Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

Freitag, 6. März 2020 WIRTSCHAFT 23


In den USA verabschieden sich gleich


mehrere Firmenchefs gleichzeitigSEITE 27


Bleiben kartellrechtliche Pflichten für dieSwatch Group


nötig? Die Weko prüft eine knifflige Frage SEITE 28


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Das Virus bedroht den Tourismus existenziell

Die Branche hat schon manchen Rückschlag verkraftet, doch die Co rona-E pidemie ist eine Gefahr mit neuer Dimension


DANIEL IMWINKELRIED


Wegen des Coronavirus steuert der glo-
baleTourismus auf eine Krise zu, wie
sie wohlkein Branchenvertreter in sei-
nem Berufsleben bisher erlebt hat. Glo-
bal gesehen zählt derFremdenverkehr,
zumindest was das blosseWachstum be-
trifft, zu den erfolgreichstenWirtschafts-
sektoren. In den vergangenen zehnJah-
ren ist die Zahl derPersonen, die eine
Auslandsreise antraten, weltweit stets
gestiegen (vgl. Grafik), jüngst auf1,5
Mrd.Personen.
Letztmals mussten sich Hoteliers,
Reisebüros undTour-Veranstalter in
den nullerJahren mit einem widrigen
Geschäftsumfeld herumschlagen. Zwei-
mal fiel die Zahl derReisenden damals
imJahresvergleich, und zwar 2002 und



  1. In beiden Phasen hatte derRück-
    gang allerdings in erster Linie wirt-
    schaftliche Gründe, nämlich denTech-
    Börsencrash und dieFinanzkrise. Der
    Tourismus erholte sich jeweilsrasch wie-
    der und setzte seinenRekordkurs fort.
    Heftig,aber ebenfalls vorübergehend
    waren dieAuswirkungen von Anschlä-
    gen und Unglücken wie der Havarie
    des Kreuzfahrtschiffs «Costa Concor-
    dia»(2012) und dem Anschlag im tune-
    sischenFerienort Sousse (2015). Heute
    präsentiert sich dieLage anders als in
    jenenJahren – dramatischer.


„Keine Alternativen.Als der Anschlag
in Sousse oder der Militärputsch in
Ägypten (2013) dieTourismusbranche
erschütterten, traf das dieseLänder zwar
hart, dieReisenden wichen jedoch auf
andere Destinationen aus. Am meisten
profitierten davon Spanien und Kroa-
tien. Gerade auf der Iberischen Halb-
insel erlebten die Hoteliers einenregel-
rechten Boom.Das Coronavirus lähmt
denFremdenverkehr nun aber auf der
ganzen Nordhalbkugel. SchweizerTou-
rismusanbieter hegten imFebruar, so sa-
gen sie, noch die Erwartung, siekönn-
ten die fehlendenReisenden aus China
durch Amerikaner ersetzen; aber diese
Hoffnungen zerschlugen sich, als in Ita-
lien um den 22.Februar die ersten Er-
krankungen bekanntwurden. «Das hat
die Situationkomplett verändert», sagt
UrsKessler, der Chef derJungfrau-Bah-
nen. Norditalien ist eine wichtige Dreh-


scheibe des interkontinentalenFrem-
denverkehrs. Kessler hat in seinem
Unternehmen nochkeineKurzarbeit
eingeführt, die Mitarbeiter kompen-
sieren aber die aufgelaufene Überzeit.
Das stellt eine erste Sparmassnahme
dar. «Wie sich das Geschäft weiter ent-
wickeln wird, ist heute nicht abzuschät-
zen», sagtKessler.

„Unkalkulierbares Risiko.Die Hava-
rie der «Costa Concordia» liess sich
eindeutig auf denFehler des leichtsin-
nigen Kapitäns zurückführen.Aus der
Sicht derReisenden war dasFehlver-
halten des Schiffsführers somit ein kal-
kulierbares Risiko,und mit einer sol-
chen Unwägbarkeitkann dieMehr-
heit von ihnen umgehen. Beim Corona-
virus verhält es sich anders. Noch haben
sich zwar erst wenige Menschen global
gesehen mit ihm infiziert, welche Risi-

ken damit genau verbunden sind, wis-
sen aber nicht einmal dieFachärzte. Das
schürtVerunsicherung.

„Neuer Stellenwert. Als dieWelt-
gesundheitsbehörde WHO im März
2003 die Infektionskrankheit Sars als
weltweite Bedrohung einstufte, hatte
China wirtschaftlich noch längst nicht
denselben Stellenwert wie heute. Das
gilt besonders auch für denTouris-
mus. Im vergangenenJahr buchten
Gäste aus China in der Schweiz 1,4
Mio. Logiernächte, womit dasLand
der viertwichtigsteAuslandsmarkt für
den hiesigen Fremdenverkehr war.
2003 dagegen zählte China nicht ein-
mal zu den 15 bedeutendsten Märk-
ten für den hiesigenFremdenverkehr.
Gäste von dort waren Exoten. Die Ab-
senz chinesischerTouristen trifft be-
sonders Luzern und die BernerJung-

frau-Region. Dort sind höchstens ver-
einzelt noch Individualgäste anzutref-
fen, Gruppen aber nicht mehr. Selbst
wenn Chinesen sich noch getrauen
würden, eineFernreise anzutreten, für
einenTr ip nach Europa fehlen schlicht
die Direktverbindungen der Airlines.
Noch seien die Hoteliers gefasst, sagt
AndréWellig, der Marketing-Chef der
JungfrauRegionTourismusAG.Die
Angestellten würden Überzeitkom-
pensieren. Spätestens im Mai beginnt
aber für denFernreiseverkehr die ent-
scheidendeJahreszeit, und dieses Ge-
schäft ist nun akut bedroht.

„Geschwächte Branche.Der Schwei-
zerTourismussektor isteine gewerb-
liche Branche, die mit derFinanzkrise
von 2008 teilweise in Schwierigkeiten
geriet. Europäische Gäste verzichte-
ten wegen des starkenFrankens darauf,

in der Schweiz ihreFerien zu verbrin-
ge n. Vielen Betrieben fehlt deshalb das
Geld fürRenovationen, die eigentlich
notwendig wären,um imKonkurrenz-
kampf zu bestehen. DieVerwerfungen
des Coronavirus treffen somit einen be-
reits geschwächten Sektor, dessen Ge-
schäftsmodell ohnehin sehr anfällig ist
gegenüber externen Schocks. Hotels,
Restaurants undBahnen haben teil-
weise hohe Summen in ihre Infrastruk-
tur investiert, und diesen Stock an fixem
Kapitalkönnen sie nurverzinsen, wenn
sie über das ganzeJahr möglichst viele
Reisende empfangen. EinRückgang der
Gästezahlen schlägt deshalb unmittel-
bar auf dieRentabilität durch.
Erfahrungsgemäss erholt sichder
Tourismussektorrasch, wenn ein exter-
ner Schock überwunden scheint.Lang-
fristig gesehen ist das wirtschaft-
liche Umfeld für den Erfolg der Bran-
che der wichtigsteFaktor, und da der
Wohlstand in derWelt jüngst stark ge-
stiegen ist, sind auchFernreisen immer
beliebter geworden. Doch bis dieser
Zusammenhang wieder zum Tr agen
kommt, wird es eine gewisse Zeit dau-
ern. In der Zwischenzeit müssen die
Anbieter eine harte Bewährungsprobe
bestehen, die an ihrer finanziellen Sub-
Ein eher seltenes Bild:Der Markusplatz inVenedig ohneTouristen. MANUEL SILVESTRI / REUTERS stanz zehren wird.

Folgen der Coronakrise lassen Ölpreise einbrechen


Die erdölexportierenden Länder der Opec versuchen, den Erdölpreis zu stärken


GERALDHOSP


Was die Klimapolitik bisher nicht ge-
schafft hat,könnte durch dieAusbrei-
tung des Coronavirus in kurzer Zeit er-
reicht werden: die Stagnation oder gar
einRückgang des weltweiten Erdölver-
brauchs. Die Zahl der Marktbeobach-
ter, die eine solche bisher seltene Ent-
wicklung vorhersagen, wächst.Das Be-
ratungsunternehmenWood Mackenzie
schätzt, dass die Nachfrage im ersten
Quartal um rund 2,7 Mio. Fass Erdöl pro
Tag gefallen ist, was der stärksteRück-
gang seit dem Höhepunkt derFinanz-
krise Ende 2008 wäre.
Die Organisation erdölexportieren-
derLänder (Opec) geht noch davon
aus, dass 2020um 0,5 Mio. Fass mehr
verbraucht werdenalsimJahr zuvor.
Damit hat das Ölkartell den Prognose-
wert gegenüber Dezember bereits hal-
biert. Eskönnte sogar noch schlimmer
kommen, schreibt die Opec. Angesichts
des Preises für die Nordsee-Erdölsorte
Brent,dervon knapp 70 $ jeFass zu Be-
ginn desJahres in Richtung 50 $ jeFass


gesunken ist, rief die Opec ihre Mitglie-
der und weiterePetro-Staaten, die zu-
sammen als Opec+ bekannt sind, zu
einem ausserordentlichenTr effen auf.

Moskau ziertsich


Um den Erdölpreis zu stabilisieren, einig-
tensich die dreizehnOpec-Mitglieder
vorläufig auf eine deutliche Drosselung
der Produktion um 1,5 Mio.Fass Erdöl
proTag bis EndeJuni.Dabei soll die
Opec 1 Mio. Fass weniger fördern, der
Rest derReduktion soll auf die 10Koope-
rationspartner entfallen, wobeiRussland
der dominierende Akteur ist.Ausserdem
wurde vorgeschlagen, die bereits starken
Drosselungen, die beim letzten Opec-
Tr effen im Dezember beschlossen wor-
den waren, bis Ende desJahres zu ver-
längern. AmFreitag wird über dasPaket
an einemTr effen der Opec+ entschieden.
Die Empfehlung der Opec sendet
ein starkes Signal an den Erdölmarkt.
Besonders Saudiarabien, das Schwer-
gewicht innerhalb der Organisation,
ist an einer Erhöhung des Erdölpreises

interessiert, um die Staatsfinanzen im
Lot zu halten. Die grosse Unbekannte
ist jedochRussland. Moskau befürwor-
tet offenbar ein weniger forschesVor-
gehen und möchte sich bei derFörde-
rung weniger einschränken lassen. Diese
Meinungsunterschiede haben wohl auch
dazu geführt, dass der Erdölpreis auf die
Ankündigung der Opec nicht mit einer
Erhöhung, sondern sogar mit einer Sen-
kungreagiert hat.
Selbst wenn Russland amFreitag
einer erweiterten Drosselung zustim-
men sollte, stellt sich dieFrage, ob die
Vereinbarung auch eingehalten wird.
Zwar stellen sich Riad und Moskau
gerne als ein unzertrennlichesDuo am
Erdölmarkt dar. Bisher hat sich aber
gezeigt, dass vor allem Saudiarabien die
Hauptlast der Drosselungen getragen
hat. Um den Erdölmarkt zu bewegen,
dürfte aber ein beherztesVorgehen von-
nöten sein. Derzeit hilft der Opec noch,
dass die Exporte aus Libyen so gut wie
versiegt sind. Die amerikanischen Schie-
ferölproduzenten würden sicherlich eine
entsprechende Entscheidung der Opec+

begrüssen. Die US-Förderer sind wegen
ihrerrelativ hohen Produktionskosten
auf kräftige Erdölpreise angewiesen und
könnten den Mitgliedern der Opec+
Marktanteile abluchsen.

Interventionohne Wirkung


Wie schon die amerikanische Zentral-
bank in dieserWoche muss sich auch das
Erdölkartell dieFrage nachdem richti-
gen Zeitpunkt für eine Intervention stel-
len. Die wirtschaftlichenAuswirkungen
desCoronavirus sind schwer abschätz-
bar. Das Beratungsunternehmen JBC
Energy ruft zurVorsicht auf. Die Erwar-
tung, dass der Erdölverbrauch drastisch
zurückgehen werde, verbreite sich schnel-
ler als dasVirus, schreibt JBC Energy lau-
nisch. Eine allzu frühe undkonsequente
Reaktion derPetro-Staaten auf den an-
genommenen Nachfragerückgangkönne
sich gar als Bumerang erweisen, weil in
gewissenRegionen dieLagerhaltung ge-
ring sei. Opec+könnte dann einen Preis-
anstieg, der ohnehinverkommt, teilweise
verstärken und zugleich verpassen.

Mitbewährter
Anlagephilosophie.

WirhaltenWort.
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