Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

40 FEUILLETON Freitag, 6. März 2020


Wikinger


in 29.Generation


Die genealogische Neugier
der Isländer ist nicht zu stil len

ALDO KEEL

Als kürzlich Hildur Gudnadottir für die
Musik zumFilm «Joker» den Oscar er-
hielt, erforschten «Tausende Lands-
leute» ihr verwandtschaftliches Ver-
hältnis zurKomponistin, wie die Zei-
tung «Morgunbladid» berichtet. So auch
der Komiker und AltbürgermeisterJon
Gnarr, der twitterte: «Bin stolz auf dich,
li ebe Base.» Island zählt gerade einmal
364 000 Einwohner, und irgendwie ist
jeder mit jedem verwandt. Da erstaunt
es nicht, dass alle Minister und die Ki-
cker der Nationalmannschaft – so Histo-
riker des Genforschungszentrums – von
ein und derselbenFrau, der Magd und
Geliebten des ruhmreichen Bibelüber-
setzers und Bischofs GudbrandurThor-
laksson (1541–1627), abstammen.

Paradies der Genealogen


Als Island1874 den tausendstenJahres-
tag der Besiedlung feierte, besuchte erst-
mals ein dänischerKönig die Insel,deren
Bewohner seine Untertanen waren–
«ei n Spross des niederen deutschen
Adels», spottet HalldorLaxness imRo-
man «Das wiedergefundeneParadies».
«Und obwohl die Isländer dieWürde,
welche dieDänen diesemAusländer mit
demKönigstitel verliehen hatten, ge-
hörig schätzten,war es doch fraglich, ob
dieserKönig je in seinem Leben einer
Schar von Leuten begegnet war, die ihn
hinsichtlich derAbstammung für so weit
unter sich stehendansahen, wie es die
rachitischen Gestalten in ihren verbeul-
ten Schuhen taten, die hier von einem
Bein auf das andere traten.»
In denelf Jahrhunderten seit der Be-
siedlung lebten etwa eine Million Men-
schen auf der Saga-Insel. Sie waren nie
ein Volk ohne Buch. Für Genealogen ist
Island einParadies. Weltweit einzigartig
ist dasDatenmaterial, das seit 1997 vom
Genforschungszentrum digitalisiert und
in Anspielung aufein Geschichtswerk
des12. Jahrhunderts«BuchderIsländer»
genannt wird. 900 000 Landsleute sind
bereitsverz eichnet, 95 Prozent der nach
1703Geborenensinderfasst.DieStamm-
bäumedienenebensowiedieseitsechzig
Jahren geäufnete Gewebebank mit Pro-
ben von Leichen und Kranken und die
seit 1915 gesammeltenKrankenaktender
Genforschung. Die genetische Einheit-
lichkeit der Bevölkerung, eine Folge der
jahrhundertelangenIsolation,erleichtert
dasAufspüren von Risikogenen.

Achtung, Inzest


Im Mittelalter segelten Isländer nach
Amerika undKonstantinopel.Danach
besassen sie aber bis 1915 keine see-
tauglichen Schiffe mehr. Unter diesen
Bedingungen war Inzest nichts Unge-
wöhnliches. NachdemVulkanausbrüche
und Hungersnöte die Bevölkerung dezi-
miert hatten,belegte das16. Jahrhundert
Inzest bis ins siebte Glied mit drakoni-
schen Strafen.25 M änner und 25Frauen
wurden alsbald hingerichtet, die Män-
ner wurden geköpft,die Frauen ertränkt.
Das Blutschandegesetz verlieh der
AhnenforschungAuftrie b. Das Er stellen
von Stammbäumen war ein angesehenes
Metier und wurde von Generation zu
Generation weitergegeben. Heute sind
es dieJungen, die das «Buch der Islän-
der», eine der beliebtestenWebsites des
Landes, zu Rate ziehen.Auf derDaten-
bank beruht auch die Smartphone-App,
die es Interessenten erlaubt, herauszu-
finden, ob und wie sie mit ihrem poten-
ziellen One-Night-Stand verwandt sind.
«Bump in the app before you bump in
the bed», lautet die Devise.
Herkunft ist alles. Vor einigenJahren
hielt ein Nachbarschaftsstreit die Nation
in Atem. EinBauer hatte mit demTrak-
tor den Hund des Nachbarn überfahren.
Der Mann setzte sich inPositur, indem
er seineAhnenreihe veröffentlichte, die
ihn als Nachfahren in 29. Generation
des gloriosenWikingers und Skalden
Egill Skallagrimsson(910–990) auswies.
Jedes Kindkennt Egill.Laxness preist
ihn schon im ersten Satz desRomans
«Gemeindechronik» als«Volkshelden
und Dichterfürsten Islands».

Das wäre digitale Demokratie


Wo die Politik der Repräsentati on versagt, könnten bald Algorithmen das Sagen haben.Von Miriam Meckel


Die Bildung einerRegierung wird in
unseren parlamentarischen Demokra-
tienzunehmendzumSchauspiel,zurTra-
gödie, zuweilen zurFarce. Natürlich zäh-
lenKompromisseundKoalitionenseitje
zumInstrumentariumpolitischerMacht-
erhaltung. Doch was wir nördlich oder
südlich der Alpen beobachtenkönnen,
hat eine neue Qualität.Da wird das poli-
tischeSystem als das vorgeführt, als was
esinzwischenvielesehen:einenSchatten
seiner eigenen Bestimmung, die darin
bestünde, den Volkswillen zurepräsen-
tieren undFrieden auf Zeit zu schaffen.
DieVorkommnisse inThüringen,Ita-
lien oder Israel sind ein Beispiel für die
Verkommnisse der politischen Ordnung,
die den Staat ausmacht. Sie sind auch
ein konkretes Signal, dass man sich auf
gravierendeVeränderungen des politi-
schenSystems einstellen muss. Doch wo
die analoge politische Gestaltung des
Staatswesens versagt, da wird dieTech-
nologie mit ihrem effizienten und agnos-
tischen Zugriff auf alle verwendbaren
Daten Schritt für Schritt übernehmen.


Die Gamification der Politik


Das ist ein Treppenwitz der Staats-
geschichte. Wird häufig vor dem Ein-
fluss derTechnologie, vor allem bei
Wahlen, als einem gefährlichen Spiel
gewarnt,könnte sich die Logik bald ge-
nau umgekehrt entfalten: Die von Men-
schen gemachtePolitik erweist sich als
neueForm von Gamification. Macht
wird zum Spiel, dessenRegeln den poli-
tischenWillen überlagern, der von den
Bürgerinnen und Bürgern ausgeht.
Das ist, zugegeben, nicht ganz neu.
Der Politikwissenschafter Ulrich Sar-
cinelli hat die Anfänge dieser Degene-
rationpolitischerRepräsentation be-
reits Mitte der achtzigerJahre als «sym-
bolischePolitik» beschrieben. Der US-
ÖkonomPaul Krugman sah uns 2017 im
«Zeitalter der Fake-Politik» angekom-
men.Der libertäre Internetunternehmer
Peter Thiel kommt gar zu dem Ergeb-
nis, dass «Freiheit und Demokratie nicht
mehr länger vereinbar» sind.
Ruhiger lässt sichkonstatieren: Das
parteipolitischeSystem ist immer ineffi-
zienter geworden. Es spiegelt an vielen
Stellen nicht mehr denWillen der Bür-
ger undkorrumpiert den Grundgedan-
ken, der dasWesen des demokratischen
Staates beschreibt:Das Volk übt die
Staatsgewalt aus. Bisher musste man das
irgendwie hinnehmen. DochTechnologie
könntehiermalganzanderswirkenalser-
wart et:al s Disruption der Degeneration.
In nahezu allen Lebensbereichen hat


Technologie in den vergangenenJahren
zu machen, um schneller auf veränderte
Rahmenbedingungenreagieren zu kön-
nen. Nur in der praktischen Umsetzung
von Demokratie durch Wahlen ist sie
noch immer nicht angekommen.Naiv ist,
werglaubt,dertechnologischeFortschritt
werdesichnichtauchdieEntscheidungs-
prozesse der Staatslenkung und -verwal-
tung zu eigen machen.Vielleicht ist das,
gemessen am heutigen Stand der Er-
kenntnis, nicht mehr Dystopie, sondern
Utopie der demokratischenRettung?
Der amerikanische Professor und Sci-
ence-Fiction-AutorIsaac Asimov hat in
der Kurzgeschichte «Franchise» (1955)
die früheVersion einer «elektronischen
Demokratie» entworfen. In dieser ent-
scheidet der zufällig ausgewählte Ame-
rikaner Normal Muller über die politi-
schen Geschicke des gesamtenLandes.
Ihm werdenFragen gestellt, und die


Antworten darauf werden mithilfe des
Computers Multivac ausgewertet und
auf dieWahlpräferenzen der gesamten
Bevölkerung hochgerechnet. Muller ist
stolz, dass durch ihn die amerikanische
Bevölkerung in dieLage versetzt wird,
«frei und ungehindert ihrWahlrecht aus-
zuüben». Algorithmische Prognostik er-
setzt individuelle Stimmabgabe.
So würde das heute sicher nicht aus-
seh en. Denn die technischen Möglich-
keiten derDatenauswertungreichen in-
zwischen viel weiter, als Isaac Asimov
sich das Mitte der fünfzigerJahre vor-
zustellen vermochte. Längst lassen sich
über Analysen vonTwitter-Daten, Goo-
gle Trends und anderen grossen digita-
len Datensätzen ziemlich genaue Pro-
gnosen darüber erstellen,wie Menschen
einkaufen, investieren und sichsonst so
verhalten.Auch Wahlausgänge lassen
sich vorhersagen.
So hat Univac 111, der erstekom-
merzielle Grosscomputer in den USA,
schon1952 aufBasis einer Stichprobe
von einem Prozent derWahlbürgerkor-
rekt den Erdrutschsieg Eisenhowers
vorhergesagt,während die meisten Um-
fragen Stevenson vorne sahen. Bei der
US-Präsidentschaftswahl 2016 sahen
fast alle Meinungsforschungsinstitute
Hillary Clinton vorne, die südafrikani-
sche Firma Brandseye sagte einenWahl-
si eg Trumps voraus.
Die Datenfirma analysiert per Algo-
rithmus weltweitTweets auf Stimmungs-
lagenhin und prognostizierte den Sieg
Trumps wieauch zuvor schon die Brexit-
Entscheidung der Briten.Obwohl längst
nicht alle betroff enen Bürger aufTwitter
unterwegs sind,erlauben die zugrunde
liegendenDatensätze erstaunlich prä-
zise Prognosen.
Eine algorithmischeWahl, gestützt
auf dieRechen- und Prognosekapazi-
täten künstlich intelligenterSysteme,
könnte hinreichend genau beschreiben,
was die Bürger wollen. Die Berechnun-
gen liessensich permanent aufBasis
wachsenderDatenmengen und immer
zeit- und passgenau durchführen.Damit
trügen sie auch denVeränderungen der
MeinungsbildungRechnung, die jeder-

zeit bei einer Entscheidung auch kurz-
fristig möglich sind. Nicht ein ausge-
wählter Prototyp käme zuWort, son-
dern jede Präferenz hätte theoretisch
die gleiche Chance, in einem automa-
tisierten Entscheidungsprozess berück-
sichtigt zu werden.
So ungewöhnlich dieser Gedanke
erst einmal sein mag: Ist es wirklich vor-
stellbar, dass alle Lebensbereiche, das
Einkaufen, diePartnersuche, die Job-
suche, zunehmend durch Algorithmen
gesteuert werden, während die Ent-
scheidungsfindung in Staat undPoli-
tik in der vordigitalen Unzulänglichkeit
des Staatswesens, im menschlichen Ma-
kel steckenbleibt?

Volkswille stattParteiinteressen


In einer Umfrage des Center for the
Governance of Change unter 2500 Er-
wachsenen in Grossbritannien, Spa-
nien, Deutschland,Frankreich, Italien,
Irland und den Niederlanden sagte im
Frühjahr 2019 einViertel der Befragten,
politische Entscheidungen sollten lie-
ber durch eine künstliche Intelligenz als
durchPolitiker get roff en werden.Das
spiegelt zum einen denVertrauensver-
lust, der Institutionen und ihrenReprä-
sentanten seit einiger Zeit entgegen-
schlägt. Es spiegelt aber auch dieVor-
stellung, dass technologisch gestützte
Entscheidungen vielleicht genauer, tref-
fender oder gar gerechter seinkönnten.
Das liesse sich beispielsweise auch am
HaushaltsrechtdesParlaments erproben.
Die Zuteilung der Mittel hängt nicht sel-
ten auch davon ab, wie durchsetzungs-
fähigeinMinisterodereineMinisterinist.
Ebenfallsdavon,welcheparteipolitischen
Interessen mehr oder weniger Gewicht
haben. Die Interessen der Bevölkerung
können sich davon durchaus unterschei-
den.Würde man einen Haushaltsentwurf
auf der Grundlage datenbasierter Be-
darfsanalysen durch ein KI-System er-
stellen lassen, die Bedürfnisse desVolks
rückten anstelle parteipolitischer Inter-
essen wieder in denVordergrund.
Der Aufschrei aller Nostalgiker und
Technophobiker schallt schon aus der

Zukunftheran: Wie kann man es wagen,
demVolk und demParlament sein jeweils
höchstesRecht zu nehmen?Das ist einer-
seits ein legitimer Einspruch. Aber er
greiftanderseitslängstinsLeere.Denndie
GamificationdesStaateshatbeideRechte
weit gehendausgehöhlt.Mithilfevonalgo-
rithmischenVorausberechnungenkönnte
man die Logik des demokratischen Ent-
scheidungsrechts umdrehen: Eine KI er-
arbeitet die Entscheidungsvorlagen auf
Basis von BigData. Das Volk und das
Parlament stimmen dann darüber ab. So
liesse sich ein demokratischerVorbehalt
in einemSystem garantieren, das von der
perfektionierten Prognostik profitiert.
Eine wesentlicheVoraussetzung da-
für ist bis jetzt nicht gegeben: DieDaten
müssten um dieVerzerrungen bereinigt
werden, die eine künstliche Intelligenz
oft genauso wenig gerecht machen wie
eine menschliche. Das wird nicht gelin-
gen, wenn aufBasis vonDaten derVer-
gangenheit in die Zukunft extrapoliert
wird.Wenn man dem Staatswesen aber
eine Stunde null derDatensammlung
gönnte, um ab dann ein neues, inklusives
Datenrepositorium aufzubauen, wären
die Vorzeichen andere. Die Qualitäts-
sicherung dieserDaten müssteVerfas-
sungsrang erhalten, dieAufsicht über sie
höchstenAnsprüchen genügen.
Digitalisierung macht das Leben an
vielen Stellen direkter. Dem werden sich
auch Staat undPolitik nicht dauerhaft
entziehenkönnen. Eine algorithmische
Repräsentation politischerPräferenzen
würde politisches Entscheiden auf die
Ebene einer digitalen Direktdemokratie
heben.MiteinemAbstimmungsvorbehalt
für die errechneten Massnahmen bliebe
der Mensch immer im Loop – allerdings
am Ende der Entscheidungskette.
Was geschieht, wenn er am Anfang
steht, haben wir jetzt lange genug als
Sinnentstellung des politischenSystems
beobachtenkönnen.

Miriam Meckelist Professorin für Kommuni-
kationsmanagement an der Universität St. Gal-
len und Gründungsverleg erin von Ada, der
Plattform für das digi tale Leben unddie Wirt-
schaft der Zukunft.

EineWahl, gestützt auf
die Prognosekapazitäten
künstlich intelligenter
Systeme, könnte
hinreichend genau
beschreiben, was
die Bürger wollen.

Die Digitalisierung greift infast alle Lebensbereiche – nurim demokratischen Prozess fehltsie. HULTON / GETTY
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