Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

Freitag, 6. März 2020 INTERNATIONAL 3


«Was Griechenland tut, ist illegal»

Der Münchner Asylrecht-Spezialist Constantin Hruschkakritisiert das Vorgehender griechischenBehörde gegen Migranten


Herr Hruschka, Griechenland hat
nach der türkischen Ankündigung, die
Grenzefür Flüchtlinge zu öffnen, das
Asylrecht für einen Monat ausgesetzt.
Ist das rechtlich zulässig?
Nein, es war der Grundkonsens nach
dem ZweitenWeltkrieg, dass man jeden
Asylantrag annimmt und prüft.Das steht
auch so imSchengener Grenzkodex
und in denDublin-Verträgen. Als EU-
Land darf Griechenland das Asylrecht
nicht aussetzen. Nach Ansicht mancher
Experten gäbe es eineAusnahme, wenn
die Funktionsfähigkeit des Staates un-
mittelbargef ährdet wäre, also der Staat
vor dem Zusammenbruch stünde.


Das ist mit der gegenwärtigen Krise
nicht gegeben?
Nein, es sind ja auch viel wenigerPer-
sonen unterwegs als 2015 und 2016. Zu-
dem hat der Europäische Gerichtshof
2017 gesagt, wenn ein Staat überfordert
ist,dann sind die anderen Mitgliedsstaa-
ten zur Hilfe verpflichtet.Das ist der
Grundsatz der Solidarität.


Die Griechen schicken Migranten in die
Türkei zurück, ohne ihre Asylanträge
zu prüfen. Gibt es dafür rechtliche
Grundlagen?
Nach dem EU-Asylrecht, an das Grie-
chenland gebunden ist, darf niemand
ohne individuelle Prüfung zurückgewie-
sen werden. Der Europäische Gerichts-
hof für Menschenrechte (EGRM) hat
das für Pushbacks von Ungarn nach Ser-
bien erst im November so entschieden.


Aber dieSyrer geniessen in derTürkei
einen Sonderstatus. Sie haben Zugang
zum Gesundheitssystem, ihre Kinder
gehen zur Schule, viele haben Arbeit.
Da ist der grosse Streitpunkt, ob die
Rechte derSyrer in derTürkei mit
ihren Sonderkonditionen gewahrt sind.
Die Türkei hat die Genfer Flüchtlings-
konvention mit demVorbehalt unter-
zeichnet,dass sie nur für Flüchtlinge aus
Europa gilt. Sie ist daher nicht verpflich-
tet , die Syrer als Flüchtlinge anzuerken-
nen. Aus europäischer Sicht ist dieTür-
kei insofernkein siche rer Drittstaat. Es
muss daher geprüft werden, was einer
Person in derTürkei droht.


Nun gibt es ein neues Urteil des Euro-
päischen Gerichtshofs für Menschen-
rechte, wonach dieAusschaffung illegal
eingereister Migranten aus der spani-
schen Exklave Melilla rechtenswar.
Meiner Meinung nach besagt dieses
Urteil, dass eine schutzbedürftigePer-
son nicht abgeschoben werden darf. Die
zweiMigranten,umdieesging,warenein-
deutig nicht schutzbedürftig. Ausserdem
muss es möglich sein , legal einen Asyl-
antragzustellen.BeideBedingungensind
aber imFall Griechenlands nicht erfüllt.
Ich kann nirgendwo an der griechischen
Grenze legal einen Antrag stellen.


Ein Flüchtling könnte in einemKonsu-
lat in Istanbul einen Antrag stellen.
Es gibt nur wenigeLänder, die daser-
möglichen – Spanien gehört dazu, die
Schweiz und Deutschland. Doch weiss
das kaum jemand.Ausserdem ist das
kein Asylantrag, sondern ein Antrag
auf ein humanitäresVisum, das heisst
ein langfristiges Bleiberecht aus huma-
nitären Gründen.Dafür sind die Anfor-
derungen sehr hoch. Griechenland bie-
tet diese Möglichkeit nicht.

Ist der Einsatz von Gewalt zurVe rhin-
derung von Grenzübertritten zulässig?
Wenn ein Staat wissen kann und muss,
dass einePerson Schutz sucht, darf er
sie weder am Grenzübertritt hindern
noch inhaftieren.Im Übrigen muss man
im Einzelfall entscheiden, ob Gewalt
an der Grenze verhältnismässig ist. Im
Fall Griechenlands gilt:Wenn klar ist,
dass da syrische Flüchtlinge stehen, die
einenAsylantrag stellen wollen,darf die
Grenze nicht geschlossen werden.

Nun können die griechischen Grenz-
schützer ja nicht wissen,wer ein schutz-
bedürftiger Flüchtling ist.
Deshalb hat man in der Genfer Flücht-
lingskonvention1951 beschlossen, dass
ein Staat im Zweifel den Einzelfall
prüfen muss. Auch der EGMR hat in
dem Urteil vor zweiWochen bestätigt,
dass Asylsuchende so lange als Flücht-

linge anzusehen sind, bis feststeht, dass
sie es nicht sind.

Griechenlandwäre also verpflichtet, alle
Migranten an der Grenze zunächst ins
Land zu lassen, damit sie Asyl bean-
tragen können, und diesen Antrag an-
schliessend zu prüfen?
Ein Staat kann es auch wie Ungarn ma-
chen,eineTransitzone an der Grenze ein-
richten und dort Asylanträge prüfen.Das
hatdenVorteil,dassmandiePersonleich-

ter zurückweisen kann, wenn sie nicht
schutzbedürftig ist.Wenn ein Staat ein
vernünftigesVerfahrenhatanderGrenze,
muss er nicht jedePerson durchlassen.

Seit langem spricht man von derDublin-
Reform. Weshalb kommt sie nicht voran?
Die Interessen der Mitgliedstaaten sind
völlig unterschiedlich. Die Ostmittel-
europäer sagen, bei uns gibt es dank
Dublin keine Flüchtlinge; das soll so

bleiben. Die Staaten an derAussen-
grenze wollen dagegen eineReform,auf
deren Grundlagesie Asylbewerber wei-
tergebenkönnen.Das wiederum wol-
len die Mittelstaaten nicht, weil sie sich
dann um diese Asylbewerber kümmern
müssten. Allerdings will Deutschland
während seiner Ratspräsidentschaft
2020 einenVorstoss zurVerteilung der
Asylbewerber machen. Dagegenwehren
sich schon jetzt die Ostmitteleuropäer.

DieKommission will einen europäi-
schen Migrationspakt. Aber es sind
schliesslich nationale Gesetzgebungen,
die über dieAufnahmen entscheiden.
Das europäische Asylsystem ist so aus-
gelegt, dass überall die festgelegtenMin-
deststandards eingehalten werden müs-
sen.Das ist nicht derFall.Und zwar des-
halb, weil dieseReform viel zu schnell
durchgeführt wurde. 2005 war die
Rechtsgrundlage geschaffen, mit Stich-
tag 1. Januar 2007 hätte sie umgesetzt
sein sollen.Viele Länder sind da ausge-
stiegen. Der neue Migrationspakt wird
nochmals versuchen, Europa als ge-
meinsamenRechtsraum zu begreifen.

Wie gross sind die Chancen?Ve rgrös-
sert oder verkleinert die gegenwärtige
Krise dieWahrscheinlichkeit europäi-
scher Lösungen?
Die Differenzen werden jetzt noch grös-
ser. 2015 hatte ich zeitweise das Gefühl,

die Staaten sähen ein, dass sie zusam-
menarbeiten müssen. Doch seither sind
die meistenLänder mit ihren nationa-
len Lösungen ziemlich gut gefahren. Ich
sehe nicht, woher jetzt plötzlich dieser
europäische Geistkommenkönnte.

Die EU-Spitze ist an die griechisch-tür-
kische Grenze gereist und hat den Grie-
chen dazu gratuliert,dass sie die euro-
päische Grenze verteidigen. Hilft das
den Griechen?
Ursula von der Leyen versucht, die
Krise als europäischesThema zu lan-
cieren.Auf der praktischen Ebene wird
daraus nicht viel Unterstützung, wenn
bloss dieFrontex hingeschickt wird und
sich bei der Unterbringung der Ankom-
menden und der Abwicklung der Asyl-
verfahren nichts ändert.

Weshalb wurden die Griechen so lange
alleingelassen?
Griechenland hat viel Unterstützung be-
kommen.Woran es fehlte, war derAuf-
bau eines funktionierendenSystems. Es
gibt ja auchkeine EU-Behörde, die ein-
springenkönnte und über Asylanträge
entschiede.LetztlichmüssendasdieGrie-
chen allein machen. Die Griechen ver-
weigerten sich aber auch europäischen
Standards und setzen das Geld nicht so
ein, wie sich das die EU vorstellte.

Ist Griechenland nichtwillens oder nicht
fähig, ein funktionierendes Asylsystem
aufzubauen?
Hinter vorgehaltener Hand sagen EU-
Beamte, die Griechen seien nicht in der
Lage, eine vernünftigeVerwaltung aufzu-
bauen, das sehe man auch anderswo im
Land. Doch mit solchen Urteilen muss
man vorsichtig sein. Denn es fehlt auch
amWillen:Würde dasSystem funktionie-
ren, gäbe eskeinen Grund für eineRe-
formvonDublinundfürUmverteilungen.

Ist die Flüchtlingskonvention nochzeit-
gemäss? Oder müsste sie angesichts der
gestiegenen Mobilität und der zuneh-
mendenKonflikte angepasstwerden?
Die Flüchtlingskonvention ist zeit-
gemäss. Aber eben nur fürden Be-
reich, den sie regelt:den internationalen
Flüchtlingsschutz. Die erhöhte Mobili-
tät muss migrationsrechtlich aufgefan-
gen werden durch Einwanderungspoli-
tik,Freizügigkeit undArbeitsmarktrege-
lung. Die steigende Zahl vonKonflik-
ten s chafft Probleme, die separat von
der Flüchtlingskonvention gelöst wer-
den sollten: durch den Schutz von Bin-
nenvertriebenen und die Verteilung
von Flüchtlingen und anderen Gewalt-
vertriebenen.Wir brauchen also zusätz-
licheRegeln. Zudem wäre es wohl un-
möglich, eine solcheKonvention, die
von 149 Staaten unterzeichnet wurde, in
der heutigen Zeit noch zureformieren.
Interview: Andreas Ernst,
Ulrichvon Schwerin

Ankara wirft Athen Gewaltanwendung gege n Flüchtlinge vor


Die Türkei liefert zwar keine Belege, tr otzdem muss sichGriechenlandkritischeFragengefallenlassen


VOLKERPABST, ISTANBUL


Um die Ereignisse an der griechisch-tür-
kischen Grenze tobtzwischen Ankara
und Athen ein Informationskrieg. Der
türkische Innenminister Süleyman Soylu
erklärteamDonnerstag,fast140 000Per-
sonen hätten dieTürkei in Richtung EU
verlassen, seitdem Ankara vergangenen
Freitag bekanntgegeben hatte, Flücht-
linge und Migranten nicht mehr an der
Ausreise zu hindern. Griechenland habe
mithilfe der EU-Grenzschutzagentur
Frontex seither 4900Personen auf die
türkischeSeitezurückgedrängtunddabei
164 von ihnen verletzt, sagte Soylu. Die
Türkei werde deshalb 1000Spezialkräfte
entsenden,umsolche«push-backs»künf-
tig zuverhindern.
Bereits am Donnerstag hatte der
Gouverneur der Grenzprovinz Edirne
erklärt, dass 6 Migranten beimVersuch,


die Grenze zu übertreten, angeschossen
worden seien und einer von ihnen später
seinenVerletzungen erlegen sei.

Propagandistische Übertreibung


Die griechische Seite wies diese An-
gaben kategorisch als «fake news» zu-
rück.Tatsächlich hätten die Grenzschüt-
zer 20000 irreguläre G renzübertritte
verhindert und einige hundertPerso-
nen festgenommen. Die türkische Seite
treibe die Migranten auf den Grenzzaun
zu, umAusschreitungen zu provozieren.
Nicht nurangesichtsder offensicht-
lichen propagandistischen Absicht der
Türkei sind die präsentierten Zahlen un-
glaubwürdig. Auch wurden nirgends im
Grenzgebiet Menschenmengen gesich-
tet,die Übertritte in sechsstelliger Höhe
wahrscheinlich erscheinen liessen. Ein-
zig vor dem geschlos senen Grenztor von

Pazarkule warteten mehrere tausend
Personen.Weil die türkischen Sicher-
heitskräfte seit Mittwochkeine Journa-
listen mehr in dieNähe des Übergangs
lassen, gibt es aber auch von dortkeine
unabhängigen Informationen mehr.
Auch die Berichte über systematische
Gewaltanwendung lassen sich kaum un-
abhängig verifizieren. DieAuthentizi-
tät der Handyaufnahmen von einzel-
nen Ereignissen ist nicht gesichert.Das
Zen trumForensic Architecture an der
Univ ersity of London, das mit Mobil-
funk- und Satellitendaten arbeitet, hat
den von griechischer Seite dementier-
tenTod einesSyrers vo m Montagreko n-
struiert.Demnach sei das Opfer tatsäch-
lich mit allerWahrscheinlichkeit in un-
mittelbarer Grenznähe von einem Pro-
jektil amKopf getroffen worden.Wo er
der Schuss kam ist allerdings offen.Das
ebenfalls in Grossbritannien ansässige

Recherche-Portal Bellingcat erklärte am
Mittwoch, dass die verfügbaren Bilder
aus der Grenzregion darauf hinwiesen,
dass die griechischen Sicherheitskräfte
auf kurze DistanzTränengaspetarden
eingesetzt hätten,die eigentlich für grös-
sere Entfernung vorgesehen seien.
DassdieVerhältnismässigkeitderEin-
sätze ein delikatesThema ist, zeigte sich
an einer Pressekonferenz am Mittwoch
in Brüssel. Auf die Frage, ob der Einsatz
von Gummigeschossen zulässig sei, ant-
wortete der griechischeKommissar für
Flüchtlingsfragen, Margaritis Schinas,
dass es derKommission nicht anstehe,
in dieserAusnahmesituation über die
Details eines Einsatzes zu urteilen.

Unbehagen über Bürgerwehren


In Griechenland gibt es einen brei-
ten Konsens über die Notwendigkeit

eines entschlossenenAuftretens an der
Grenze. Die türkische Grenzöffnung
wird als Manöver zur bewussten De-
stabilisierung des Landes betrachtet.
Bereits vor dem Schritt von letzter
Woche rechnete laut einer Umfrage
jeder Zweite in Griechenland noch die-
ses Jahr mit einer militärischenKonfron-
tation mit derTürkei. Grund dafür war
der sich zuspitzendeKonflikt um Grenz-
fragen im Mittelmeer.
Während Kritik an den Sicherheits-
kräften kaum zu hören ist, wächst das
Unbehagen in Bezug auf die teilweise
bewaffneten Bürgerwehren, die sich auf
den Ägäisinseln, aber auch entlang dem
Grenzfluss Evros gebildet haben. Ein
Journalist von CNN Greece berichtete
am Dienstag, dass er geschlagen und be-
droht worden sei,nachdem er Zeuge ge-
worden sei, wie bewaffnete Bürger einen
Migranten aufgegriffen hätten.

Constantin
Hruschka
SeniorResearcher
PD am Max-Planck-Institut

Flüchtlinge campieren unter freiem HimmelamHafenvon Mytilini aufder griechischen InselLesbos. PANAGIOTIS BALASKAS / NZZ
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