Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

Freitag, 6. März 2020 ZÜRICH UNDREGION 19


Wenn dasPolizei- undJustizzentrum fertiggebaut ist, brauchtes einen direkten Zugang zumBahnhof Hardbrücke. JOËL HUNN / NZZ

Theater um eine provisorische Treppe


Ein Kunstbetrieb mu ss weiche n – Kanton und Stadt schieben einander die Schuld zu


ADI KÄLIN


Wenn das neue Polizei- undJustiz-
zentrum (PJZ) auf dem Areal des alten
Güterbahnhofs eröffnet wird, muss ein
direkterAufgang für Besucher und Mit-
arbeiter zumBahnhof Hardbrücke be-
reitstehen.Dafür genügt in der ersten
Phase eine provisorische Einrichtung.
Gleichwohl müssen die letzten verblie-
benen Hallen des Güterbahnhofs, in
denen derKunstbetrieb Art-Dock seine
Ausstellungen zeigt, für denBau dieser
Treppe abgebrochen werden.


Ein Hin und Her


Ob man dies denn nichtmehr abwenden
könne, wolltenWalter Angst und Chris-
tina Schiller von der Alternativen Liste
(AL) vom Zürcher Stadtrat wissen und
reichten eine schriftliche Anfrage mit
zahlreichenFrage n ein. Nein, sagt nun
die Stadtregierung. Der Bau derTreppe
sei im Gestaltungsplan vorgeschrieben,
und diesen habe der Kanton erlassen.
Dabei vergisst sie allerdings zu erwäh-
nen, dass der Kanton selber zu einem
späteren Zeitpunkt auf dieTreppe ver-
zichten wollte, das entsprechendeWie-
dererwägungsgesuch jedoch von der
Bausektion des Zürcher Stadtrats abge-
lehnt wurde. Aber derReihe nach.
2007 erlässt dieBaudirektion den
Gestaltungsplan, der in Artikel 22 den
Bau der Fussgängerverbindung zum
Bahnhof Hardbrücke verlangt. Der Bau
muss «der grossen Bedeutung dieser
WegbeziehungRechnung tragen und ist
behindertengerecht auszugestalten». Für
das PJZ allein soll ein Provisorium ge-
nügen, wenn aber auch das riesigeBau-
feld 2 zur Hardbrücke hin überbaut ist,
muss eine definitive Lösung vorliegen.
Schon das Provisorium soll aber behin-
dertengerecht sein.
2009 wird dieBaubewilligung fürs
PJZ erteilt.Auch wenn es sich um einen
kantonalenBau handelt,der nach kan-
tonalenRegeln erstellt wird: Die Bewil-
ligungsbehörde ist dieBausektion des
Zürcher Stadtrats, damals bestehend aus
den dreiFrauen Kathrin Martelli,Ruth
Genner und CorineMauch. DerTrep-


penaufgangist nicht grossThema in der
50-se itigen Bewilligung. Es wird ledig-
lich darauf aufmerksam gemacht, dass
durch das Provisorium die Arbeiten für
die Sanierung der Hardbrücke und den
Bau der Gleise für dasTram Nummer 8
nicht behindert werden dürfen.
Leicht kurios wird es achtJahre spä-
ter, im Juli 20 17. Das kantonale Hoch-
bauamt stellt einWiedererwägungs-
gesuch bei den städtischen Bewilli-
gungsbehörden. Nun möchte es gern
auf den Bau des Treppenaufgangs,
den es ja selber im Gestaltungsplan
verankert hat,«vo rerst verzichten». In
der Zwischenzeit sei doch die Hard-
brücke saniert und verbreitert worden,
der Bau derTreppe habe «an Dring-
lichkeit verloren».

Nun will aber die Stadt nicht mehr:
Die Bausektion des Stadtrats, dies-
mal vertreten durch die drei Männer
André Odermatt,Filippo Leutenegger
und AndresTürler, lehnt dasWieder-
erwägungsgesuch ab. Die meisten Be-
sucher und Mitarbeiter des PJZ kämen
wohl mit dem öffentlichenVerkehr
vomBahnhof Hardbrücke her. «Eine
umweglose und attraktiveFusswegver-
bindung, wie im Gestaltungsplan gefor-
dert, ist daher unabdingbar.» Es gebe
keine ersichtlichen Gründe, weshalb auf
Treppe und Lift verzichtet werden solle.
Im Oktober 2017 stellt das Hoch-
bauamt ein weiteresWiedererwägungs-
gesuch: Man solle doch mindestens dar-
auf verzichten, das Provisoriummit
einem Liftauszustatten.Diesmal stimmt

die Stadt zu – aus«Verhältnismässig-
keitsgründen», wie es im Entscheid
heisst,und weil es in unmittelbarer Nähe
beim Hardplatz einenrollstuhlgängigen
Zugang auf die Hardbrücke gebe.


  1. Februar 2020: In seiner Antwort
    auf die Anfrage der AL tut der Stadtrat
    wieder so, als habe er in der Sache gar
    nichts zu sagen und nie etwas entschie-
    den: «Aufgrund derRegelung in Art. 22
    Abs. 2 GP PJZ kann von derRealisie-
    rung des provisorischenAufgangs nicht
    abgesehen werden.»Für den Abbruch
    des Güterbahnhofs gebe es im Übrigen
    eine städtische Bewilligung. Die letzten
    Hallen seien nur deshalb erhalten wor-
    den, weil darin unter anderem dasBau-
    büro untergebracht gewesen sei.«Es
    handelt sich also», schreibt der Stadtrat


weiter, «nicht um einen vorzeitigen,son-
dern einen verspäteten Abbruch». Für
die Zwischennutzung du rch das Art-
Dock bestehe nocheine befristeteBau-
bewilligung bis Ende Oktober 2021.

Verhältnismässig für Behinderte


Ausserdem, und damit schiebt der
Stadtrat denBall wieder den kantona-
len Behörden zu,seien die letzten Hal-
len baufällig, eine «weitere Verlänge-
rung gemäss Kanton miteinem unver-
hältnismässigen Sanierungsaufwand
verbunden». Auch sei es nicht möglich,
die Treppe so zu bauen, dass die Hallen
stehen bleibenkönnten.Dafür wäre,
wieder «nach Angaben des Kantons»,
ein unverhältnismässiger baulicher und
finanziellerAufwand nötig.
Und wie steht es mit derVerhältnis-
mässigkeit bei den Behinderten?Da ist
der Stadtrat immer noch der gleichen
Ansicht wie seineBausektion vor etwas
mehralszweiJahrenundkannsogareine
neue Begründung anführen:In der Zwi-
schenzeit sei ja dasAchtertram in Be-
tri eb, mit dem Behinderte vom PJZ zum
Bahnhof Hardbrücke gelangenkönn-
ten. Zudem stehe denRollstuhlfahrern
die Rampe auf die Hardbrücke zurVer-
fügung. In dieser Situation wäre es nicht
verhältnismässig,fürsProvisoriumeinen
Li ft zu verlangen. Noch einmal betont
der Stadtrat aber, dass man auf den pro-
visorischenAufgang selbstkeinesfalls
verzichtenkönne, weil dieser ja im kan-
tonalenGestaltungsplanverlangtwerde.
Zum Schluss der stadträtlichenAnt-
wor t beisst sich die Katze noch einmal
kräftig in den eigenen Schwanz.Auf die
Frage nämlich, ob sich die Stadt denn
querstellen würde, wenn man eben-
diesen Gestaltungsplan ändern würde,
heisst es wörtlich:«Der Gestaltungs-
plan wurde durch dieBaudirektion er-
lassen. Entsprechend wäre sie zustän-
dig für eine Anpassung. Eine allfällige
Neubewertung durch die Stadt müsste
mit demVorliegenkonkreterÄnde-
rungsabsichten erfolgen.»Will heissen:
Der Kanton müsste es fordern,die Stadt
würde dann wohl wieder ablehnen.Fort-
setzung nicht ausgeschlossen.

OBERGERICHT


Mann in Zürich vom Vorwurf der Vergew altigung freigespro chen


Gericht glaubt den Schilderungen einer psychisch angeschlagenen Frau – sie habe sich aber nicht entschlos sen genug gegen ihren Vorgesetzten gewehrt


RETO FLURY


Die jungeFrau spricht mitaufrechter
Haltung ins Mikrofon. Die Hände ver-
gräbt sie in ihren Kapuzenpulli, neben
sich hat sie eine türkisblaueTrinkfla-
sche stehen.Teilweise unterTränen und
mit zitternder Stimme beantwortet sie
die Fragen der Oberrichterin zu dem
Vorfall, der zur Gerichtsverhandlung
geführt hat, die an diesem Dienstag-
morgen stattfindet.
Es ist einFall, der das Zeug hat, die
Debatte um eine äusserst heikleFrage
zu befeuern:Wie sehr muss eineFrau
sich wehren, damit Sex gegen ihrenWil-
len alsVergewaltigung eingestuft wird?
MehrereLänder haben ihr Sexualstraf-
recht in den letztenJahren geändert.
Auch hierzulande diskutierenJuristin-
nen undJuristen derzeit, ob der Straf-
artikel angepasst werden soll.
Der Vorfall, um den es geht, ereig-
nete sich in der Nacht auf den 29.Januar



  1. An jenem Abend hatten sich die
    Mitarbeiter einer Stiftung, die Menschen
    mit geringen Chancen auf dem ersten
    Arbeitsmarkt beim Einstieg ins Berufs-
    lebenhilft,zurWeihnachtsfeiergetroffen.
    Unter ihnen waren dieFrau,die an einer
    Persönlichkeitsstörung vom Borderline-
    Typus leidet, sowie ihr Gruppenchef.
    Der damals 26-jährige Mann trank
    an jenem Abend viel Alkohol. Zu später
    Stunde verliess er mit zweiKollegen und
    der Frau das Lokal, um in denAusgang
    zu gehen. Nach und nach löste sich das


Grüppchen auf. Ein Begleiter ging bald
heim,ein andererliess sich von seiner
Freundin abholen. Irgendwann standen
die Frau und der betrunkeneVorgesetzte
vor dem Haus mit derWohnung ihrer
Mutter, und sie bot ihm aus Mitleid an,
den Rest derWinternacht auf dem Sofa
zu verbringen.«Ich wollte ihn nicht so zu-
rücklassen», sagt sie vordemObergericht.

Sie wolle «es» doch auch


Doch oben angekommen wolltesich
der Mann nicht imWohnzimmer ein-
richten. Im Gegenteil, laut Anklage
folgte er derFrau in ihr Zimmer, be-
drängte und vergewaltigte sie. Sie hatte
noch nach ihrem Bruder rufen wollen,
wie sie sagt. Dieser hörte mitKollegen
nebenan laut Musik. Doch der Beschul-
digte habe ihr die Hand auf den Mund
geha lten, davon abgeraten und gesagt,
sie wolle «es» doch auch.Danach habe
sie ihn wegdrücken wollen, aber nichts
mehr gesagt und irgendwannresigniert.
«Ich dachte daran, was noch alles pas-
sierenkönnte, wenn jemand schon zu so
etwas fähigist.»
Ihrer Psychiaterinerzählte dieFrau
schon wenigeTage später, was ihr an
di esem Abend widerfahren war. Erst
als sie rund16 Mon ate später von einer
Kollegin erfuhr, dass dieser etwasÄhnli-
ches passiert war, überwand sie sich und
sprach mit ihremFreund darüber. Die-
ser sei zuerst wütend auf sie geworden,
berichtet sie vor Gericht. Später habe

er sie überredet, Anzeige einzureichen.
Von sich aus hätte sie das nicht getan.
Einenkomplett anderenVerlauf des
Abends hat der grosse, schwere Mann
in der Untersuchung geschildert. Vor
Obergericht bestätigt er dieAussagen
mit knappen,einsilbigen Antworten.
An derFeier will er bloss mitRotwein
angestossen haben und früh aufgebro-
chen sein, um nach Hause zu fahren.
«Das stimmt nicht» oder «ich erinnere
mich nicht», sagt er zu belastenden Zeu-
genaussagen, die derVorsitzende der
II. Strafkammer ihm vorhält. Zum Bei-
spiel hat seinVorgesetzter zu Protokoll
gegeben,der Gruppenchef sei derart be-
trunken gewesen und habe sich so un-
gebührlich verhalten, dass er ihn zum
Gehen aufgefordert und am darauf-
folgenden Montag gemassregelt habe.
Wem Glauben schenken?Das Be-
zirksgericht Zürich hatte Zweifel an
der Version des Mannes, als es sich vor
einemJahr mit demFall beschäftigte. So
sahen die Richter als erwiesen an, dass
sich der Mann an jenem Abend so rich-
tig hatte volllaufen lassen.Dasselbe gilt
für einTreffen im Sommer 2017, bei dem
zweiMännerderFrauGeldboten,umsie
zum Rückzug der Anzeige zu bewegen.
Doch letztlich kam dieVorinstanz
zum Schluss, dass sich das Geschehen für
einenSchuldspruchnichteindeutiggenug
klären lasse. DieAngaben derFrau seien
widersprüchlich, die Zeugenaussagen zu
wenig klar. 16 und mehr Monate nach
demVorfall konnte keine Kleidung mehr

auf DNA-Spuren untersucht werden,der
Whatsapp-Chat war gelöscht. Es handle
sich um ein klassischesVieraugendelikt,
hiess es damals bei der Urteilseröffnung.
Nach dem Grundsatz «in dubio proreo»
sei nur einFreispr uch möglich.
Gegen dieses Urteil gingen sowohl
die Staatsanwaltschaft als auch dieFrau
in Berufung. Man müsse die Anklage
als Mosaikbild würdigen, das auch bei
einem herausgefallenen Steinchen stim-
mig sei, insistierte der Staatsanwalt.
Die Aussagen des Opfers seien wider-
spruchsfrei,logisch undkonsistent. Ihre
Anwältin betonte vor allem, die Schil-
derungen seien frei von Übertreibungen
und könnten nur von einerFrau stam-
men, die solches selber erlebt habe. Der
Verteidiger forderte die Bestätigung des
erstinstanzlichenVerdikts.

Wird Urteilweitergezogen?


So kam es dann auch. Allerdings lie-
ferte das Obergerichteine ganz andere
Begründung – eine mit demPotenzial,
die Debatte um den Straftatbestand der
Vergewaltigung zu befeuern. Denn das
Dreiergremium glaubt, dass dieDar-
stellung derFrau imWesentlichen zu-
trifft – dies aufgrund des Detailliertheit-
grads und derFolgerichtigkeit. Es geht
davon aus, dass der Mann in jener Nacht
vor dem Haus war und dass sie ihn in
die Wohnung mitnahm, um ihm Unter-
schlupf zu gewähren. Doch was sich an-
schliessend im Zimmer abspielte, er-

füllt aus Sicht des Obergerichts denTat-
bestand derVergewaltigung nicht; für
dessen Erfüllung muss gemäss Straf-
gesetzbuch Gewalt, Drohung oder psy-
chischer Druck vorliegen. Die Situation
sei nicht so klar, sagt der vorsitzende
Richter. Die Frau habe ihren Unwil-
len nicht so deutlich ausgedrückt, wie
das wünschenswert wäre. Wenn auf den
«dummenSpruch» des Manneskein
deutliches Nein undkein entschlosse-
nererWiderstandkomme, fehle es an
der nötigen Intensität – «wennauc h
nur knapp». Die Lage sei zudem nicht
ausweglos gewesen, da sich noch wei-
tere Personen in derWohnung befun-
den hätten.
DerRichterschiebtnach,dassmanda s
Verhalten des Mannes als inakzeptabel
erachtet und für eineVerurteilung nicht
viel gefehlt habe. «Ich bin nicht sicher,
wie wirreagiert hätten, wenn dieFrau
mehrWiderstand gezeigt hätte.»Ausser-
dembetonterwiederholt,dassdasUrteil
noch ans Bundesgericht weitergezogen
werdenkönne. «Dieses kann dann sagen,
obwirdenVergewaltigungsartikelzueng
ausgelegt haben oder nicht.»
Es sindWorte, die auch alsAufforde-
rung verstanden werdenkönnen. Noch
ist allerdings nicht klar, ob das Urteil
weitergezogen wird, wie eine Nach-
frage bei der Anwältin derFrau und der
Staatsanwaltschaft zeigt.

Urteil SB 190178 vom 3. 3. 2020,noc h nicht
rechtskräftig.
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