Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

Freitag, 6. März 2020 FEUILLETON 39


«Das Neue, in dem die Geschichte fortlebt»

Wie die Spuren der Geschichte gesichert werden können, besprach der Architekt Roger Diener mit Sabine von Fischer


Herr Diener, bevor wir über einzelne
Arbeiten reden, eineFrage vorab:Wann
darf Architekturauffallen?
Es gibt immerBauwerke,die das be-
sondereAugenmerk verdienen und als
etwas Besonderes auffallen. Es sind
die Monumente, die eine Stadt prägen:
Bahnhöfe, Rathäuser, Museen, Markt-
hallen und Kirchen. Als Orientierungs-
punkte gehören sie zu auffälligen öffent-
lichenRäumen: grosse Plätze oder viel-
leicht Boulevards. Diese Gebäude und
Räume erscheinen im Stadtplan, den
jederin seinemKopf hat.


Also gibt es auch Orte, an denen Archi-
tektur nicht auffallen soll?
Ja, beispielsweise wenn ein Haus zu er-
setzen ist, das alsTeil einer zusammen-
hängenden Strassenfront errichtet wor-
den ist.Dastelltsich dieFrage ganz
anders, hier geht es um das Einpas-
sen und die Integration in gewachsene
Strukturen und Hierarchien.


Sie haben Entwürfe abgegeben, die vor-
schlagen, gar nichts zu machen. So in
Zürich vor einigenJahren für dasKon-
gresszentrum und früher schon für den
Schlachthof. Wa ren das Statements oder
doch ernst gemeinteBeiträge, mit denen
Sie dasVerfahren gewinnenwollten?
Sie waren absolut ernst gemeint, die
Abgaben des Entwurfs waren vollstän-
dig und vor allem:Wir haben nicht vor-
geschlagen, nichts zu tun, sondern Be-
stehendes nicht unnötigerweise durch
Neues zu ersetzen. Im Umgang mit
Monumenten, die ertüchtigt werden müs-
sen, auch wenn sie in ihrem originalen
Gebrauch obsolet geworden sind, stellen
sich uns schwierige, aber auch aufregende
Fragen. Beim erstenWettbewerb für das
ZürcherKongresszentrum haben wir in
unserem Entwurf das bestehendeKon-
gresshaus der Architekten Haefeli Mo-


ser Steiger erhalten und vorgeschlagen,
es auf der anderen Strassenseite zu er-
weitern. So wäre derBau auch mit den
damals gestellten Ansprüchen an grosse
Säle zu vereinbaren gewesen.Wir wur-
den dann wegen Übertretung des Pro-
gramms ausgeschieden und erst später,
alsResultat eines zweitenKonkurrenz-
verfahrens, in einer Arbeitsgemeinschaft
mit Boesch Architekten, mit der Ertüch-
tigung des Bestands beauftragt.


Und der Schlachthof?
Von der Stadt beauftragt, einenWettbe-
werb für die Nachnutzung des Schlacht-
hofs alsKulturzentrum für das Letzi-
quartier vorzubereiten, haben wir den
Entscheid hinterfragt, einen neuen
Schlachthof an einer anderen Stelle, in
einem peripheren Industriegebiet, zu
bauen. Es hat sich dann gezeigt, dass
es viel klüger war, den bestehenden
Schlachthof zu ertüchtigen.


Sie habensich mit Erfolg in beidenFäl-
len derAufgabenstellung widersetzt.
Beide Gebäude stehen heute noch.
Wir sehen das nicht alsWiderstand.Wir
habennachgefragt, ob dieseBauwerke
wirklich obsolet sind. Es istunsereAuf-
gabe, einzuschätzen, wasBauten für
eine Gesellschaft leisten oderzuleis-
ten vermögen.


An anderen Orten haben Sie die Spuren
des Nationalsozialismus und des Zwei-
ten Weltkriegs sichtbar belassen:Bei den
Gebäudefragmenten des Gauforums in
Weimar und deszerbombten Ostflügels
des Museums für Naturkunde inBerlin
haben Sie vorgeschlagen, nicht alle Spu-
ren zu beseitigen. Wa s bedeutet es, Schä-


den sichtbar zu machen und auch das
Kaputte in einer Stadt zu erhalten?
Die Identität der europäischen Stadt
schöpft sich nach wie vor aus ihrer Ge-
schichte und ihrer immerwährenden Er-
neuerung. Im 20. und 21. Jahrhundert
haben viele Städte enormeVerwandlun-
gen erfahren, uns fasziniert dieTiefe der
Stadt, die sich aus dieser Geschichte er-
gibt.Wir sehen jeden Entwurf in diesen
langfristigen grossen Prozessen der Stadt-
entwicklung eingebunden,auch über uns
hinaus. Wir sehen aber auch, wie die Spu-
ren oft zumVerschwinden gebracht wer-
den. Infolge der ungehemmtenTr ans-
formation durch die Moderne und der
aktuellen gesellschaftlichen Notwendig-
keit vonVeränderungen ist dieKontinui-
tät von Geschichte fragil geworden. Das
Unfertige wie das Zerstörtekonfrontie-
ren uns mit derFrage, wie unsere Inter-
vention nicht einfach das Alte besiegeln
und etwas Neues darüber setzen, sondern
mit der vorhandenen Geschichte operie-
ren kann. So gesehen sind schon Spuren
des Gebrauchs oder der Geschichte eine
Quelle für etwas Neues, in dem das Alte
fortleben kann.

Die Tiefe der Geschichtezeigt sich dann
am Bauwerk in Narben und Bruchstellen.
Genau.Auch darin. Manchmal geht es
mehr um den Erinnerungswert, weniger
um den ästhetischenWert eines Denk-
malbestands. BeimWettbewerb für das
Gauforum inWeimar glaubten wir, dass
es einenanderenWeg geben muss: Man
kann aus dieser monumentalenVer-

sammlungshalle eines der furchtbars-
ten Zeitalter undRegime doch nicht ein
Shoppingcenter machen lassen. DerVo r-
schlag, anstelle dieses Einbaus das Shop-
pingcenter in einer neuen Halle davor
zu setzen, war nicht städtebaukünstleri-
schen Erwägungen geschuldet.Wir plä-
dierten dafür, dieRuine auf den unvoll-
endeten Zustand, wie er aus Nazideutsch-
land dastand, zurückzubauen. Es ging uns
im traditionellen Sinn um ein Denkmal,
das dieseGeschichte nicht vergessen lässt.

Sie zwingen die Leute, sich zu erinnern.
Das Museum für Naturkunde inBer-
lin wurde mit Preisen ausgezeichnet.
Doch viel öfterwar Ihr Büro mit hefti-
gen Reaktionen konfrontiert,so bei der
SchweizerBotschaft inBerlin.
Reden wir nicht:Wer fand es gut, oder
wer schimpft?– Reden wir doch von Ge-
schichte, die in ganzeVölker hinein ver-
nichtend gewirkt hat. An das hat mich
das altePalais vis-à-vis desReichstags
erinnert, als ich es kurz nach derWende
zum erstenMal gesehen habe, und an
diesesVerhängnis sollte auch diereno-
vierte und erweiterteschweizerische
Botschaft im alten Stadtpalais weiter-
hin erinnern. Gerade jetzt, da dieletz-
ten Zeugen sterben, da die Geschichte
bereits wieder umgedeutet werden soll,
ist es wichtig, die Spuren nicht zu ver-
wischen. Die Architektur der schweize-
rischen Botschaft in Berlin, dasPalais
und seine Erweiterung, ist nicht so ein-
fach wegzudeuten oder wegzuzähmen.
In dieseTiefe wollten wir vordringen.

Das erfordert Sensibilität.
Natürlich, Steine schreien nicht.

Ein Projekt in Zürich hat besonders pola-
risiert,weil esanders als die Nachbar-
bauten ist, nämlich das derSwiss Re.
In diesem Prospekt historischerParks
und grosserBauten am Mythenquai
wollten wir mit Licht arbeiten und nicht
mit der Masse von Stein oder von Be-
ton.Das monumentale Moment ent-
stehtausTr ansparenz und Spiegelungen.
Wir wollten das Licht tief ins Haus füh-
ren. DieWellung der Glasfassade mar-
kiert nicht eine städtischePosition, son-
dern istTeil derLandschaft; manchmal
dunkelgrün wie der Üetliberg im Hinter-
grund, manchmal hell wie die Seeoberflä-
che. Sich anpasserisch zu verhalten, hätte
der Stadt nichts hinzugefügt für ein Mor-
gen. Mit den Glaswellen wollen wir auch
einen Bruch und zugleich dieVerbindung
mit den ersten neoklassizistischenBauten
hier vergegenwärtigen. Die Naturgewal-
ten sind dennauch dieThemen, mit denen
sichSwissRein diesem Haus beschäftigt.

Eine verfremdete Natur in die Stadt zu
setzen, ist eine anspruchsvolle Idee.
Bestimmt, das Haus hat viele Aspekte.
Dass es sich fast auflöst, je nachdem,
von welcher Seite manesbetrachtet, ist
Teil seinesAusdrucks. Wir hören skep-
tisches und begeistertes Echo. Ich habe
zuSwissReeineneinzigen negativen
Artikel gelesen. Dieser erschien, bevor
das Haus fertiggestellt war. Kontrover-
sen haben wir jedoch in Berlinerlebt.

Was in Zürich passiert ist, war marginal.
Es ist nicht vergleichbar mit der Dimen-
sion der Kritik, mit der wir inBerlin
konfrontiert waren.

In Berlin hat erst derBeton provoziert,
dann später der besondere Einsatz von
Glas. Mit Ihrer Art, Materialien einzu-
setzen, haben Sie sich quasiantizyklisch
verhalten: Als die gläserneVorhangfas-
sade en voguewar, haben Sie sich mit
steinernen, schweren Häusern befasst.
Erst später begannen Sie auf eine eigene
Art, die Schwere und Leichtigkeit,auch
die Bewegung von Glas auszuloten.
Das erste Mal, dass wir eine ondulierende
Glasfassade vorgeschlagen haben, war für
dieRestrukturierung desPergamon-Mu-
seums in Berlin vor zwanzigJahren, für das
Eingangsgebäude amKupfergraben. Die
rhythmisiertenWellen sollten ein einziges
Stück Architektur mit den Exponaten bil-
den. Die Besonderheit des Museums sind
die antiken Grossarchitekturen im Piano
Nobile. DieWellenstehen in diesem Ent-
wurf in suggestiver Beziehung zu den anti-
ken Stützen derAusstellung mit Kannelu-
ren und zylindrischen Schäften.Wir haben
den zweiten Preis bekommen.Das Projekt
istTeil einer Suche, die Hüllen,Vorhänge
oderVerkleidungen mit Glas zum Gegen-
stand hat. In vielen Entwürfen wie inBa-
den (ABBPowerTower, 1999 bis 2002),
Malmö (Universität, 2003 bid 2 00 5) und
Basel (Markthalle-Turm, 2007bis 2012)
haben wir gläserneFassadenrealisiert.
Manchmal liegen grosse Abstände dazwi-
schen. UnsereRecherchen in der Archi-
tektur dauern lange, sie sind nicht Gegen-
stände von einer Mode imBauen.

Ihr Werdegang ist tief mitBasel verbun-
den. Sie haben die Stadt mit zahlreichen
Bauten mitgeprägt und sich hier breit
für dieBaukultur engagiert.Können Sie
sich vorstellen,in einer anderen Stadt als
Basel zu leben?
Migration ist heutemehr denn jeTeil der
Gesellschaft. Sokönnte auch ich in einer
anderen Stadt leben. Oft weilen meine
Frau und ich in London oder inRom.
Meine Biografie als Architektist jedoch
tief mitBasel verwurzelt. Hier habe ich
zum ersten Mal Häuser betrachtet und
zu verstehen versucht, und hier arbeite
ich nunmehr seit vielenJahren mit mei-
nenKollegen an unseren Entwürfen und
Projekten.Das allesprägt mich bis heute
und schliesst jeden Gedanken an eine
Identität an einem anderen Ort aus.

«Es ist unsere Aufgabe,
einzuschätzen,
was Bauten
für eine Gesellschaft
zu leisten vermögen.

Erstarrte Schwingungen am Hauptsitz derSwiss Re in Zürich. WALTER MAIR Roger Diener feiert seinen siebzigsten Geburtstag. SIMONTANNER / NZZ

Er verleiht den städtebaulichen Regeln Poesie – nun wird ersiebzig


svf.· Seit1980 führtRoger Diener das
Architekturbüro Diener & Diener, an-
fangs gemeinsam mit seinemVater Mar-
cus Diener, der dieFirma1942 inBasel ge-
gründet hat. DreiPartner unterstützen die
zahlreichen, teilweise grossen Projekte,
seit1998 gibt es in Berlin ein Zweigbüro.
Mitkontextbezogenen und bei aller
Zurückhaltung dezidiert skulptural ge-
formtenBauten situierteRoger Diener
das Büro zuerst im aktuellen Architek-
turgeschehen der Schweiz, dann interna-
tional. Er lehrte an der EPFLLausanne,
der Harvard University, derETH Zürich
und an weiteren europäischen Universi-
täten, daneben ist er Mitbegründer des
Architekturmuseums inBasel. Seit 2013

ist er Mitglied der EidgenössischenKom-
mission für Denkmalpflege und seit 20 18
auch der Denkmalpflegekommission der
Stadt Zürich. Für sein breites kulturelles
Engagement wurde ihm 2019 derKultur-
preis der StadtBasel zugesprochen, der
so zum erstenMalan einen Architekten
verliehen wurde. DieBauhaus-Universi-
tät inWeimar verlieh ihm im selbenJahr
die Ehrendoktorwürde und würdigte
damit die besondere Haltung, die sein
Œeuvreauszeichne. «Wenn dieAufgabe
selbst eine besondere ist», heisst es in der
Laudatio, «erscheinen seineBaukörper
verstörend gewöhnlich.»Das Buch «Das
Haus und die Stadt» (1995) prägte zwei
Generationen von Architekten. Die Idee,

dass eine moderne Architektur sichge-
sellschaftlichenKonventionen zumTr otz
an einem städtischenRegelwerk ausrich-
tet, wurde in diesem Buch zum Massstab
der architektonischen Qualität der Pro-
jekte von Diener & Dienererklärt.
Roger Dieners Häuser wollen in ihrer
politischenAuffassung von Architektur
als Geschichte die poetische Kraft eines
Ortesrealisieren und verpflichten sich
dabei einemRealismus, der sich nicht
mit wandelbarenFormen zufriedengibt.
So hat ereine Handschrift erarbeitet,
dienie aufgeregt, aberimmer aufmerk-
sam um den Zusammenhalt des städti-
schen Gefüges besorgt ist. Am7. März
wird er siebzigJahre alt.
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