Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

Freitag, 6. März 2020 WIRTSCHAFT 27


Rücktrittswelle bei US-Chefs


Salesforce, Walt Disney, Harley – der Abschied der Firmenmanager ist kein Zufall


CHRISTOF LEISINGER, NEWYORK


Die Aktienmärkte erholen sich etwas
vom massivenAusverkauf der vergan-
genenTage. Das mag kurzfristig für eine
gewisse Entspannung sorgen. Aller-
dings ist noch lange nicht sicher, ob das
Gröbste schon vorbei ist.In diesem Zu-
sammenhang sind die jüngstenRück-
tritte verschiedener amerikanischerFir-
menchefs interessant.
So will derParfum- undKosmetik-
konzern Coty seinen Chef zum dritten
Mal in dreiJahren austauschen, so hat
jüngst Salesforce-ChefKeith Block an-
gekündigt, sich zurückzuziehen und dem
Unternehmen künftig nur noch beratend
zur Seite zu stehen, und so hat der Unter-
haltungskonzernWalt Disney vergan-
geneWoche bekanntgegeben,Robert
Iger werde per sofort zurücktreten.
Vor einerWoche warmitdem Motor-
radhersteller Harley-Davidson eine wei-
tere Ikone der amerikanischen Indus-
triegeschichte an derReihe. Der bis da-
hin amtierende CEO Matt Levatich ver-
kündete,seinenPosten zurVerfügung
stellen. Im Gegensatz zu Disneys Iger
hinterlässt Levatich keine Erfolgs-
geschichte, denn das traditionsreiche
Unternehmen kämpft schon seitJa hren
mit rückläufigenVerkaufszahlen. Dem
Harley-Chef war es offenbar nicht mehr
gelungen, denKult aus «Easy Rider»-
Zeiten auf jüngere Leute zu übertragen.
Ob der ehemalige Puma-ChefJochen
Zeitz etwas daran ändern kann, bleibt
offen. Immerhin hat er in denVergan-
genheit bewiesen, wie man eine starke
Marke aufbaut.Das wird ihm bei seiner
neuenAufgabe helfen, solange er bei
Harley als CEO undVerwaltungsrats-
präsident das Zepter in der Hand hält–
und sei es auch nur interimistisch.


AusgepressteZitrone


Was zunächst wie eine zufällige Häu-
fung in den obersten Management-Eta-
gen aussehen mag, könnteSystem zu
haben. Immerhin zeigt eine Analyse
der Unternehmensberatung Challenger,
Gray&Christmas, dass die Abgänge
undWechsel in den Chefetagen ame-
rikanischer Unternehmen seitJahres-
anfang deutlich zugenommen haben.
Tatsächlich warihre Zahl imJanuar
diesesJahres fast doppelt so hoch wie
imDurchschnitt der ersten vierWochen
einesJahres nach derFinanzkrise.
Wie immer man diese Zahl interpre-
tieren mag, die Skeptiker jedenfalls nut-
zen sie für das durch die starkenKurs-
turbulenzen der vergangenenTage an
den Börsen verunsicherte Umfeld und
behaupten, «die Kapitäne verlassen
ihre sinkenden Schiffe». Nach guten, vor


allem auch vom billigen Geld angeheiz-
ten Börsenjahren würden dieFirmen-
chefs die «volkswirtschaftliche Zitrone»
ökonomisch für ausgequetscht halten
und verringertenoder verkauftenin
Erwartung magerererWachstumsraten
ihre Aktienbeteiligungen an den Unter-
nehmen, so die Logik der Skeptiker.

Insider wissenBesc heid


Tatsächlich sind solche Überlegungen
nicht ganz von der Hand zu weisen.
Denn wer sollte besser über die ope-
rativenPerspektiven eines Unterneh-
mens Bescheid wissen als die Manager
in der Chefetage? Immerhin haben in
den vergangenenTagen verschiedene
Firmen aufgrund der Corona-Krise vor
tieferen Umsätzen und Gewinnen ge-
warnt – unter anderem auch Grosskon-
zerne wie Apple, Microsoft, Qualcomm,
Mastercard und nicht zuletzt Disney.
Der amerikanische Unterhaltungskon-
zern musste seineVergnügungsparks in
Schanghai, Hongkong und inTokio bis
auf weiteres schliessen. Sie verursachen
zurzeit nurKosten,stattzum Umsatz-
drittel beizutragen, welches dieses Ge-
schäft üblicherweise zum Gesamtergeb-
nis desKonzerns beisteuert.
Inzwischen haben auch dieFinanz-
analytiker der Investmentbanken mit
einergewissenVerspätung begonnen,
die Ertragserwartungen derFirmen für
das laufendeJahr nach unten zu schrau-
ben, nachdem sie noch bis vor kurzem
ziemlich optimistisch gewesen waren.
Unter anderemrechnen dieFachleute
von Goldman Sachs nun mit einer «Ge-
winnstagnation» für 2020. Andere argu-
mentieren, zum Beispiel der Chefstra-
tege von Bridgewater Associates, die
Börse habe phasenweise sogar einen

deutlichen Gewinnrückgang vorweg-
genommen. Dafür machen sie einen
«gravierendenRückgang» der chine-
sischen Wirtschaftstätigkeit im ers-
ten Quartal, eine geringere Endnach-
frage nach Exportgüternamerikani-
scherFirmen, eine Unterbrechung der
Lieferketten vieler der imLand der un-
begrenzten Möglichkeiten ansässigen
internationalenKonzerne und auch die
erhöhte Unsicherheit wegen der weite-
ren Entwicklung verantwortlich.
In derVergangenheit kamen die
Warnungen der Prognostiker meis-
tens zu spät und in derRegel auch nur
sehr zögerlich, wenn es um dieRevi-
sion der Gewinnprognosen nach unten
ging. Ohnehin scheint ihnen das starke
Ertragswachstum der amerikanischen
Konzerne in den vergangenenJahren
imRahmen des allgemeinen Optimis-
mus und der Hausse an den Börsen
nicht suspekt zu sein.Dabei zeigen ver-
schiedene Analysen, dass vieleFirmen
di e Gewinne nicht nach traditionellen
buchhalterischen Methoden ermitteln,
sondern aufBasis von angeblichenAus-
nahmesituationen. Glaubt man einer
Untersuchung des Beratungsunterneh-
mensAudit Analytics, so hielt sich zu-
letzt nur noch eine absolute Minderheit
der S&P-500-Firmen an die herkömm-
lichen Buchhaltungsregeln.

«Zu viele elende Exzesse»


In einer jüngst veröffentlichten Unter-
suchung des Massachusetts Institute of
Technology («Why DoLarge Positive
Non-GAAP EarningsAdjustments Pre-
dict Abnormally High CEOPay») wird
zudem eineVerbindung zwischen die-
ser Unart und derVergütung der Mana-
ger dieser Unternehmen hergestellt. Die
Analysekommt zu einem ziemlich ein-
deutigen Ergebnis: DieKonzernchefs
erhalten deutlich mehr Geld, als ange-
messen wäre. DieRede ist von Gehalts-
bestandteilenvon jährlich 600 000$,
die sich aufBasis einer normal geführ-
tenRechnungslegung vor allem auch bei
Firmen mit geringerRentabilität nicht
erklären liessen.
Die Abweichung von den Buch-
haltungsnormen verleitet dieVerwal-
tungsräte offensichtlich zudem dazu,
dem Management ungewöhnlich hohe
Bonifikationen zuzugestehen. Gleich-
zeitig fällt es derKonzernleitung da-
mit leichter, vereinbarte Ertragsziele
zu erreichen.So überrascht es kaum je-
manden, wenn «altmodische» Investo-
ren wie der 96-jährige Charlie Munger
vonBerkshire Hathaway zum Schluss
kommen: «Ich glaube, eskommen viele
Probleme auf uns zu. Es gibt zu viele
elende Exzesse.»

Bei Harley-Davidson stellt der amtierende CEO Matt LevatichseinenPosten zurVerfügung. KARL MATHIS/ KEYSTONE


Abfuhr für Gesetz


zum Informantenschutz


Nationalrat versenkt «Whistleblower»-Vorlage


HANSUELI SCHÖCHLI

GrosseWorte, kleineTaten. Dieser
Widerspruch gehört zuweilen zumBe-
rufsbild vonParlamentariern.Das hat
seinen Charme, denn dasReden als
eines der beiden Hauptwerkzeuge von
Parlamentariern kann deutlich günstiger
sein als der Einsatz des zweiten Haupt-
werkzeugs: der Produktion von Geset-
zen. Dies trifft nach Ansicht des Natio-
nalrats für das Dossier Informanten-
schutz zu. Gemeint ist damit der Schutz
von Angestellten, die auf Missstände
in ihrem Betrieb hinweisen und da-
mit unter Umständen dieVerärgerung
mancherKollegen und sogar die eigene
Stelle riskieren.
Die medienträchtigen in- und auslän-
dischenFälle wie Snowden, Birkenfeld,
Elmer undWyler/Zopfi sind dabei nur
die Spitze des Eisbergs:Jährlich erhal-
ten Schweizer BetriebeTausende von
Hinweisen über mutmassliche Brüche
von Gesetzen undFirmenregeln.Laut
einer Erhebung von 20 19 war knapp die
Hälfte der erhaltenen Hinweise «rele-
vant», und nur 5% galten als «miss-
bräuchlich». Wer Gläser lieber als halb
leer statt als halb voll bezeichnet, würde
es etwas anders sagen: Gut die Hälfte
aller Hinweise waren irrelevant oder gar
missbräuchlich.

Im Zangengriff


Seit mindestens fünfzehnJahrenredet
die SchweizerPolitik über dasThema.
2007 überwies das Parlament eine
Motion,die vom Bundesrat einen Ge-
setzesvorschlag zum Informantenschutz
forderte. EinVorschlag kam, doch das
Parlament wies diesen 20 15 zurück, weil
er zukompliziert sei.DieRegierung
kam in derFolge mit einem etwas ver-
einfachtenVorschlag, doch auch dieser
ist nun gescheitert. Der Ständerat hatte
zwar eine Gesetzesrevision verabschie-
det, doch der Nationalrat hat am Don-
nerstag wuchtig mit147 zu 42 Stimmen
beschlossen, auf dieVorlage gar nicht
einzutreten.Weil die grosseParlaments-
kammer nun schon zum zweiten Mal
Nichteintreten beschlossen hat, ist die
Vorlage damit definitiv versenkt.
DerVorschlag betraf nur Hinweis-
geber in Privatfirmen, da Staatsange-
stellte in derRegel dem öffentlichrecht-
lichenPersonalrecht unterstellt sind.
Das Gesetzesprojekt kam im National-
rat in den Zangengriff von links und
rechts. Nur die Mitte-Fraktion und die
Grünliberalen unterstützen dieVorlage,
die nach Ansicht der Befürworter einen
besseren Informantenschutz und vor
allem mehrRechtssicherheit bringt. Der
Arbeitgeberverband und die Antikor-
ruptionsorganisationTr ansparency hat-
ten aus ähnlichen Gründen dieVorlage
befürwortet. Die meistgenannte Kritik
der Gegner: dieVorlage sei «zukompli-
ziert» und schaffe Rechtsunsicherheit.

Unvermeidliche Zielkonflikte


DerKern derVorlage ist die Meldekas-
kade:Wer Missstände feststellt, soll dies
zuerst dem Arbeitgeber melden, und
wenn dies nichts bringt, kann der Betrof-
fene eine externe Behörde und danach
unter eng begrenzten Umständen auch
die Medien einschalten. Im Prinzip ent-
spricht diese Meldekaskade der gelten-
denRechtspraxis des Bundesgerichts.
Das Parlament hatte diese Kaskade in
einer früheren Phase auch ausdrücklich
gewünscht.Wer aber die gesetzlicheVer-
ankerung einer solchen Meldekaskade
sowieRechtssicherheit wünscht, aber
gleichzeitig dieVorlage als «zukompli-
ziert» kritisiert,könnte ebenso gutFol-
gendes fordern: «Es mussregnen, aber
nichts darf nass werden.»
Die geltendeRechtslage aufBasis
der Gerichtspraxis ist mindestens so
kompliziert und teilweise noch deutlich
weniger klar. Zielkonflikte sind unver-
meidlich: Beschränkt sich das Gesetz
auf Grundsätze, gibt dies mehr Spiel-
raum für die Richter, auf die Besonder-
heiten des Einzelfalls einzugehen – aber
dies führt naturgemässauch zuRechts-

unsicherheit für Betroffene.Die Kri-
tik im Nationalrat in Sachen «Kompli-
ziertheit» und «Rechtsunsicherheit» war
denn auch zumTeil vorgeschoben.
Dies gilt vor allem für die politi-
sche Linke.Sie hatte mit dem Geset-
zesprojekt zwei ganz andere Probleme:
Der Vorschlag brachte keinen for-
malenAusbau desKündigungsschut-
zes, und die Gewerkschaften befürch-
teten, dass sich Mitarbeiter mit Kritik
über die Lohnpolitik des Arbeitgebers
unter den vorgeschlagenenRegeln künf-
tig nicht mehr an Gewerkschaftssekre-
täre wendenkönnten, sofern Letztere
nicht dem Anwaltsgeheimnis unterstellt
sind. Diese Befürchtung erscheint aller-
dings unbegründet: Der Bundesrat hatte
2018 in seiner Botschaft ansParlament
klargemacht, dass die Information der
Sozialpartner durch Arbeitnehmer mit
dieserVorlage nicht abgedeckt sei und
deshalb diesbezüglich die Rechtslage
unverändert bleibe.
Unklar ist dabei, welche Art der
betriebsinternen Information durch
Arbeitnehmer zuhanden von Gewerk-
schaften nach geltendemRecht über-
haupt zulässig ist. Der nun abgelehnte
Gesetzesvorschlag behandelte diese Ge-
werkschaftsfrage etwa so, wie der vorge-
schlageneRahmenvertrag Schweiz - EU
dasThema EU-Unionsbürgerrichtlinie
behandelte – mit bewusstem Schweigen.

Mehr oder weniger Schutz?


Linke undRechte waren am Donners-
tag im Nationalrat noch in einem wei-
teren Kritikpunkt vereinigt: dieVor-
lage bringe keinen grösseren Infor-
mantenschutz und zumTeil sogar eine
Verschlechterung.EinVergleich des
Gesetzesvorschlags mit dem geltenden
Recht aufBasis massgebender Bundes-
gerichtsentscheide und diverser Geset-
zeskommentare ergibt ein unscharfes

Bild.Per saldo hätte dieVorlage ver-
mutlich einen leichtenAusbau des In-
formantenschutzes und etwas mehr
Rechtssicherheit gebracht.
Was nun? Justizministerin Karin
Keller-Sutter hatte schon früher betont,
dass bei einem Scheitern dieses Pro-
jekts auf absehbare Zeit kaum eine an-
dereVorlage zum Informantenschutz
mehrheitsfähig sein werde. Am Don-
nerstag bekräftigte sie diese Botschaft
im Nationalrat: «Eine bessereVorlage
kann ich Ihnen nicht inAussichtstel-
len.» Die Schweiz wird damit nach Ab-
lehnung der vorgeschlagenenRevision
durch dasParlament wohl wieder ver-
stärkt unter Druck des globalenLän-
dervereins OECDkommen. Dieser kri-
tisiert seit langem dasFehlen eines aus-
drücklichen gesetzlichen Schutzes für
Informanten in der Schweiz.

SozialerDruck


DieRelevanz der OECD bei diesem
Thema ergibt sich aus der OECD-Kon-
vention zur Bekämpfung derKorrup-
tion und ergänzenden Empfehlungen
dazu.Auch die Schweiz hat die OECD-
Leitplanken akzeptiert. Die nächste
Länderprüfung durch die OECD ist für
etwa Mitte diesesJahres vorgesehen. In
diesem Dossier gibt es im Unterschied
zuThemen wie Steuertransparenz und
Geldwäscherei bisherkeine «schwar-
zen» oder «grauen» Listen mit Sank-
tionsdrohungen, sondern etwas sanfte-
ren sozialen Druck. Die Schweiz kann
sich damit trösten, dass sie insgesamt in
SachenKorruption im internationalen
Vergleich nicht schlecht dasteht.

Die Schweiz wird
nach Ablehnung der
Revision wohl wieder
verstärkt unter Druck
der OECD kommen.
Free download pdf