Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

28 WIRTSCHAFT Freitag, 6. März 2020


Keine einfache Aufgabe für die Weko

Wettbewerb zu verordnen, könnte im Fall der Swatch Group für die Konkurrenten auch kontraproduktiv sein


Bis im Sommer muss die


Wettbewerbskommission


entscheiden, ob sie dieSwatch


Group von ihren kartell-


rechtlichen Pflichten im Bereich


mechanische Uhrwerke


entbindet. DieAufgabe hat


sie sich freiwillig aufgehalst.


ANDREA MARTEL


Das Kartellrechtsverfahren, mit dem
die Swatch Group als ehemalige Quasi-
Monopolistin ihre Lieferpflicht für
mechanische Uhrwerke abschütteln
will, hat in den letztenWochen hohe
Wellen geworfen. Die Wettbewerbs-
kommission (Weko) tut sich schwer
damit, zu beurteilen,ob die Swatch
Group nach sechsJahrenkontrollier-
ter Lieferreduktionen tatsächlich nicht
mehr marktbeherrschend ist und wie
ursprünglich vorgesehen in die «Frei-
heit» entlassen werden kann oder ob
die dominantePosition nach wie vor
besteht und es weitere Massnahmen
braucht, um denWettbewerb auf die-
sem Markt zu schützen.


Was ist «marktbeherrschend»?


Die Unsicherheit der Weko hat dazu
geführt, dass die Behörde ihr Urteil
nicht wie vorgesehen bis Ende 2019 ge-
fällt hat, sondern sich dafür noch bis im
Sommer 2020 Zeit nehmen will.Dabei
wird in Kaufgen ommen, das s die Uhr-
werke-ProduzentinETA inder Zwi-
schenzeitkeine Drittkunden beliefert
bzw. beliefern kann.So unglücklich die-
ser Aufschub desWeko-Entscheids mit
seinenKonsequenzen für die Uhren-
industrie ist: DieFragen sind tatsäch-
lich nicht einfach zu beantworten.
Das fängt schon bei derFrage nach
einer marktbeherrschenden Stellung
an. Wie lässt sich diese eruieren? Ein
wichtiger Anhaltspunkt hierbei ist für
die Weko der Marktanteil.Aber selbst
zu den Marktanteilengibt es verschie-
deneAnsichten.Einerseits hat dieETA
2019 nur noch rund 500000 mechani-
sche Uhrwerke an Drittkunden gelie-
fert.Vom Gesamtmarkt für Dritte, der
rund1,7 Mio. Werke umfasst, war das
folglich weniger als ein Drittel.
Anderseits vermittelt dieser An-
teil aufdem Markt für Drittkunden
nur einTeil desBildes. Die (poten-
zielle) Schlagkraft derETA gründet
nicht auf den Uhrwerken, welche die
Werksproduzentin an externeKunden
liefert. Ihre Effizienz und ihre Innova-
tionskraft rühren daher, dass sie gleich-
zeitig rund 5 Mio. mechanische Uhr-
werke für die verschiedenenKonzern-
marken derSwatch Group entwickelt
und produziert.Damit bleibt sie selbst
ohne Drittkunden die grössteWerks-
produzentin der Schweiz.
Hinzukommt, dass sich mit Markt-
anteilen allein eine marktbeherr-
schende Stellung eines Unterneh-
mens weder beweisen noch wider-
legen lässt. Laut dem Kartellgesetz
gilt ein Unternehmen nicht bloss auf-
grund eines bestimmten Marktanteils
als marktbeherrschend, sondern dann,
wenn es in derLage ist, sich von ande-
ren Marktteilnehmern in wesentlichem
Umf ang unabhängig zu verhalten.
Die Frage ist somit, wie stark
die neuenWettbewerber dieSwatch
Group in ihrer Unabhängigkeit ein-
schränkenkönnen– oder besser ge-
sagt: der neueWettbewerber, denn bis
jetzt hat es einzig die in der Nähe von
La Chaux-de-Fonds domizilierteFirma
Sellita geschafft, eine industrielle Pro-
duktion im grossen Stil auf die Beine
zu stellen undWerke mit einemETA-
ähnlichen Preis-Leistungs-Verhältnis
auf den Markt zu bringen; ausländi-
sche Anbieterkommen alsKonkur-
renten nicht infrage, da es um «Swiss
made»-Werke geht.Sellita liefert heute
mehr als doppelt so viele Uhrwerke an
Dritte wie dieETA und hat auf die-
sem Markt einenAnteil vonrund 65%.
Das tön t nach einemAkteur, der in der


Lage sein sollte, der Swatch Group die
Stirn zu bieten.
Dabei ist allerdings zu beachten,dass
der Aufstieg von Sellita zum wichtigs-
ten Lieferanten für Drittfirmen nicht
die Folge eines intensiviertenWett-
bewerbs war. Sellita hat der Swatch
Group nicht gegen ihren Willen und
bloss durchkonkurrenzfähigesVerhal-
ten Marktanteile abgeluchst.DieWerk-
herstellerin ist nur deshalb so gross ge-
worden, weil dieETA – derVereinba-
rung mit derWeko entsprechend – ihre
Mengenreduziert hat und Sellita in die
Bresche gesprungen ist.Weil vieleETA-
Kunden gar nicht freiwillig zu Sellita ge-
wec hselt haben, lässt sich auch nicht sa-
gen, wie viele sofort wieder zurSwatch

Group zurückkehren würden, wenn sie
dort wieder bedient würden.
ETA-Werke gelten im Markt punkto
Preis-Leistungs-Verhältnis jedenfalls
nach wie vor als ungeschlagen. Das
gilt sowohl für die seitJahren prak-
tisch unveränderten Standardwerke,
mit denen die Uhrenhersteller in den
vergangenenJahren beliefert wurden,
als auch für die modernenWerke, wel-
che dieSwatch Group in Zukunft an
ausgewählteKunden verkaufen will.

Ein abhängiger Riese

So mag Sellita auf dem Markt für
mechanische Uhrwerke auf den ers-
te n Blick ein Riese sein. Unabhängig
ist das Unternehmen deswegen längst
nicht , zumindest auf dem Markt, auf
dem Sellita selber als Nachfragerin auf-
tritt. Dies deshalb, weil in praktisch all
ihren Uhrwerken Assortiments der
Swatch-Group-Tochter Nivaro x ste-
cken (erste eigene Gehversuche mit
eigenen Assortiments wurden unter-
nommen, erweisen sich jedoch als sehr
anspruchsvoll).Das Unternehmen ist
damit beim wichtigsten Input auf die
Swatch Group angewiesen.
Niva rox verfügt bei den Assorti-
ments (Ankerrad, Unruh, Spirale) im

Markt für Drittkunden bis heute so
gut wie überein Monopol. Die weni-
gen grossen Schweizer Uhrenherstel-
ler, die ih re Assortiments selber fer-
tigen, verkaufen sie nicht anDritte


  • und wenn sie es täten, wären die
    Produkte deutlich teurer als jene von
    Nivarox. Die Eintrittshürden für neue
    Anbieter sind hoch, auch weil nicht
    teure Kleinserien gefragt sind,sondern
    industriell gefertigte, günstige Spiralen,
    um Standard-Uhrwerke damit auszu-
    rüsten. Möglicherweise wird auch auf
    diesem Markt irgendwannWettbewerb
    en tstehen – etwa wenn Ende 2022 der
    Patentschutz für Siliziumspiralenaus-
    läuft –, aber vorläufig ist nochkein
    alternativer SchweizerAnbieter in die-
    sen Markt eingetreten.
    Die Abhängigkeit von Nivaro x
    müsste theoretischkein Problem dar-
    stellen,denn aufgrund seiner dominan-
    ten Positionist der Assortiment-Her-
    steller den kartellrechtlichenRegeln
    für marktbeherrschende Unternehmen
    unterstellt.Das heisst,Nivarox hat eine
    Lieferpflicht und muss all seineKun-
    den gleich behandeln.Aber das scheint
    in der Praxis nicht auszuschliessen,dass
    Assortiments bei Sellita immer wie-
    der das einschränkende Element in
    der Produktion von Uhrwerken sind.
    So hätte dieWerkeherstellerin in den
    vergangenenJahren gerne die Bestel-
    lungen beiNiva rox erhöht, bekommt
    aber seitJahren gleich viele geliefert
    (rund 900000 pr o Jahr, mit einer zu-
    sätzlichen Sonderzuteilung 2020).
    Mit dem bevorstehendenAuslau-
    fen derkart ellrechtlichenVereinba-
    rung zwischen Swatch Group und
    Weko bestehen in der Uhrenbranche
    nun zwei verschiedene Befürchtungen.
    Die Uhrenmarken als Endabnehmer
    von ETA-Uhrwerken haben Angst, in
    Zukunftkeine Lieferungen mehr zu
    erhalten. Ihnen wäre es am liebsten,
    die Swatch Group wäre nochfür lange
    Zeit Lieferverpflichtungen unterstellt.
    Diese Ängste scheinen bei denWett-
    bewerbshütern allerdings auf wenig
    Resonanz zustossen, was sich daran
    zeigt, dass die Behörden vorsorgliche
    Massnahmen erlassen haben, die be-
    reits zu einemkompletten Lieferstopp
    bei derETA geführt haben.
    Bei den alternativen Werke her-
    stellern gibt es zweiFraktionen:Jene,
    die mit ihrer eigenen Produktion
    noch nicht so weit sind, um Ersatz für
    mechanischeETA-Uhrwerke anzubie-
    ten – wie etwaRonda –, wären eben-
    falls froh, dieETA würde noch für ei-
    nige Zeit zum Liefern verpflichtet. Sie
    befürchten, dass Sellita sonst zu stark


wird , was ihren eigenen Markteintritt
erschweren würde.
Sellita hingegen, die bis jetztein-
zige grössereKonkurrentin derSwatch
Group, befürchtet, dass dieETA ihr
nachAuslaufen der einvernehmlichen
Regelung die in den letztenJahren ge-
wonnenenKunden wieder abspenstig
macht.Dieskönnte dem Unternehmen
zu einem Zeitpunkt, zu dem eben erst
im grossen Stil in denAufbau der Pro-
duktion investiert wurde, gefährlich
werden,zumaldie Bestellmengen der
Kunden derzeit auskonjunkturellen
Gründen am Einbrechen sind.
Letztere Befürchtungen scheint die
Weko ernst zu nehmen. So heisst es in
der Verfügungvom Dezember 2019,

es sei glaubhaft, dass Drittkunden, die
in den letztenJahren auf alternative
Bezugsquellenausgewichen seien, ihre
Bezugsstrategie ändern und inskünftig
ihren Bedarf (wieder) bei derETA de-
cken würden, wenn sich dieETA neu
als Anbieterin für mechanische Uhr-
werke für ausgewählte Drittkunden
positioniere. Dies könnte laut derWeko
wiederum zurFolge haben, dass die
alternativen Bezugsquellen, die sich
während derDauer der einvernehm-
lichenRegelung am Markt etabliert
haben oder daran sind, sich zu etablie-
ren, dahingehend bedroht würden, als
sie denAuf- oderAusbau ihrer Produk-
tion mechanischer Uhrwerke mangels
Nachfrage nicht im geplanten Umfang
realisierenkönnten und im schlimms-
ten Fall gar einstellen müssten.

Zu Lieferbeschränkung bereit

Die Swatch Group hat auf der artig e
Ängste bereitsreagiert. Ganz auf die
Belieferung von Drittfirmen verzichten
will das Unternehmen zwar nicht, aber
man wäre du rchaus bereit, sich für ei-
nige Zeit an eine Obergrenze zu halten.
Es sei nicht sein Ziel, künftig mehr als
350 000 bis 450000 Werke proJahr an
Dritte zu verkaufen,sagteNickHayek,

der CEO derSwatch Group, in einem
Interview mit der NZZ AnfangJahr.
Und wenn dieWeko dies ein paarJahre
lang überwachen wolle, wäre das für
die Swatch Group kein Problem.
Obschon die Swatch Group die-
sen Vorschlag nicht formell einge-
reicht hat, scheint sich dieWeko da-
mit zu befassen. Eine klar deklarierte
und überwachte Lieferbeschränkung ,
die auch mehrals «ein paarJahre»
dauernkönnte, hätte gegenüber einer
Beendigung sämtlicherAuflagen den
Vorteil,dass dieETA-Konkurrenz nicht
befürchten muss, dass ihr dieSwatch
Group schon bald wieder sämtliche Ge-
schäftsaktivitäten streitig machen wird.
Es bleibenallerdings zweiFragen:
Die erste betrifft den Umfang der wei-
terhin erlaubten Geschäfte. 400 000
Werke tönt nach wenig. Aber wenn
man vom gesamten Marktvolumen
von rund 1,7 Mio. Werken den Anteil
der margenarmen Grundversorgung
der Branche mit Standardwerken ab-
zieht (welche dieSwatch Group ohne-
hin nichtmehr leisten möchte), blei-
ben nicht viel mehr als 400000 Werke
übrig, mit denen sich gutes Geld ver-
dienen liesse. Die Swatch Groupkon-
trollierte damit potenziell dengesam-
ten lukrativenTeil des Marktes.
Die zweite, grundsätzlichereFrage
führt zurück zum Kartellrecht. Wel-
che Optionen hat dieWeko überhaupt,
wenn sie zum Schluss gelangen sollte,
dass dieSwatch Group heute auf dem
Markt für mechanische Uhrwerke wei-
terhin marktbeherrschend ist (nur dann
kann ihr die Behörde nochAuflagen
machen)? Die Ansichten dazu gehen
unter Kartellr echtspezialisten ausein-
ander. Für die einen ist klar, dass in die-
sem Fall dieETA nicht aus ihren kar-
tellrechtlichen Pflichtenentlassen wer-
den darf. Sowohl der Lieferzwang als
auch das Diskriminierungsverbot müss-
ten auf jedenFall weiter gelten. Mit
anderen Worten: DieETA dürftesich
ihre Kunden weiterhin nicht frei aus-
suchen bzw. müsste, wenn sie einen be-
liefert, alle anderen ebenfalls beliefern,
die dies wünschen.Wie sich dies mit
einer Lieferbeschränkung auf 400 000
Werke proJahr unter einen Hut brin-
gen lässt, ist schwierig vorstellbar.
Andere wiederum, und dazu zählt
unter anderemWeko-Direktor Patrik
Ducrey , sindder Ansicht, dass eine
marktbeherrschende Stellung nicht
automatisch einen Kontrahierungs-
zwang und ein Diskriminierungsver-
bot nach sich ziehen muss, sofern eine
Lieferverweigerung nicht missbräuch-
lich ist.Das Ziel sei ein funktionieren-
der Wettbewerb.
Nur um desWettbewerbs willen sei
diesesVerfahren ja überhaupt erst ein-
geleitet worden. DieWeko habe für
einen Abbau der marktbeherrschen-
den Stellung der Swatch Group bei
mechanischen Uhrwerken nur des-
halb Hand geboten,weil es für die Be-
hörde kein funktionierenderWettbe-
werb war, wenn sich eineganze Bran-
che darauf verlässt, dass dieSwatch
Group sie mit innovativen Uhrwer-
ken versorgt.Schliesslich handle es sich
bei Uhrwerken nicht um sogenannte
wesentliche Einrichtungen («essential
facilities»), zu denen sinnvollerweise
alle Zugang haben, wie etwa imFall
von Infrastruktureinrichtungen.
NachDucreysAussage ist derAus-
gang desVerfahrens offen, und es sind
mehrere Schlussfolgerungen möglich:
Entweder hat sich die Situation so ent-
wickelt wie erwartet, undes braucht
keine weiteren Massnahmen. Oder
dies ist nicht derFall, und dann wäre
es denkbar, die Lieferverpflichtung
für dieSwatch Group weiterzuführen
oder aufzuheben und/oder gleichzeitig
die alternativenAnbieter noch für eine
gewisse Zeit vor allzu starkerKonkur-
renz zu schützen, indem man beispiels-
weise mit derSwatch Group eine Lie-
fe robergrenze vereinbart oder eine sol-
che verfügt. Sicher ist damit nur eines:
Der Ausgang desFalles ist weiterhin
offen – es bleibt spannend bis zuletzt.
«Reflexe», Seite 34

Die Aussichten für dieSwatch Group sind noch unklar: der Hauptsitz in Biel. PETER KLAUNZER / KEYSTONE

Sellita ist nur deshalb
so gross geworden,
weil die ETA ihre
Mengen reduziert hat
und Sellita in die
Bresche gesprungen ist.

Die Uhrenmarken
als Endabnehmer von
ETA-Uhrwerken haben
Angst, in Zukunft
keine Lieferungen
mehr zu erhalten.
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