Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

14 SCHWEIZ Freitag, 6. März 2020


Bundesgericht


wird vorerst


nicht entlastet


Parlament be gräbt Neuerungen
amBundesgerichtsgesetz

KATHRIN ALDER

8040 – so vieleFälle erledigte das Bun-
desgericht 2018, rund tausend mehr als
noch vor zehnJahren. Die Zahl ist ein
Rekordund symbolisiert zugleich eine
rote Linie. Die Arbeitslast dürfe nicht
wie in den vergangenenJahren weiter
ansteigen, lautet derTenor inLausanne
und Luzern. DiePolitik pflichtet die-
ser Analyseim Grundsatz bei.Man ist
sich einig darin, das Bundesgerichtvon
Bagatellfällen entlasten zuwollen. Im
Juni 20 18 unterbreitete der Bundesrat
demParlament eineRevisionsvorlage.
Am Donnerstag hat dasParlament die
Vorlage nun begraben – nach rund sie-
benjähriger Arbeit.
DerAbsturz kündigte sich schon im
Ständerat an, der Nationalrat wollte
nicht einmal über dieVorlage debat-
tieren.Erversenktesie ohne Gegen-
stimme. Kommissionssprecher und
GLP-Nationalrat Beat Flachnannte sein
Votum denn auch «eher einen Nachruf
als einen Bericht über dieResultate der
Kommission». Pikanterweise ist dieses
Resultat zumindest im Moment sogar
im Sinne des Bundesgerichts. Es hatte
schon lange klargemacht, dass dieVor-
lage, wie sie inzwischen ausgestaltet war,
ihr Ziel verfehle. Es gebe daherkeinen
Grund, an derVorlage festzuhalten,
sagte Flach und empfahl, diese «schick-
lich zu beerdigen».

Mängel werdenbehoben


Das Bundesgerichtsgesetzregelt den Zu-
gang zum höchsten Gericht der Schweiz.
Ursprüngliches Ziel derRevision war
es, das Bundesgericht gezielt zu entlas-
ten,ohne denRechtsschutz für den ein-
zelnen Bürger einzuschränken. Zu die-
sem Zweck unterbreitete der Bundes-
rat demParlament verschiedeneVor-
schläge.Bussen etwa sollten erst ab
einer Höhe von 50 00 Franken vor Bun-
desgerichtangefochten werdenkönnen.
Am meistenKopfzerbrechen bereitete
die sogenannte subsidiäreVerfassungs-
beschwerde, mit der dieVerletzung ver-
fassungsmässigerRechte gerügt werden
kann. Dem Bundesgerichtist sie seit je
ein Dorn imAuge, Bundesgerichtsprä-
sident Ulrich Meyer nannte sie in einem
Interview mit der NZZ gar einen «Rohr-
krepierer». Sie werde nur sehr selten gut-
geheissen.Von deren Abschaffung er-
hoffte man sich eine starke Entlastung.
Auch der Bundesrat wollte sie ur-
sprünglich abschaffen. Doch erwies sich
derWiderstand in derVernehmlassung
als zu gross. Allenthalben wurde vor
einem Abbau desRechtsschutzes ge-
warnt. Schliesslich entschied der Bun-
desrat, die Beschwerde beizubehalten,
die Mängel derKonstruktion aber mit
einemAusnahmekatalog zu beheben.
DerNationalrat beugtesichvor einem
Jahr erstmals über dieVorlage, und weil
er imErgebnis dem Bundesrat folgte,
verlor dieVorlage die Unterstützung
des Bundesgerichts. Schliesslich nahm
der Ständerat einen letzten Anlauf und
suchte nach Alternativvorschlägen für
die subsidiäreVerfassungsbeschwerde.
Das Bundesamt fürJustiz erarbeitete
drei Modelle, doch auch sie überzeug-
ten das Bundesgericht nichtrestlos. In
derFolge zog die ständerätlicheRechts-
kommission dieReissleine.

Rasche Neuauflage ist illusorisch


Verschiedene Elemente derRevision
sind jedoch nach wie vor unbestritten,
da sie das Bundesgericht klar entlas-
ten würden.Kommissionssprecher Beat
Flach machte am Donnerstag denn auch
deutlich, eine neueReform dürfe nicht
weitere zehnJahre auf sich warten las-
sen. Ulrich Meyer indes ist wenig zuver-
sichtlich: «Es ist eine Illusion, auf eine
rasche Neuauflage zu hoffen, nachdem
dieVorlage trotz offen zutage liegendem
Revisionsbedarf beerdigt worden ist»,
sagt er. Für ihn steht fest: Das Bundes-
gericht musssich– insbesondere ange-
sichts der seit 2010 verdoppelten Straf-
fälle – bald umorganisieren.

Aus Spitalbüros werden Isolierz immer


Das Luzerner Kantonsspital bereitet sich auf eine Ausweitung der Corona-E pidemie vor


ERICHASCHWANDEN, LUZERN


Sonja Bertschy, die die Medienschaffen-
den im zehnten Stockwerk des Luzer-
ner Kantonsspitals (LUKS) empfängt,
hat eine lange Nacht hinter sich. Die
stellvertretende Chefärztin Infektiolo-
gie hat in den vergangenen Stunden die
erste Coronavirus-Patientin des Kan-
tons Luzern betreut und ist am Nach-
mittag immer noch auf den Beinen,
um denJournalisten imRahmen einer
Medienkonferenz die Coronavirus-Iso-
lierstation zu zeigen.


Abseits des Normalbetriebs


Beim ersten bestätigten LuzernerFall
handelt es sich um eine16-jährige Schü-
lerin der Kantonsschule Alpenquai.
Wie der Luzerner KantonsarztRoger
Harstall erklärt, hat sie sich vermut-
lich während einesFerienaufenthaltes
in der Lombardei angesteckt. Die junge
Frau, dieSymptome zeigt, aber sich in
guter gesundheitlicherVerfassung be-
findet, hätte sich bei ihremFerienantritt
wohl nicht vorstellenkönnen, dass sie
die erstePerson sein wird, die auf der
eigens dafür eingerichteten Isolierab-


teilung des Kantonsspitals landen wird.
Dort kann sie nun von einem bestens
ausgerüsteten Umfeld profitieren.
«Wir sind natürlich froh, dass wir
dieVorarbeitenrechtzeitig abgeschlos-
sen haben und jetzt bereit sind, wenn
sich die Zahl derVerdachtsfälle häufen
dürfte», erklärt der Chefarzt Infektio-
logie MarcoRossi. Zwar bietet die Sta-
tion nur gerade zwölf Betten in sechs
Zimmern. Die Kapazitäten sind zufällig
frei geworden, weil das Luzerner Kan-
tonsspital umgebaut wird und deshalb
Reserveräume vorhanden sind. Bis vor
kurzem waren hier noch Büros für das
administrativePersonal untergebracht.
Doch bereits diese relativ kleine
Anzahl von abgeschotteten Zimmern
entlastet momentan den Betrieb des
grössten nichtuniversitären Spitals der
Schweiz mit seinen 870 Betten und über
7100 Mitarbeitendenspürbar. «Die Ab-
klärungen und die stationäre Behand-
lung sind auf diese Isolierstationkonzen-
triert, damit das Spital die übrigenAuf-
gaben möglichst lange ohne Beeinträch-
tigungwahrnehmen kann», erklärtRossi.
Wer als Verdachtsfall ins Spital
kommt, wird auf eine spezielle «Fast
Tr ack» gebracht. Bereits beim Empfang

erhalten diesePersonen eine Schutz-
maske und werdenkonsequent vom
übrigen Spitalbetrieb getrennt. Beglei-
tet von zwei Betreuerinnen, ebenfalls
mit Schutzausrüstung, geht es per Lift
hoch in den zehnten Stock. Überall ste-
hen in der geschlossenen Abteilung
Desinfektionsmaterial, Atemschutzmas-
ken und Schutzbrillen bereit. Die Atmo-
sphäre ist ruhig, fast schongespenstisch.
Der normale Spitalbetrieb scheint weit
weg zu sein.
Am Donnerstagnachmittag nimmt
Sonja Bertschy an der Eingangstür
zur abgeschotteten Station einen jun-
gen Mann in Empfang.So schnell wie
möglich wirder in einen weiteren ab-
gesichertenRaum gebracht, wo ein
Abstrich vorgenommen wird.Wenn es
sein Gesundheitszustand erlaubt, wird
sich der Mann bis zum Eintreffen des
Resultats aus demReferenzlabor Genf
zu Hause aufhalten dürfen. Sollte sich
derVerdacht auf eine Ansteckung mit
dem Coronavirus bestätigen, würde er
ein Zimmer mit bestem Blick auf den
Rotsee erhalten. Doppelt belegt wer-
den die Zimmer nur mitPatienten, die
sich bereits angesteckt haben. Vorläufig
ist dies in Luzern noch nicht derFall, ist

doch die Zahl der Covid-19-Fälle in der
Innerschweiz bis jetztrelativ niedrig.
DenVerantwortlichenim Spital und
bei der kantonalen Gesundheitsdirek-
tion ist sehr wohl bewusst, dass ange-
sichts der steigendenFallzahlen von
Coronavirus-Erkrankungen die Kapa-
zitäten dieser Isolierstation wohl nicht
ausreichen werden.«Wir haben be-
reits Betten auf anderen Abteilun-
gen bezeichnet, die wir im Bedarfsfall
für Coronavirus-Patienten frei machen
würden», sagtRossi.Das hätteKonse-
quenzen für den gesamten Spitalbetrieb,
müssten doch geplanteWahleingriffe
verschoben werden. Diese Massnahme
wäre nicht nur nötig, ummehr Platz zu
schaffen, sondern auch um das Pflege-
personal zu entlasten. Dieses muss mit
der steigenden AnzahlFälle fertigwer-
denund sich auf die wichtigstenAuf-
gabenkonzentrieren. Egal ob diese mit
der Epidemie im Zusammenhang ste-
hen oder nicht.

In Quarantäne zu Hause


Genügend Masken,umdie Ärztinnen
und das Pflegepersonalvor einer An-
steckung zu schützen,sind im Kantons-
spital vorhanden. Zurzeit werden alle
mit einer Atemschutzmaske ausgerüs-
tet, die einen optimalen Schutz bietet.
Gemäss MarcoRossi kann es durchaus
sein,dass es diese aufgrund der Ent-
wicklung der Infektionen nicht braucht.
Allenfallskönnten in gewissen Berei-
chen einfache Hygienemasken genügen.
Solltesich die Zahl der Ansteckun-
gen in denkommendenWochen stark
erhöhen, würden wohl auch die leichten
Fälle nicht mehr im Spital isoliert, son-
dern in ihrer häuslichen Umgebung. Die
Spitalplätze dürften dann in erster Linie
älterenPersonen vorbehalten bleiben.
Noch ist es in Luzern allerdings nicht
so weit. So wird sich die Kantonsschü-
lerin, bei der sich ein leichterVerlauf
der Krankheit abzeichnet, wohl noch
ein paarTage bestens umsorgt im Spi-
tal aufhalten. Ihre Mitschülerinnen und
-schüler sowie acht Lehrpersonen und
die Eltern befinden sich in Quarantäne
zu Hause. Die Klassewird imFernunter-
richt begleitet.
Bei einer zweiten infiziertenPerson
im Kanton Luzern handelt es sich um
einen 45-jährigenFamilienvater. Laut
KantonsarztRoger Harstall hater sich
in der Schweizangesteckt. Dieser Mann
stand in engemKontakt mit einerPer-
son, dieebenfalls in einem anderen Kan-
ton positiv getestet wurde. Er sowie zwei
weiterePersonen aus demFamilienum-
feld wurden ausserhalb des Kantons-
spitals unter Quarantäne gestellt.

Desinfektionsmittel sind auf der Isolierstationdes Luzerner Kantonsspitalsallgegenwärtig. CHRISTOPH RUCKSTUHL / NZZ


Bei Schutzmasken ist kein Ende des Lieferengpasse s in Sicht


sak.· Masken und Desinfektionsmittel
werden noch eine ganzeWeile nicht ge-
liefert werdenkönnen. Deswegen muss
der Bund einspringen.AuchTeigwaren
bleiben stark gefragt – mitAusnahmen
allerdings.
Der Kreis auf dem Bildschirm dreht
und dreht und dreht sich weiter, bis
irgendwann «Error 404» erscheint.Kurz
vorher war der erste Corona-Todes-
fall im KantonWaadt gemeldet wor-
den, und dieWebsite des Bundesamtes
für wirtschaftliche Landesversorgung
(BWL) hat sich aufgehängt.Das über-
rascht kaum. Denn dasBWL hat in der
Schweiz dieAufgabe, «dieVersorgung
desLandes mit lebenswichtigen Gütern
und Dienstleistungen sicherzustellen für
denFall machtpolitischer oder kriegeri-
scher Bedrohungen sowie in schweren
Mangellagen, denen dieWirtschaft nicht
selbst zu begegnen vermag».
Um seineAufgabe zu erfüllen, ver-
pflichtet dasBWL die grossen Detail-
händler dazu, bestimmte Mengen an
Lebensmitteln und Medikamenten zu
halten. So soll im Notfall dieVersorgung
drei Monate lang garantiert werden. Be-
finden sich die Händler in einem Lie-
fe rengpass, kann das Pflichtlager vom
Bund freigegeben werden. Das ist nun
passiert. «Im Zusammenhang mit der

aktuellen Krise wurden die Masken-
Pflichtlager aufgelöst und an den Bund
übertragen», schreibt dasBWL auf An-
frage. Diese Masken werden direkt an
Kantone oder Spitäler weitergegeben.
Desinfektionsmittel habe man nichtge-
lagert, das wird also noch eineWeile
Mangelware bleiben.
Hört manRenéJenny, den Präsiden-
ten desVerbands derPharmagrossisten
Pharmalog.ch,reden, wird sofort klar,
wieso dasBWL sich so schnell zu die-
sem Schritt entschlossen hat. «Desin-
fektionsmittel und Schutzmasken sind
gänzlich ausverkauft und werden in ab-
sehbarer Zeit auch nicht lieferbar sein»,
sagtJenny amTelefon. In normalen Zei-
ten würden proJahr rund 300 Schach-
teln à 10 Masken bestellt. DiesesJahr
hatte er EndeJanuar bereits einenAus-
stand von 2 000 Schachteln.
Das BWL hatseine eingelagerten
Masken bereits freigegeben. Gehen
dieVorräte aus, versucht dasBWL die
Nachfrage mit entsprechenden Empfeh-
lungen zu drosseln oder auf alternative
Produkte umzustellen.Was das imkon-
kretenFall heisst, bleibt unklar. Denn
weiter weiss auch dasBWL nicht: «Das
Coronaviruswar nicht vorhersehbar,
weshalb auchkeineVorkehrungen für
diesenFall getroffen wurden.»

In den grossen Lebensmittelläden
gähnen derweilRegale vor Leere. Wer
dieserTageTeigwaren,Reis oderKon-
serven kaufen möchte, muss früh aufste-
hen. «Seit vergangenerWoche verzeich-
nen wir eine augenfällig erhöhte Nach-
frage nach Gütern des täglichen Be-
darfs», schreibt die Migros auf Anfrage.
«Zuoberst auf dem Einkaufszettel ste-
henKonserven,Beilagen, Milchpro-
dukte undBabynahrung. Von einem
Engpass kann aberkeineRede sein.»
Beat Grüter,Geschäftsführer der
Vereinigung der SchweizerTeigwaren-
industrie und Chef derPasta Premium
AG,die «Bschüssig»-Teigwaren her-
stellt, spricht von massiven Hamster-
käufen. «Momentan produzieren wir auf
Teufelkommraus», sagt er amTelefon.
In den letzten zweiWochen habe man
einen Drittel mehr Absatz verzeichnet.
Grüter hat die Produktion um 30 Pro-
zent hochgefahren. Gefragtseien vor
allem die gängigen Sorten: Hörnli, Spi-
ralen, Magronen,Spaghetti und zwei
Arten von Nudeln. Der Mensch sei halt
ein Gewohnheitstier. EinsameVollkorn-
pasta-Packungen zieren dieRegale. Grü-
ter überrascht das nicht: «Vollkornpasta
war noch nie gross gefragt, das hat man
einfach imLaden, weil gewisse Leute das
wollen. Nicht aber die grosse Mehrheit.»

Erstes Todesopfer


fum.· Was erwartet werden musste, ist in
der Nacht auf Donnerstag eingetroffen:
Auch in der Schweiz ist eine erstePerson
aufgrund des Coronavirus gestorben. Es
handelt sich um eine74-jährigeFrau, die
an einer chronischen Krankheit gelitten
hatte. Sie hatte sich vermutlich in Ita-
lien infiziert. Als sich ersteSymptome
zeigten, habe sie sich am 3. März in ein
Waadtländer Regionalspital begeben
und sei danach ins Universitätsspital
transferiert worden, führte der Kantons-
arzt vor den Medien aus. Am Mittwoch
sei ihr Zustand nochstabil gewesen, be-
vor er sich in der folgenden Nacht ab-
rupt verschlechtert habe.
Der Kantonsarzt kündigte an, fortan
möglichst alle Kapazitäten für den
Schutz der gefährdetsten Bevölkerungs-
gruppen einzusetzen. Bei Bedarfkönn-
ten sogar Medizinstudenten oder ehe-
maliges Spitalpersonalrekrutiert wer-
den. Gesundheitsministerin Rebecca
Ruiz liess zudem ihr Missfallen gegen-
überÄusserungen ihres Staatsratskol-
le gen Philippe Leuba durchblicken–
dieser hatte in derRTS-Tagesschau von
einer «allgemeinen Psychose aufgrund
von unreflektierten Entscheidungen»
gesprochen. Der KantonWaadt will die
Bundesvorgaben zu öffentlichenVer-
sammlungen aber nicht verschärfen.

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