo-
logischVerbündeteoder vermeintliche
UnterdrücktealshässlicheAntisemiten
entpuppen.
So ist es ein offenes Geheimnis, dass
viele Palästinensergruppen übleant i-
semitischePropagandabetreiben,indem
sieJudenalsBlutsauger,Weltverschwö-
rer oder Brunnenvergifter verleum-
den undDavidsterne mit Hakenkreu-
zen gleichsetzen. Die britischeLabour-
Party vonJeremy Corbyn wiederum,
den Schweizer (Jung-)Sozialisten wie
Cédric WermuthalsVorbildbetrachten,
warindenletztenJahren regelmässigin

den Schla gzeilen wegen antisemitischer
Ausfälle in den eigenenReihen.
Und schliesslich ist es nicht mehr zu
leugnen,dassderinarabischenLändern
gepflegte Antisemitismus mittlerweile
auch in Europa wütet – namentlich in
Ländern wieFrankreich, wo sich viele
JudenwegengewalttätigerAngriffeund
MordevonIslamistennichtmehrsicher
fühlen, bestimmte Quartiere meiden
und zu Zehntausenden auswandern.
DochwersolcheTatsachenanspricht,
läuft schnell Gefahr, als «islamophob»
oder gar«rassistisch» abgekanzelt zu
werden. «Alles, was mit dem Islam zu
tun hat , ist in der SP ein grosses Tabu»,
sagt der ehemalige Zürcher SP-Präsi-
dent und NationalratDaniel Frei, «der
moralisierende Habitus führt zu einer
gewissenBlindheit.Wichtigwärejedoch

ein e diffe renzierte Betrachtung.» Frei
hat im letzten Sommer zu den Grün-
liberalengewechselt,weilihmdieSPzu
linksideologisch geworden ist.
Wie schwer sich die SP mit gewis-
sen Formen des Antisemitismus tut,
zeigt eineResolution,welche diePartei
im letzten Mai verabschiedet hat. «Die
SP Schweiz kämpft gegen Antisemitis-
mus», heisst es imTitel.Allerdings geht
es im Text dann erst einmal um die an-
geblich grassierende «Islamfeindlich-
keit» und die «islamophobeAngstkam-
pagne»der«Rechten».Auchderaufkei-
mende Antisemitismus, so könnte man
bei oberflächlicher Lektüre schliessen,
geht in Europa nur von «Rechten» aus.

Dass muslimische Extremisten und
Linksextreme gemäss europäischen
Umfragen für rund 50 Prozent der
schwersten judenfeindlichen Attacken
verantwortlich sind (Rechtsextreme: 13
Prozent),wirdnämlichmitkeinem Wort
erwähnt–vielmehrmussmansichdiese
InformationenausangehängtenStudien
zusammensuchen.

«Gaza ist ein KZ» als Code


Für Lea Kusano ist dieser Eiertanz um
religiös motiviertenJudenhass absolut
unwürdig, gerade für eine vormalsreli-
gionskritischePartei wie die SP:«Wer
dieTäternichtklarbenennt,derschützt
sie. Und die Betroffenen fühlen sich
noch mehr im Stich gelassen.» SP-Prä-
sident Christian Levrat hält dasPapier
dagegen für «sehr mutig»: «Es ist nicht
primär darum gegangen, die Ursachen
zu benennen, sondern Gegenmassnah-
men aufzuzeigen. Und hier wagen wir
uns weit vor.»
TatsächlichzeigtdieResolutiontrotz
allerVerschleierung, dass sich in der SP
etwas bewegt. Unter anderem fordert
sie Bundesrat undParlament dazu auf,
«sichzurAntisemitismus-Definitionder
In ternational HolocaustRemembrance
Alliance zu bekennen»; ein entspre-
chendesPostulatvonSP-StänderatPaul
Rechsteinerist in der Herbstsession
überwiesen worden.Das ist insofern
brisant,als dies e umstrittene Definition
auch bei propalästinensischen Linken
auf heftigeAblehnungstöss t.
Aus naheliegenden Gründen: Anti-
semitisch ist gemäss der Allianz auch,
wer Juden kollektiv für Handlungen
desStaatesIsraelverantwortlichmacht,
den Staat Israel als «rassistisches» Pro-
jekt ablehnt oder diePolitik Israels mit
jener des «DrittenReichs» vergleicht.
AlldasgehörtzurFolkloreanpropaläs-
tinensischen Demos («Gaza schlimmer
als Holocaust» usw.), aber auch zum
Repertoi regewisserOrganisationenund
SchweizerPolitiker.
«Gaza ist ein KZ», behauptete der
langjährige SP-Nationalrat Franco
CavallivoreinigenJahren,zudemstellte

er die rhetorischeFrage, ob die Juden
die Taten der Nazis vergessen hätten.
Der heutige SP-Nationalrat und -Präsi-
diumskandidatMathiasReynardschrieb
in seinerJuso-Zeit, derWesten und die
USA unterstützten «das jüdischeVolk»
mitseinemMärtyrerstatussystematisch;
eine Aussage, die er heute alsJugend-
sünde bedauert.
Andere Sozialdemokraten und
Grüne halten bis heute unbeirrt zu
Organisationen, die in Sachen Anti-
semitismus nicht über jeden Zweifel
erhaben sind. Der Schweizer Ableger
der palästinensischen«Boy kott, Des-
investitionen und Sanktionen»-Bewe-
gung (BDS) schmückt sich bis heute
mitlinkerProminenzwieCarloSomma-
ruga,Margret Kiener Nellen (SP),The-
res Frösch und Geri Müller (beide GP)
oder demFilmemacher Samir, der auch
als«Patron»derBernerNakba-Ausstel-
lung fungierte.
Obwohl offiziell den Menschenrech-
ten verpflichtet,fallen Exponenten von
BDSimmerwiedermitderVerbreitung
antisemitischer Karikaturen und Kli-
scheesauf.ImletztenMaihatderDeut-
sche Bundestag die Methoden und die
Argumente der Bewegung als «anti-
semitisch»verurteilt,auf Antrag von
CDU/CSU,SPD,FDPunddenGrünen.
Ihren Entscheid stütztendie Be fürwor-
ter unter anderem auf die Antisemitis-
mus-Definition der International Holo-
caust Remembrance Alliance, welche
die SP auch in der Schweiz verankern
will–wasBDSSchweizzuProtestnoten
an die SP provoziert hat.
Lea Kusano sieht es so:«Wenn es
der SP ernst ist mit dem Kampf gegen
den Antisemitismus, distanziert sie sich
klarvonOrganisationenwieBDS.Alles
andere hinterlässt einensehr schalen
Nachgeschmack.» ObKusano ihre Kar-
riere in der SP fortsetzen wird, ist der-
zeit offen, denn die Stimmung ist auch
sonst angespannt.
Vor einigenTagen hatKusano ihr
Berner Grossratsmandat abgegeben,
weil ihr dieFraktion denWunsch ver-
weigert hat, die erste Session auszu-
setzen. Dies, obwohl esKusano darum
ging,ihre schwerkranke Mutter zu pfle-
gen, die kürzlich gestorben ist. Seit-
her stellt sie sich dieFrage, ob man sie
ebenfallsderartkaltschnäuzigbehandelt
hätte , wenn sie eine Linke der beque-
men Sorte wäre.

Die Berner SP-PolitikerinLea Kusano sprichtvon einem«schalenNachgeschmack», wenn diePartei nicht aufmuckt. A. RAMP / NZZ

«Wie viel braucht es
eigentlich, um in der
Linken als ‹rechts›
zu gelten?»

«Wer die Täter
nicht klar benennt,
der schützt sie.
Und die Betroffenen
fühlen sich noch mehr
im Stich gelassen.»

«Wie wird das


Risikovonheute


zurChance


vonmorgen?»


Annelis Lüscher
Hämmerli
Chief Risk Officer
Swiss LifeAssetManagers
zum selbstbestimmten
Leben
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