Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

Freitag, 6. März 2020 FEUILLETON 35


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Er stösst mit seinen Bauten öfters auf Unverständnis –


um Provokation geht es Roger Diener jedoch nieSEITE 39


Der Digitalisierung wird sich auch die Politik ni cht


entziehen können – das kann eine Chance se inSEITE 40


Ein Antidot gegen die Angst vor dem Virus:

hamstern statt jammern

Neunmal kluge Kommentatoren machen sich über leere Regale lustig. Zu Unrecht – der kluge Bürger sorgt vo r.Von Konrad Hummler


Der 29.Februar 2020 hat dasPoten-
zial, in die Geschichte einzugehen. Als
Schalttag wird man sich ihn ohnehin
gut merkenkönnen.Darüber hinaus
wird von diesem frühlingshaftenTag
erzählt werden, dass zum ersten Mal
seit der Ölkrise imJahre1973 Gestelle
mit Grundnahrungsmitteln wie Mehl,
Teigwaren und Erbsen in den Schwei-
zerLäden leer standen.Ausgeräumt bis
auf die letztePackung und Büchse. In
kürzester Zeit.
Nun ja, die Leute wollten sich ein-
decken.Aus Angst vor demVirus, das
nachWochen bedrohlicherAusbreitung
imFernen Osten nun auch in Europa
seinen anscheinend unaufhaltsamen Er-
oberungszug durch dieLänder hinein an-
getreten hat. Sars-CoV-2 hat sich in der
Lungeeiniger Mitmenschen festgesetzt–
und in denKöpfen von uns allen.


HochaktuellerSchiller


DerVorgang des Leerräumens von Ge-
stellen im Angesicht einer Gefahr wird
despektierlich «Hamstern» genannt.
Im ZweitenWeltkrieg gab es zu des-
senVorbeugung undVerhinderung die
Rationierungsmarken, mittels deren die
schweizerische Obrigkeit, fein säuber-
lich auf den mutmasslichen Bedarf aus-
gerichtet, denKonsum von Brot, Fleisch,
Buttersteuerte.
Im Kalten Krieg rief der Bund nach
Ablösung des etwas marktfernenRatio-
nierungsregimesregelmässig zum Hal-
ten eines Notvorrats auf und hatte
eigens zu diesem Zwecke sogar einen
Delegierten des Bundesrates ernannt.
Wer erinnert sich nicht an die Dosen
im atomsicheren Bunker? Bis1989 galt
dieRegel, frei nach SchillersWilhelm
Tell (wo Gertrud Stauffacher zu ihrem
Mann sagt): «Der kluge Mann (de facto
wohl: die noch klügereFrau) baut vor.»
Seit derWende von1989, in den Zeiten
derallgemeinen globalenVerfügbar-
keit sozusagen aller denkbaren Güter,
also im mutmasslichen Schlaraffenland,
trat der Gedanke der eigenverantwort-
lichenVorsorge jedoch immer mehr in
den Hintergrund.
Bis am Samstag, 29.Februar dieses
Jahres, an demTag,an dem sich plötz-
lich die Einsicht durchsetzte, dass mög-
licherweise ein wesentlicherTeil der Un-
bill, welche dieses Coronavirus über uns
bringen wird, von den Individuen und
Familien bewältigt werden muss. Ohne
wesentliche Hilfe von aussen oder eines
übergeordneten Kollektivs. Schillers
Lebensweisheit ist so akut wie lange
nicht mehr – jedenfalls ausserhalb der
Blase der Medien, die ihremkollekti-
vistischenReflex gehorchten und das
Hamstern unisono verdammten.
Nach dem heutigenWissensstand ist
davon auszugehen, dass über die nächs-
ten anderthalbJahre eineVielzahl von
unsamCoronavirus erkranken wird, wie
bei einem Influenzavirus. Wenn es ein
paar Prozent der Bevölkerung auf ein-
mal trifft, dann werden unsere Spitäler
nur noch die wirklich ernsthaftenFälle
behandelnkönnen.Jene Leute, die um
Atem ringen und mithin um ihrLeben.
Der grosseRest wird für sich selber sor-
gen, die Einrichtungen desKollektivs
werden sich auf das wirklichWesent-
liche beschränken müssen.


Die beamtenhafte Biederkeit


Aus übergeordneter, epidemiologischer
Sicht steht nicht mehrdieEindämmung
der Epidemie, sondern deren zeitliche
Verzögerung imVordergrund.Das Fas-
zinierende bei diesem intellektuellen
Paradigmawechsel liegt in der notwen-


digen Demut, die er von den Beteilig-
ten erfordert.
Typischerweise tun sichAutokra-
ten schwerer damit als bescheidenere
Inhaber von Staatsmacht. Vom chine-
sischen Staatsoberhaupt hört man seit
Wochen so gut wie nichts; zuvorkonnte
sich Xi Jinping nicht häufig genug in der
Öffentlichkeit präsentieren. Der japa-
nische Ministerpräsident Abeschlägt
demgegenüber argumentativ und be-

züglich Massnahmen wie wild um sich,
alskönnte er dasVirus damit erschla-
ge n.Daloben wir die hiesige, etwas be-
amtenhaft erscheinende Biederkeit. Sie
verschleudert das wertvolle Gut der
Glaubwürdigkeit nicht vorzeitig.
Zur Demut gehörtdie Anerkennung
der Problemlösung auf untergeordne-
ter Ebene. Wer kann dieAusbreitung
desVirus verlangsamen? Der hände-
waschende Bürger. Der grössereVer-
anstaltungen meidende Bürger. Der auf
törichteReisen verzichtende Bürger.

Der in sein Home-Office sich zurück-
ziehende Bürger-Arbeitnehmer. Der
Elternteil, der vorübergehend für seine
Kinder zu Hause bleibt, anstatt sie in die
Petrischale einer Kita zu stecken.

Nationalbankeninfiz iert


Ebenfalls zur Demut gehört die Ein-
sicht, dass sich das gesellschaftliche
Gleichgewicht generell zu stark in Rich-
tung vonkollektiven Lösungen und
Institutionen verschoben hat. So trägt
der öffentlicheVerkehr mit Sicherheit
mehr zurVerbreitung desVirus beials
der Individualverkehr. Die hedonis-
tische Eventkultur mit ihrer Inflation
öffentlicher Zusammenrottungen zu
unwesentlichen Zwecken hat dieVe r-
gnügungen in bescheidenerem, priva-
temRahmen verdrängt.Wir werden
über die nächsten Monate mehr Zeit zu
Hause zubringen. Die moderneTech-
nologie bietet genügend Möglichkeiten,
dass wir nicht vereinsamen, von Netflix-
Filmen bis zum Gruppen-Chat.
Nur: Den Vorrat braucht’s! Und
eigentlich nicht nurHörnli und Apfel-
mus ausKonservendosen; man kann sich
die Heimquarantäne durchaus etwas
reichhaltiger vorstellen. Im früher ge-
bräuchlichen Beamtendeutsch sprach
man von «Dauerwürsten» und meinte da-
mitLandjäger und Salametti.Die Ange-
botsvielfalt der globalisiertenWelt lässt
eine weitergehende persönlicheVorsorge
mit asiatischem und italienischem Ein-
schlag zu, sofern man darauf noch Lust
hat.Reisnudeln haltengefühlteine halbe
Ewigkeit und Oliven mindestens einJahr,

wenn man sie richtig lagert. Diese Ge-
stelle sind noch nicht leergekauft.
Möglicherweise kommt das Um-
denken weg vom Glauben an die über-
geordnet veranlasste Eindämmung von
Problemen und hin zusubsidiär, ja indi-
viduell wahrzunehmenderVerantwor-
tung geraderechtzeitig. Denn techno-
kratisches undkollektivistisches Gedan-
kengut hat den Glauben an die Mach-
barkeit virenfreier Zustände bereits viel
zu weitgetrieben.
Seit derFinanzkrise in denJahren
2008/2009 läuft die Geldpolitik der
massgebenden Notenbanken darauf
hinaus, jegliche aufkommendenrealen
Schwierigkeiten mit Liquidität auszu-
schwemmen. So wurden marode Staats-
haushalte «gerettet» und wieder kapi-
talmarktfähig gemacht, ja die Risiko-
prämien für Schuldner jeglicher Pro-
venienz und Bonität faktisch eliminiert
und Geld zum Nulltarif zurVerfügung
gestellt, um Projekte unbesehen ihrer
Zukunftsfähigkeit zu finanzieren und
zu ermöglichen.
Dieser ZustandvonWirtschaft, Staa-
ten und Gesellschaft ist weit davon ent-
fernt, ein natürlicher zu sein. Denn
wo eigentlich Knappheiten dieVertei-
lung vonRessourcen bestimmen soll-
ten, herrscht Überfluss; es gibt so etwas
wie eine hedonistischeFinanzierungs-
kultur für oftmals unwesentliche Zwe-
cke.Das ging bis heute und so lange
gut, als die GeldschwemmekeineTeue-
rung auszulösen in derLage war, weil
sich irgendwo in der globalisiertenWelt
immer ein noch günstiger anbietender
Produzent finden liess.

Die Krise um das Coronavirus hat
nun das Zeug, die diesbezüglichenVor-
zeichen zu verändern. Erstmals seit 40
Jahren könnte sich durch einereale
Güterverknappung wieder die Idee
vonTeuerung und Inflation insSystem
einnisten und um sich greifen, wie das
uns das neuartige Halblebewesen der-
zeit vormacht.VieleFabriken in China
stehen nach wie vor still. Die Zuliefe-
rung in die Nachbarländer, nach Europa
und in die USAstockt.Für vieleLän-
der macht sie 30, 40 und mehr Prozent
aus. DieVersorgungslücke ist zumTeil
schwer zukompensieren, da entspre-
chende Produktionskapazitäten ausser-
halb Chinas schlicht inexistent sind.
Das kann lediglich zu einerkonjunk-
turellen Delle führen. Ebenso wahr-
scheinlich ist aber ein tiefergreifender
Wandel derWeltwirtschaft hin zu wie-
derum vermehrterLagerhaltung («Not-
vorrat») bei denFirmen, zu höhererRed-
undanz, wie sie Nassim NicholasTaleb
schon lange fordert, und zu besserer geo-
grafischer Diversifikation hin.Das wird
allerdingsKostenfolgen haben. Die Zei-
ten tieferund immer tieferer Preise wäre
dann vorbei.Wir hätten dann längst mit
demVirus leben gelernt – aber dieWelt
wäre doch eine andere geworden.
Dann ständen wir an einem Punkt,
an dem das Coronavirus daskollekti-
vistische Instrument der Notenbank in-
fiziert und besiegt hätte. Weil nämlich
jegliche zusätzliche Liquiditätsversor-
gung der Idee derTeuerung noch zusätz-
lichen Nährboden verschaffen würde. In
derKonsequenz würde ein Crash an den
Obligationenmärkten dasFinanzsystem
in die ultimative Krise versenken. Am
Ende stände die demütige Einsicht, dass
«whatever it takes» (Draghi) ein zutiefst
unökonomischer Irrtum gewesen war.

Die andereAnsteckung


Das Nachdenken über das um sich grei-
fende Sars-CoV-2 mag allenthalben den
einen oder anderenFiebertraum aus-
lösen.Weltgericht oderWeltuntergang
sind in Seuchenzeiten wohlfeile Meta-
phern. Über möglicheParallelen vonPan-
demie und krankerWeltwirtschaft nach-
zudenken, scheint gleichwohl legitim.
Um dasVirus nicht in unsere Lungen
undKöpfe zu lassen, helfen Hände-
waschen und ein beruhigenderNotvor-
rat. Das Weltwirtschaftssystem hingegen
hat sich gerade angesteckt.Wie robust
seine Abwehrkräfte sind, muss es erst
noch beweisen.

EineVergangenheit, die wiederkehrt? Eine jungeFrau bezahlt imJahr 1943 mitRationierungsmarken. PHOTOPRESS / KEYSTONE

Erstmals seit 40 Jahren
könnte sich durch eine
reale Güterverknappung
wieder die Idee von
Teuerung und Inflation
ins System einnisten.

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