Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

Freitag, 6. März 2020 FEUILLETON 37


Die Zukunft ist weiblich


New Yorks Kunstsze ne ist fest in Frauenhand: Das ze igt sich an innovativen Messeformatenwie der Armory und der Independent


PHILIPP MEIER, NEWYORK


Man sagt, Lachen sei ansteckend.
Marina aber verkneift sich dasLachen.
Allenfalls ist das ein müdesLächeln,
das sie für uns übrig hat. DerAnflug
einer Sorgenfalte ist auch auszumachen.
Denn die gegenwärtiggrassierende An-
steckungsgefahr ist nicht unbedingt zum
Lachen. Insbesondere an Grossveran-
staltungen wieKunstmessen mag sie
besonders virulent sein.
Davon allerdings spürt man nichts
während der New Yorker Armory
Week (bis 8. März). Die vielenKunst-
messen in der Stadt sind vollgepackt
mit Menschen, sowohl dierenommierte
Modernemesse Armory selber auf den
Piers am Hudson River als auch diePar-
allelmessen und Galerievernissagen in
ganz Manhattan. Niemand lässt sich die
Eröffnung derJulian-Schnabel-Schau
im neuerrichtetenKunst-Tempel der
Pace Gallery in Chelsea entgehen. Und
dieParty der Armory Show im MoMA
sowieso nicht. Schon gar nicht Marina.
Denn mindestens so ansteckend wie
das Coronavirus ist dieserTage im Big
Apple dieKunst.
Und ansteckend sind vor allem auch
die Blicke auf Marina.Wie oft erlebt
man an Messen, dass sich plötzlich eine
Menschengruppe um einen bildet, so-
bald manvor einemWerk etwas länger
verweilt und sich zu dem daneben ange-
brachten Schildchen vorbeugt:«Marina»
steht da drauf, gemaltvonChantalJoffe.
Das an Marina bekundete Interesse am
Armory-Stand der LondonerVictoria
Miro Gallery lockt andere Besucher an.
Wenn BlickeViren übertragenkönnten,
wäre es um Marina bald geschehen. Hat
sie ihre Hände in den Schoss gelegt, da-
mit sich dakeineAugen verirren?


Marina contra Thérèse


Aber halt. Marina ist nichtThérèse und
nicht vonBalthus gemalt. Ihr Bild fällt
nämlich deswegen auf, weil es sozu-
sagen die Antithese darstellt zu jenem
vorJahren mit harscher Kritik bedach-
tenWerkim NewYorker Metropoli-
tanMuseum.Man erinnert sich: Bal-
thus’ Mädchen, dessen hochgerutschtes
Kleid den Blick auf Unterwäsche frei-
gibt. Seit #MeToo haben sich dieZeiten
eben geändert in NewYork, erstrecht
seit derVerurteilung von HarveyWein-
stein. Und Marina ist jung, sie weiss,
dass ihr das Coronavirus nichts anha-
ben kann. Gefährlich wird es höchstens
alten Männern. Deren Blickeaber er-


widert sie mit Gelassenheit. Schliesslich
ist sie gemalt von einerFrau.
Und wie sich die Zeiten geändert
haben: Heute dirigierenFrauen wie
Marina oder eben ChantalJoffe die
Kunstwelt. Nachdem der vormalige
Direktor Ben Genocchio wegenVo r-
würfen sexueller Belästigung denPos-
ten hatte verlassen müssen, war es
Nicole Berry, die das Zepter der Armory
Show übernahm. Sie ist Quereinsteige-
rin undkennt das Messe-Burnout-Syn-
drom, über das Galeristen klagen, aus
eigener Erfahrung. Sechs Ja hre lang
warsie Lehrerin an einer Grundschule,
bevor sie insKunstgeschäft wechselte.
Sie verliess ihren ersten Beruf und mit
ihm gleich auch ihren ersten Ehemann.
Nichtskonnte sie zurückhalten,etwas
völlig Neues zu beginnen.
So hat sie auch das Messeformat
der Armory umgekrempelt. Die wilde
Durchmischung von junger und eta-
blierterKunst fängt sie auf durch kura-
tierteSektoren. Schwergewichte wie die
Galerien Gagosian oder Kasmin sind
zurückgekehrt. Und weitereVerände-
rungen schweben Nicole Berry vor, um
die Armory zukunftsfähig zu halten.Da-
bei hat sie nicht zuletzt das unkonven-
tionelleFormat derKonkurrenzmesse
Independent vorAugen, die dieserTage
in den Spring Street Studios im angesag-
ten NewYorker Galerien-QuartierTr i-
beca über die Bühne geht.

Pioniergeist an der Independent


Denn seit ihrer Gründung 2010 hat die
Independent auf denKopf gestellt, was
man sich unter einerKunstmesse vor-
stellt. Sie gilt als «hybrid», als «Mave-
rick». Und auch sie ist von einerFrau ins
Leben gerufen worden. Als Elizabeth
Dee dieser Zeitung vorJahren ihrKon-
zept vorstellte, wurde klar, dass nicht
mehr länger die Galerien imVorder-
grund stehen würden,sondern – einer
Biennale ähnlich – allein dieKunst.
Die Independent machtihrer Be-
zeichnung alle Ehre. Es gibt keine
Messestände, und die beteiligten Gale-
rien erhalten Zugang nur durch Ein-
ladung. Die Schau nimmt sich aus wie
eine kuratierte Museumsausstellung.
Solcher Pioniergeistgefällt auch Schwei-
zer Galeristinnen wie Eva Presenhuber
oderFrancesca Pia sowie KarolinaDan-
kow und Marina Leuenberger von der
Galerie Karma International. Sie alle
lassen sich hier – eben ganz wie Marina


  • den Spass an derKunst nicht verder-
    ChantalJoffe: «Marina», 2014, Öl aufLeinwand.Am Armory-Stand derLondoner GalerieVictoria Miro. VICTORIA MIRO ben, denn ihnen gehört die Zukunft.


Die Königin der Kunstmessen gibt sich souverän


Der royale Anspruch der European Fine Art Fair (Tefaf) verbietet eine Absage – in Maastricht bewahrt man Ruhe und feiert die Kunst


ANNEGRET ERHARD, MAASTRICHT


In Maastricht bewahrt man Haltung
und lässt sich von den Irritationen der
Zeitläufte nichtbeeindrucken. Mögen
die anderen (Leipziger Buchmesse und
zahlreiche weitere Grossveranstaltun-
gen) sich den vermeintlichen Katastro-
phen beugen. Derroyale Anspruch der
EuropeanFine ArtFair (Tefaf) scheint
eine Absage zu verbieten.Vielleicht
aber auch die sehr profaneTatsache,
dass die internationalenAussteller samt
Tr oss undkostbaremVerkaufsgut schon
längst vor Ort sind.
Zur Eröffnung derTefaf hatten die
knapp 280Aussteller das überaus pro-
fessionelleVetting-Verfahren hinter sich.
DieAuflistung derJury-Mitglieder liest
sich wie einWho’s Who derrenommier-
testen Spezialisten aus der Museums-
undFachwelt. DerAufgalopp zur ele-
gantenVernissage, ein Stelldichein wich-
tiger Sammler, Kuratoren undKunst-
vermittler, fiel naturgemäss ein wenig
verhalteneraus; diekürzlich eingeführte
entzerrendeAufteilung in zweiVernis-
sagen («EarlyAccess» und «Preview»)
an aufeinanderfolgendenTagen hätte
sich für dieses Mal erübrigt; vor allem


di e amerikanischen Museen wie Me-
tropolitan und Getty haben ihre sonst
sehr ergebnisreichen Besuche vonKura-
toren undTr ustees abgesagt. Schon vor
einigenJahren hat dieTefaf mit jähr-
lich zwei – inzwischen erfolgreichen –
Ableger-Veranstaltungen in NewYork
der zunehmend eingeschränktenReise-
lust amerikanischer SammlerRechnung
getragen.

Ein Millionen-Bildvon Degas


Doppelt spannend wird es für dieAus-
steller, die sich entschlossen haben,
erstmals dabei zu sein. Unter ihnen
Langeloh ausWeinsheim (Porzellane
und Fayencen des 18. Jahrhunderts),
der sein hundertjähriges Bestehen mit
einer erstenTefaf-Teilnahme krönt. Lis-
son (NewYork, London, Schanghai)
nutzt dieTefaf-Ausrichtung in Rich-
tung Gegenwartskunst mit einer aktu-
ellen, gewohnt minimalistischen Lein-
wand von LeeYufan (500 00 0 Euro);
kleinerePorzellanarbeiten desKorea-
ners gibt es bei Hyundai(Seoul). Con-
tinua (San Gimignano mitNiederlassun-
gen inPeking, Havanna usw.) widmet
das Maastricht-Debüt dem Bildhauer

Antony Gormley mit einer Solo-Präsen-
tation. Colnaghi (London, NewYork),
einer der ältesten Antiquitätenhändler
weltweit, hat eine neuePartnerin (Victo-
ria Golembiovskaya), die das Programm
neuerdings mit antiken Skulpturen und
klassischer Moderne ausweitet.
Die Newcomer in der Sektion «Show
Case» hätten sich ihre Premiere weniger
von Ängsten,Vermutungen und Unwäg-
barkeiten überschattet gewünscht, profi-
tieren jedoch von den vorteilhaften Be-
dingungen, die dieTefaf dem Nachwuchs
gewährt: Die alle Betriebsausgaben um-
fassendeTeilnahmegebühr beträgt für
sie 8500 Euro (diereguläre Standgebühr
beläuft sich auf etwa 12 000 Euro plus
Nebenkosten pro Quadratmeter).Das
lässt sich durchaus stemmen, erstrecht,
wenn damit die Nachbarschaft welt-
weit bedeutender Player imKunst-und
Antiquitätensektor gewährleistet ist und
einen prima Abglanz derAufmerksam-
keit verspricht.
Diese wiederum geben sich grösste
Mühe, dem Anspruchdes Rufs der
Tefaf, ein Museum auf Zeit, in dem man
die Exponate kaufen kann, zu genügen.
Etwa mit einem Gemälde vonvan Gogh
aus demJahr1885 für 15 Millionen

Pfund, das, noch der Haager Schule ver-
bunden, die ersten nervös-expressiven
Anklänge und Nuancen seiner entschei-
denden künstlerischen Entwicklungs-
phase zeigt (Dickinson,London). Oder
einem Degas-Gemälde mit drei Tän-
zerinnen im gelbenTutu aus demJahr
1891,dessenPreis die Galerie Hammer,
NewYork, mit «North of theRecord»
angibt. Der Rekordpreis für einen
Degas liegt mit 37 Millionen Pfund in-
zwischen schon eine ganzeWeile zurück
(Sotheby’s, 2008).
Zwischen einigermassen bodenstän-
digen 10 000 und175 000Pfund sind
bei Ongpin, London, die Zeichnungen
vonAdolph Menzel angesetzt, eine in
Umfang und Qualität seltene Beispiel-
sammlung von 38 Blättern des ebenso
unermüdlichen wie selbstkritischen,
stets suchenden und sich erprobenden
Künstlers, in dessenWerk sichAusdruck
undVirtuosität anschaulich und zeitlos
verknüpfen.

Zwischen Himmelund Erde


Und die alteKunst? MeinFavorit: Ein
Männchen, das auf der obersten Sprosse
einer aufrecht stehenden Leiter hockt,

vielleicht kauert. DiereduzierteKör-
persprache suggeriert Wachsamkeit,
List, sanftenTr iumph, auch Beschei-
denheit.Von allem ein bisschen. Man
weiss nicht, woher die etwa 25Zenti-
meter hohe Bronze stammt,schreibt sie
der frühen Eisenzeit, dem zweitenJahr-
tausendv. Chr., und einer nicht näher zu
eruierenden Gegend inWestiran (Luri-
stan) zu. Mindestens genauso geheimnis-
voll ist die narrative Zuordnung der glei-
chermassen poetischen wie modern an-
mutenden Plastik, die aus einer nicht ver-
schriftlichten Epoche stammt. Siekönnte
im rituellen Gebrauch dieVerbindung
von Erde und Himmel (Göttlichkeit)
symbolisieren. Siekönnte aber auch
einen equilibristisch begabten Akro-
baten darstellen, der, wie es lautFor-
schungsberichten vorgeschlagen wird, als
nomadischer Artist umherzog und höfi-
schen Gesellschaften seineKunststücke
zur Belustigung vorführte.
DiesesFigürchen mit seiner leben-
dig modernenAusstrahlung gefiel schon
denBarbier-Muellers. Jetzt ist es am
Stand vonKevorkian (Paris) zu haben.
Zumvageverorteten und damit passend
kryptischen Preis zwischen 100 000 und
50000 0 Euro. (Bis15. März.)
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