Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

Freitag, 6. März 2020 ZÜRICH UND REGION 17


Dem Regelwerk für den Str omkonzern Axpo bläst


im Kantonsparlament ein rauer Wind entgegen SEITE 18


Das Obergericht spricht einen Mann vom Vorwurf


der Vergewaltigung frei – mit vi elen VorbehaltenSEITE 19


«Bernist einweitaus härteres Milieu», sagt JacquelineFehr. SIMONTANNER / NZZ

«Ich lasse mich sicher nicht domestizieren»

Jacqueline Fehr ist tr otz Twitter-Tiraden und gezielten Provokationen im bürgerlichen Kanton Zürich beliebt. «Wählerinnen und Wähler


wollen politische Köpfe, Menschen mit Profil», sagt die S P-Regierungsrätin im Gespräch mit Linda Koponen und Jan Hudec


JacquelineFehrkennt keine falsche
Bescheidenheit. Auf dieFrage, wie sie
dieAufgabe alsJustizdirektorin bisher
gemeistert habe – «sehr gut» –, folgt
eine neunminütigeAufzählung: Den
Austausch zwischen den Gemeinden
hat sie verstärkt; die Bedingungen in
der Untersuchungshaft verbessert; die
Opferhilfe ausgebaut; die Bekämpfung
häuslicher Gewalt intensiviert; dieVe r-
waltung modernisiert.«Wir sind auch
jene Direktion, die die direktionenüber-
greifende Zusammenarbeit pusht.» Und
dann ist da natürlich dasWahlresultat
vom letztenFrühling. Nach MarioFehr
holte sie von allenRegierungsräten die
meisten Stimmen.
Fehr, die Profi-Politikerin – dos-
sierfest, sprachgewandt, volksnah –,
eckt aber auch an. Sie gilt als Ideo-
login und Cholerikerin,scheutkeinen
Konflikt und provoziert gerne. Etwa als
sie die Seegemeinden vor denRegie-
rungsratswahlen als «wenig innova-
tiv» bezeichnete. Oder die Ämterver-
gabe – das gut gehütete Geheimnis der
ZürcherRegierung – ein «unwürdiges
Theater» schimpfte.
Fehr sorgt auch mit Nebensächlich-
keiten immer wieder für Schlagzeilen.
Wie jüngst, als ihrVelo amWinterthurer
Bahnhof abtransportiert wurde und sie
ihrem Ärger in einer wütenden Mail an
zwei Stadträtinnen Luft machte. «Da ver-
lorJacquelineFehr die Beherrschung»,
«SP-Regierungsrätinrastet aus», «Justiz-
direktorin tobt», schrieben danach die
Medien. Nur wenigeTage zuvor hatte
sie bereits mit einem unbedarften Holo-
caust-Vergleich für Irritationen gesorgt.
Wer ist dieseFrau, die im bürgerlichen
Kanton Zürich ein traumhaftesWahlresul-
tat einfährt, obwohl siekein Hehl daraus
macht, dass sie am linkenRand politisiert?
Wer ist dieseFrau, die so auffällig ist wie
keiner ihrer sechs Amtskollegen? Und vor
allem:Was will sie eigentlich?
Wir treffen dieJustizdirektorin im
altehrwürdigen Kaspar-Escher-Haus.
DerWeg zu ihrem Büro mit Blick auf
die Limmat führt durch einen langen
Gang, dessen tristesVerwaltungs-Grau-
Weiss von allerlei Bildern und Skulp-
turen durchbrochen wird. Es geht vor-
bei an der «Kooperationsmaschine»,
einem selbstgebastelten Karton-Auto-
maten, aus dem bunteBälle kullern,
wenn man amRad dreht.Jacqueline
Fehr empfängt uns mit fast mütterlich
wirkender Freundlichkeit. Auf dem
grossenKonferenztisch stehen neben
den finnischen Design-Wassergläsern
Schälchen mit Nüssen und getrockne-
ten Mangoschnitzen bereit. Aber die
Gemütlichkeit trügt.Wer versucht, die
Justizdirektorin in eine Ecke zu drän-
gen, bekommt bald einmal die Kämpfe-
rin zu Gesicht.Fehr ist auf Zack,kon-
tert,stellt Gegenfragen, dreht jede Nie-
derlage, jedenFehltritt ins Gegenteil.
Dawäre zum Beispiel die Sache mit
ihrer Anstellungspolitik.Jüngst ereifer-
ten sich nicht nur bürgerliche, sondern
auch einzelne Linke darüber, dass SP-
Kantonsrätin Sarah Akanji in derJustiz-
di rektion angestellt wurde. Mit GSoA-
Sekretär Lewin Lempert arbeitet noch
ein anderes ehemaliges Mitglied der
Juso fürFehrs Direktion. Und bereits
2015 hatte sie mitJacquelineRomer
eine politischeWeggefährtin als Gene-
ralsekretärin ins Boot geholt.


Frau Fehr, die SVP hat kürzlich kri-
tisiert, Sie funktionierten Ihre Direk-
tion in einen sozialistischen Hort um.
Fehlt Ihnen in der Anstellungspolitik
das Fingerspitzengefühl?
Haben Sie irgendwelche Indizien dafür,
dass es so ist?Ausser, dass dieSVP das
behauptet? SarahAkanji hat eine befris-
tete Stelle in einem Projekt weit weg von
allen politischen Entscheiden. Es gibt


dakeinen Interessenkonflikt. Noch ab-
surder ist derVorwurf bei Lewin Lem-
pert.Nur weiler bei denJuso war, soll
er nicht beim Staat arbeiten dürfen?Das
ist ja wie zu Zeiten des Kalten Kriegs.

DassParlamentarier in derVerwaltung
arbeiten, ist in Zürich mitAusnahme der
höheren Kader erlaubt. DieSVP-Kan-
tonsräte Claudio Schmid und Hans-
Peter Amreinwollen diesnunmit einer
Motion ändern. Angestellten derKern-
verwaltung oder von Institutionen, die
mehrheitlich vom Kanton beherrscht
werden und mitVerwaltungsaufgaben
betraut sind, sollen nicht mehr Mitglie-
der des Kantonsrats sein dürfen.
Schmid sagt: «JacquelineFehr schafft
sich ein ideologisches Umfeld und führt
ihre Direktion wie einParteisekretariat


  • das ist total verwerflich.» Sie sei eine
    Ideologin geblieben, meint er. Auch FDP-
    Kantonsrat Hans-Peter Brunner stört sich
    anFehrs ideologischem Habitus. «Ihr ist
    es bisher nicht gelungen, den Schritt von
    einer prononciert linkenParlamentarierin
    zueiner staatsfraulichen Exekutivpoliti-
    kerin zu machen.»
    Tatsächlich bringt sich Jacqueline
    Fehr auch als Regierungsrätin noch
    immer stark indieParteipolitik ein.
    Nach derWahlschlappe der SP im Okto-
    ber forderte sie laut denRücktrittvon
    Parteipräsident Christian Levrat und
    brachte Mattea Meyer als Nachfolge-
    rin ins Gespräch. Derzeit präsidiert sie
    die SP-Findungskommission für die
    AargauerRegierungsratswahlen – eine
    eigentümlichePosition für eineRegie-
    rungsrätin aus einem Nachbarkanton.


Was ist aus Ihrer Sicht die Aufgabe einer
Exekutivpolitikerin?

Gestalten. Haltung zeigen.Wichtig ist,
dass man eine politischeFigur bleibt.
Nur so kann mander Bevölkerung
Orientierung bieten.

Als Regierungsrätin müssten Sie primär
Politik für den Kanton machen, aber
Sie mischen sich noch immer stark in
die Parteipolitik ein. Gelingt Ihnen der
Spagat?
Ob ich den Spagat kann? Ich kann ihn
sicher. Das finden offenbar auch die
Wählerinnen undWähler, ich hätte sonst
vor einemJahr bei denWahlen nicht so
viele Stimmen bekommen. Die Leute
stört wohl kaum,dass ich im Kanton
Aargau eineFindungskommission prä-
sidiere und amWochenende noch ein
paar Mails verschicke.Aber offenbar
stört es jenes bürgerliche Establishment,
das davon ausgegangen ist,dass ich im
Amt meineParteiverbindungen kappe
und mich in eine zahnloseVerwalterin
verwandle, so wie man das auf bürger-
licher Seite von linken Exekutivmitglie-
dern erwartet. Aber ich lasse mich si-
cher nicht domestizieren. DieWählerin-
nen undWähler wollen politischeKöpfe,
Menschen mit Profil.

Ihr Profil ist dezidiert links – auch
innerhalb der SP.
Nein.Ich habe immerPositionen ver-
treten, die ich für die jeweilige Situation
adäquat fand. Ich habe mich zum Bei-
spiel für Betreuungsgutschriften einge-
setzt, was ein liberalesKonzept ist. Mein
Resonanzraum ist nicht die Delegierten-
versammlung derJuso. Aber es ist der
linke Flügel der SP, der diePartei in
Schwung hält. Die SP braucht Leute, die
diePartei spannend machen – gerade an
derParteispitze.

Eine, die diePartei spannend machen
könnte, istausFehrs Sicht die 32-jährige
Mattea Meyer. DieWinterthurer Natio-
nalrätin hat gute Chancen, zusammen mit
CédricWermuth die SP-Spitze zu über-
nehmen. Die ehemaligeJuso-Vizeprä-
sidentinkenntFehr seit ihren «ersten
politischen Schritten», wie sieselbst sagt.
«Sie ist eine wichtige politischeFigur für
mich.» Meyer propagiert den linkenAuf-
bruch, will das «Kapital» stärker besteu-
ern, mehr Krippenplätze finanzieren und
Mieten durch einenRenditedeckel tief
halten. AnFehr imponiert ihr, «dasssie
versucht, Dinge zu verändern, dass es ihr
gelingt, mit politischen Gegnern Allian-
zen zu schmieden und trotzdem eine klare
linke Haltung zu bewahren». Sie habe sich
auch stetsvon ihr unterstützt gefühlt, ge-
rade auch jungenPolitikerinnen begegne
Fehr mit ehrlichem Interesse.
Mit ihrer Arthat sichFehr innerhalb
der SP aber nicht nurFreunde gemacht.
IhrVerhältnis zum Amts- undPartei-
kollegen MarioFehr gilt als frostig. Statt
mit seiner Genossin liess sich dieser im
Frühling mit dem bürgerlichen Bündnis
für einenVeranstaltungsflyer ablichten.
Auch in Bern hatte sie zahlreichePartei-
kollegen vergrault, und die liessen sie ihre
Abneigung spüren. 2012 zog ihr die SP-
Bundeshausfraktion den farblosen Andy
Tschümperlin imRennen um dasFrak-
tionspräsidium vor. Eine Demütigung,
an der die ehrgeizigePolitikerin lange
zu kauen hatte, wie sie selbst einräumt.
Daniel Frei hat als SP-Präsident
des Kantons ZürichJacquelineFehr
aus nächster Nähe erlebt. IhrVerhal-
ten habe zwei Seiten, sagt er. «Sie kann
sehr zuvorkommend und interessiert
sein,aberauch berechnend und brüs-
kierend– je nachdem, was für sie nütz-
lich ist.» Manchmal verlieresie auch die
Contenance, verschickewütende Mails.
Frei, der nach denQuerelen um
MarioFehr alsParteipräsident zurück-
trat und später zur GLP wechselte, attes-
tiert ihr aber auch einen starken Ge-
staltungsanspruch, sie scheue sich nicht,
heikleThemen anzupacken oder Dinge
zu verändern.Wie bei den meistenPer-
sonen mit ausgeprägten politischenVor-
stellungen sei dies verbunden mit der
moralischen Überzeugung, das Richtige
und Gute zu tun.
Die in Elgg aufgewachseneTochter
einesLageristen hat sich hochgekämpft.
Mit 27Jahren wurde sie in denWinter-
thurer Gemeinderat gewählt, nur ein
Jahr später folgte der Sprung in den
Kantonsrat.1998 rückte sie dann für
Elmar Ledergerber in den Nationalrat
nach.Fehr, dieals ehrgeizig und zuweilen
auch verbissen beschrieben wird, wollte
bis ganznach oben.2010 stellte die SP
sie für die Bundesratswahlen auf – doch
die höchstenWeihen blieben ihr ver-
wehrt.Das Rennen machte Simonetta
Sommaruga. Der ZürcherRegierungs-
rat warFehrs letzte Chance auf ein be-
deutendes politisches Amt.

«MitKöpfchen und Ellbogen», betitelte
die Weltwoche einPorträt über Sie. Hat
Ihnen der Einsatz Ihrer Ellbogen auch
geschadet?
Ich bin politisch in Bern sozialisiert wor-
den.Das ist ein weitaus härteres Milieu.
Wenn hier etwas als Aneckenregistriert
wird, dann frage ich mich manchmal:
Was soll jetzt passiert sein? Ich war ein-
mal die einflussreichste Nationalrätin.
Das ist auch nicht ganz umsonst ge-
kommen. In derPolitik braucht man die
Fähigkeit, total hart zu sein, total provo-
kativ, total angriffig. Zugleich muss man
aber auchkompromissfähig sein und
sich gut in andere hineindenkenkönnen.

Und doch gibt es immer wiederKon-
flikte zwischen Ihnen und demRegie-
rungsrat, dem Kantonsrat, den Gemein-

den.So haben Sie die Seegemeinden vor
den Kopf gestossen...
Geweckt.

Wenn Sie das so sagenwollen. Suchen
Sie dieseKonflikte bewusst?
Ich will Debatten auf denTisch brin-
gen, wichtigeFragen aufwerfen. Es gibt
imKanton eine grosse Disparität – es
gibt die Gemeinden mit sehr privile-
gierter Seelage, und es gibt die urbanen
Gebiete, die dasWachstum bewältigen
müssen. Diese Gebiete leisten Beein-
druckendes:Von 250 Schülern in Dieti-
kon haben 248 nach dem Abschluss der
obligatorischen Schule eine Anschluss-
lösung. Das ist Leistung. Sprudelnde
Kassen, weil mandank Seelage gute
Steuerzahler angezogen hat, sind da-
gegenkeine Leistung – sie sind ein Pri-
vileg. Vor diesem Hintergrund finde ich
dieFrage, wer dasWachstum bezahlt,
wichtig undrelevant für den Kanton.

Kürzlich haben Sie das Gemeindeforum
abgesagt, weil der Kantonsrat Ihnen
das Budget gekürzt hat. Stattdessen fin-
det nun ein Klimaforum statt.Das war
doch einfach eineRetourkutsche an die
Bürgerlichen.
Nein,ich musstePrioritäten setzen. Der
Kantonsrat hat die Mittel gekürzt für
Leistungen, dieerselber bestellthat.
Das war Zechprellerei. Ich habe die
Kürzungen akzeptiert, aber auch gesagt,
was dieKonsequenzen davon sind.

Fehr geigt anderen gerne mal ihre Mei-
nung. Zum Beispiel wenn sie aufTwit-
ter denWinterdienst kritisiert, weil der
Veloweg am Morgen nicht vom Schnee
befreit war, wie imJanuar 20 19 gesche-
hen.Oder wie kürzlich, als ihrVelo ab-
transportiert wurde und sie sich dar-
über bei zweiWinterthurer Stadträtin-
nen beschwerte.

Überschreiten Sie nicht IhreKompeten-
zen als Regierungsrätin, wenn Sie in sol-
chen Angelegenheiten Kritik üben?
DieFrage ist, ob ich bevorzugt behan-
delt werden will. Und das will ich nicht.
Ich nehme für michkeinerlei Sonder-
rechte in Anspruch. Ich finde aber, dass
ich mich als Bürgerin über Sachen be-
schweren darf, die einkollektives Ärger-
nis sind. Und inWinterthur bin ich in
erster Linie Bürgerin. Man sieht mich
beim Einkaufen, beimJoggen oder Kaf-
feetrinken.Früher auch mit den Kin-
dern. Ich will auch Privatperson sein,
und das lasse ich mir nicht nehmen.

Sind Sie denn in den sozialen Netzwer-
ken als Privatperson oder alsRegie-
rungsrätin unterwegs?
Als politischer Mensch, als Staats-
bürgerin.

ZuWeggefährten sollFehr einmal ge-
sagt haben, dass sie einen neuenTypus
von Regierungsrat etablieren wolle:
meinungsstark, provokativ, gestaltend.
Anders ausgedrückt: weg vom magis-
tralen Mief. Und diesenWeg scheint
sie tatsächlich eingeschlagen zu haben.
Ihre Ideen lanciert sie mit öffentlich-
keitswirksamen Provokationen.Dank
einer PrisePopulismus – Betonen der
einfachen Herkunft, Abgrenzen vom
Establishment, Dampfablassen über den
Winterdienst – wirkt sie nahbar.
Und gleichzeitig gelingt es ihr dank
geschicktem Lobbying, ihre durch-
aus linken Anliegenim Kanton vor-
anzutreiben. Sei es die Milderung
der U-Haft-Bedingungen, der schär-
fere Fokus auf dieResozialisierung
von Straftätern oder der verstärkte
Soziallastenausgleich für die Gemein-
den.Das Ergebnis der letztenWahlen
dürften sie darin bestärkt haben, die-
senWeg weiterzugehen.
Free download pdf