Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

Freitag, 6. März 2020 SCHWEIZ 15


Das Feilschen um die Überbrückungsrenten ist eröffnet


Die Ständeratskommission verlangt beim Sozialausbau eine Obe rgrenze – aus ihrer Sicht ist der Plan des Nationalrats zu teuer


FABIAN SCHÄFER, BERN


Es geht Schlag auf Schlag:Am Mittwoch
hat der Nationalrat über die neuen Über-
brückungsleistungen (ÜL) fürLangzeit-
arbeitslose über 60Jahren entschieden.
Am Donnerstag beugte sich die Sozial-
kommission des Ständerats über dieVor-
lage. Das Parlament will dieVorlage in
dieser Session zu Ende beraten. Der
Sozialausbau soll helfen, am17.Mai die
Begrenzungsinitiative derSVP zu ver-
senken.Diese verlangt das Ende derPer-
sonenfreizügigkeit mit der EU. Die ÜL
sollen jene besänftigen, die wegen der
Zuwanderung um ihre Stelle fürchten.
Die Differenzen sind immer noch
gross , doch eine Einigung dürfte gelin-
gen. Diesen Schluss erlauben die neus-
ten Entscheide der Ständeratskommis-
sion. Beim grössten Streitpunkt will sie
nachgeben.Der Ständerat hat in der ers-


ten Runde beschlossen, die neue Sozial-
versicherung zeitlich einzuschränken:
Demnach sollten die ÜL nicht bis zum
ordentlichenRentenalter fliessen, son-
dern nur so lange, bis eineFrühpensio-
nierung möglich ist (62Jahre beiFrauen,
63 bei Männern).Danach würde die heu-
tige Regelung für vorzeitigeRücktritte
gelten. Die Idee dahinter: Der Sozial-
staat sollfür die Phase vorder Pensionie-
rung nicht zwei unterschiedlicheRegime
parallel einführen, da dies neue Unge-
rechtigkeiten verursachen würde.

Streit umdie Altersgrenze


Doch nun will zumindest dieKommis-
sion des Ständerats hier nachgeben. Ob
das Plenum ebenfalls nachgibt, ist nicht
ganz sicher. Der Entscheid fiel schon
in der erstenRunde überraschend–
gegen denWillen derKommission. Die

Ständeratskommission lehnt denAus-
bau ab, den im Nationalrat eine Allianz
von Rot-Grün bis zur FDP beschlos-
sen hat.Diese zeigt sich grosszügiger
als der Bundesrat, indem sie die Alters-
grenze nach unten verschiebt.Damit
hätten auchPersonen Zugang zu den
ÜL, die ihre Arbeit mit 55Jahren ver-
lieren.Dadurch würden dieKosten und
die Zahl der Bezüger steigen.Dies lehnt
die Kommission des Ständerats ab. Sie
bleibt beim ursprünglichenKonzept:ÜL
erhält nur, wer am 60. Geburtstag oder
später ausgesteuert wird.Somit sindPer-
sonen erfasst, die ihre Stelle mit 58Jah-
ren verlieren.
Die Unterschiede zwischen den zwei
Varianten sind beträchtlich. Geht es
nach dem Nationalrat,kommen jähr-
lich voraussichtlich etwa 6200Personen
in den Genuss der ÜL. In derVersion
des Ständerats sind es 3400Personen.

Ähnlich sieht es bei denKosten aus, die
voll zulasten des Bundes gehen würden:
Die jährlichenAusgaben würden beim
Ständerat150 MillionenFranken betra-
gen, beim Nationalrat 270 Millionen.

ForschesTempo


Noch in einem zweiten gewichtigen
Punkt besteht keine Einigkeit. Die
Ständeräte wollen die ÜL für die ein-
zelnen Bezüger nach oben «deckeln».
Alleinstehende sollen maximal 3240
Franken im Monat erhalten, Ehepaare
4860 Franken.Zusätzlich würden Krank-
heitskosten wie Zahnarztrechnungen
sowieFranchise und Selbstbehalt ver-
gütet.An diesem Maximalbetrag hat die
Ständeratskommission festgehalten.Der
Nationalrat hingegen lehnt eine Ober-
grenze ab. Dieser Punkt dürfte noch zu
reden geben.SozialministerAlain Berset

(sp.) hatte warnend darauf hingewiesen,
dass es mit den vorgesehenen Plafonds
Fälle geben werde, in denen die ÜL nicht
alle Lebenshaltungskosten abdeckten.
Eine weitere Differenz betrifft das
Baugewerbe und andere Branchen, die
bereits heute grosszügigereVorruhe-
standsregime kennen.Der National-
rat wollte für sie eine Sonderregelung,
was die Ständeratskommission ablehnt.
Allerdings zeigt sich bei dieser und bei
weiterenFragen, dass die Skepsis bei
bürgerlichen Sozialpolitikern im Stände-
rat immer noch gross ist. Dies illustrie-
ren dierelativ zahlreichen Enthaltungen
bei manchenKommissionsentscheiden.
NächsteWoche geht es weiter imTakt:
Am Dienstag entscheidet der Stände-
rat über dieVorlage, am Mittwoch zieht
bereits der Nationalrat nach. Und zwi-
schendrin soll noch eine Sitzung der
Nationalratskommission stattfinden.

Der erste Fifa-Fall kommt vor Gericht


Mehrere Fussballfunktionäre stehen ab Montag vor dem Bundesstrafgericht – sofern der Prozess wegen des Coronavirus nicht platzt


MARCEL GYR, KATHRIN ALDER


Nach jahrelangen Ermittlungen soll es
am Montag endlich soweit sein:Läuft
alles nach Plan, beginnt um 9 Uhr mor-
gens die mehrwöchige Hauptverhand-
lung im ersten und zugleich bekann-
testen von rund 25Fifa-Strafverfahren.
Es geht um das deutsche «Sommer-
märch en», konkret um undurchsich-
tige Zahlungen imVorfeld derFuss-
ball-WM 2006 in Deutschland. Man-
che der beschuldigtenFussballfunktio-
näre werden in Bellinzona wohl fehlen.
Als Zeugen aussagen wollen hingegen
Günter Netzer undJoseph Blatter. Un-
klar ist, welcheRolle das grassierende
Coronavirusspielenwird. Geht es nach
den vier Beschuldigten, soll der Prozess
deswegen erst gar nicht stattfinden. Die
wichtigstenFragen und Antworten zur
Verhandlung:


Das «Sommermärchen» –was ist das
genau?
Die Fussball-Weltmeisterschaft 2006 in
Deutschlandist vielen in bester Erin-
nerung geblieben – deshalb der Begriff
«Sommermärchen». WährendWochen
herrschteim ganzenLand auch abseits
der Fussballstadien eine ausgelassene
Feststimmung. Erst vieleJahre später,
im Herbst 2015, sorgtedas Nachrichten-
magazin «Der Spiegel» für Katerstim-
mung. Es machte eine umstrittene Zah-
lung in der Höhe von 6,7 Millionen Euro
des deutschenFussballbundes (DFB) im
Vorfeld der WM publik. Seither steht
derVerdacht imRaum, mit der undurch-
sichtigen Zahlung habe sich Deutsch-
land die WM erkauft.
In den«Sommermärchen»-Fall ver-
wickelt sind mehrere bekannteFussball-
funktionäre, unter ihnen «Kaiser»Franz
Beckenbauer und zwei frühere Präsi-
denten des DeutschenFussballbundes
(DFB), Theo Zwanziger undWolfgang
Niersbach.Ihnen allen wirft die Bundes-
anwaltschaft vor, an einem Betrug mit-
gewirkt zu haben.


Wozu dienten die6,7 Millione n Euro?
Trotz jahrelangen Ermittlungen ist auch
die Bundesanwaltschaft gescheitert, auf
diese zentraleFrage eine befriedigende
Antwort zu finden. Stattdessen listet sie
in der Anklageschrift mehrere mögliche
Szenarien auf. Fest steht einzig, dass es
sich bei den 6,7 Millionen Euro um die
Rückzahlung einesDarlehens von um-
gerechnet 10 MillionenFranken handelt,
das der inzwischen verstorbeneAdidas-
BesitzerRobert Louis-Dreyfus einst
Franz Beckenbauer – damals OK-Präsi-
dent derFussball-WM – gewährt hatte.
GemässAnklageschrift ebenfalls erstellt
ist, dass Beckenbauer diesesDarlehen
im Jahr 2002 in verschiedenenTranchen
an ein Firmenkonglomerat in Katar
überwies, das im Eigentum von Moham-
med bin Hammam steht. AlsVizepräsi-


dent derFifa undVorsteher derFifa-
Finanzkommission war bin Hammam
damals einer der einflussreichstenFunk-
tionäre imWeltfussballverband.

Wofür verwendete Mohammed bin
Hammam die 10 MillionenFranken, die
ihm Beckenbauer überwiesen hatte?
DieseFrage konnte die Bundesanwalt-
schaft nicht abschliessend beantworten.
In ihrerAuswahlsendung favorisiert sie
die Variante, wonach es sich um eine
finanzielle Gefälligkeit an bin Ham-
mam gehandelt habe: Mit den 10 Mil-
lionenFranken an den Katarer sollte
ein Zuschuss von 250 MillionenFran-
ken derFifa an das deutscheWM-Orga-
nisationskomitee ausgelöst werden. In
der Anklageschrift werden drei weitere
möglicheVerwendungszwecke aufge-
listet, darunter eine «finanzielle Ge-
fälligkeit» Beckenbauers an bin Ham-
mam im Zusammenhang mit derWie-
derwahl vonJoseph Blatter alsFifa-Prä-
sident.Fest s teht, dass es sich nicht um
direkte Schmiergelderfür dieWM-Kan-
didatur Deutschlands gehandelt haben
kann. DieseWahl durch dasFifa-Exeku-
tivkomitees, bei der Südafrika äusserst
knapp unterlag, fand nämlich bereits im
Jahr 20 00sta tt. Nich t auszuschliessen ist
allerdings, dass bin Hammam 2002 eine
Zahlung einforderte, die ihm imWahl-
kampf zweiJahre zuvor versprochen
worden war.

Wer sind die Beschuldigten?
Ein weiterer Schwachpunkt der straf-
rechtlichenAufarbeitung ist dieTat-
sache, dass die beiden Hauptakteure
nicht vor Gericht stehen: Neben dem
Katarer Mohammed bin Hammam, der
Empfänger der 10 MillionenFranken,
fehlt auch der Absender, Franz Becken-
bauer. Das Verfahren gegen den74-jäh-
rigen«Kaiser» wurde bereits im ver-
gangenen Sommer vom übrigen Straf-
verfahren abgetrennt.Somitstehen ein-
zig Akteure vor Gericht,deneneine
Mittäterschaft oder eine Gehilfenschaft
zum Betrug, eventualiter zu ungetreuer
Geschäftsbesorgung vorgeworfen wird.
Es sind diesTheo Zwanziger, zum Tat-
zeitpunkt Generalsekretär des DFB,
der damaligeVerbandspräsidentWolf-
gang Niersbach, der DFB-Funktionär
HorstG. Schmidt sowie der Schweizer
Urs Linsi, zu Zeiten vonJoseph Blatter
Generalsekretär derFifa.

Wieso ermittelten die Schweizer Be-
hörden in einer Angelegenheit, die
sich zwischen Deutschland, Katar und
Frankreich abspielte?
Die Frage der Zuständigkeit ist ein wun-
der Punkt in der «Sommermärchen-
Affäre». Zwar macht die Bundes-
anwaltschaft geltend, die strittigen Zah-
lungen seien jeweils über Schweizer
Bankkonten geflossen. Doch der haupt-
sächlicheTatort war in beidenFällen

Deutschland. DieVerteidiger der vier
Beschuldigten stellen sich denn auch
auf den Standpunkt, die SchweizerJus-
tiz hätte allenfallsRechtshilfe für ein
ausländisches Strafverfahren leisten
können, nicht aber selber eines eröff-
nen dürfen.

Welche Rolle spielten Joseph Blatter
und Günter Netzer, die als Zeuge be-
ziehungsweise als Auskunftsperson
aufgeboten sind?
Bei Blatter besteht derVerdacht, dass
er zumindest über dieRückzahlung des
Darlehens informiert war. Dazu wurde
der langjährigeFifa-Präsident,derkom-
mendeWoche seinen 84. Geburtstag fei-
ert, von der Bundesanwaltschaft schon
zweimal befragt. Blatter stellte sich
jeweils auf den Standpunkt, dieFifa
habe bei der Zahlungsabwicklung bloss
die Rolle einerBank eingenommen.
Wenn es für Blatter bei der Befragung
eng wurde, machte er geltend, sich nicht
mehr erinnern zukönnen.
Günter Netzer wiederum istein viel-
fach vernetzter Insider, der für die WM
2006 als WM-Botschafter imAufsichts-
rat sass. Im November 2012 sollen sich
Netzer und der MitbeschuldigteTheo
Zwanziger imRestaurant Kronenhalle
in Zürich über Beckenbauers 10-Millio-
nen-Darlehen unterhalten haben. Über
den Inhalt des Gesprächs gehen dieAus-
sagen auseinander.

Haben die umstrittenenTreffenvon
Bundesanwalt Michael Lauber mit
Fifa-Präsident Gianni Infantino eine
Bedeutung?
Nein, zumindest vordergründig nicht.
SämtlicheAusstandsbegehren von Be-
schuldigten aus dem Umfeld des «Som-
mermärchens» gegen Bundesanwalt
Lauber sind im vergangenen Sommer
abg elehnt worden – mit der Begrün-
dung, sie s eien zu spät eingereicht wor-
den. Allerdings hat die Beschwerde-
kammer des Bundesstrafgerichts da-
mals zwei andere Ausstandsbegeh-
ren gegenLauber gutgeheissen, die zu
einem früheren Zeitpunkt eingereicht
worden waren: jene vonJérôme Valcke
und Markus Kattner. Gegen die beiden
früherenFifa-Funktionäre ermittelt die
Bundesanwaltschaft ebenfalls.

Wer wird in Bellinzona überhauptvor
Gericht erscheinen?
Gegenüber der NZZ hat Günter Net-
zer versichert, demAufgebot Folge
zu leisten.Joseph Blatter leidet an
Rückenproblemen, er wird dem Ge-
richt wohl perVideoübertragung zu-
geschaltet werden. Die Befragung der
beiden ist fürkommenden Donnerstag
vo rgesehen. Alles andere ist unsicher.
Paradoxerweise ist auchFranz Becken-
bauer vorgeladen – allerdings alsAus-
kunftsperson. Das Strafverfahren gegen
ihn wurde wegen seines schlechten Ge-
sundheitszustands vom Hauptverfah-
ren abgetrennt.
Wieso er als Beschuldigter nicht ver-
nehmungsfähig sein soll, alsAuskunfts-
person hingegen schon, ist unschlüssig.
Beckenbauers Anwalt wollte sich auf
Anfrage zu den Plänen seines Mandan-
ten nicht äussern. Obwohl ihnen freies
Geleit zugesichert wurde, bestehen zu-
dem Zweifel, ob die DeutschenTheo
Zwanziger, Wolfgang Niersbach und
HorstG. Schmidt insTessin reisen wer-
den. Zwanzigerwurde kürzlich an einem
Auge operiert, hinzukommt die latente
Gefahr des Coronavirus, die sich der
Nähe eines Infektionsherdes (Nord-
italien) täglich ändern kann.

Wie sieht der Zeitplan des Gerichts
aus?
Für zu erwartende Abwesenheiten hat
das Bundesstrafgericht vorgesorgt. Be-
reits fürkommenden Mittwoch liegt
eine zweiteVorladung vor. Sollte ein
Beschuldigter dem Gericht auch dann
fernbleiben,wird der Prozess in dessen
Abwesenheit durchgeführt. Spätestens
am Donnerstag vor Ostern, also am
9.April, soll das Urteil dann eröffnet
werden.

Wann verjährt derFall?
Am 27. April 2020,15 Jahre nach der
Rückzahlung von BeckenbauersDarle-
hen an Louis-Dreyfus. Bis dannmuss ein
erstinstanzliches Urteil vorliegen.

An der Eröffnungsfeier der WM 2006 , v. l.:JosephS. Blatter, Bundespräsident HorstKöhler undOK-ChefFranzBeckenbauer. IMAGO
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