Neue Zürcher Zeitung - 06.03.2020

(Jacob Rumans) #1

SPORTSFreitag, 6. März 2020 Freitag, 6. März 2020 PORT


PETER ZEIDLER, FC ST. GALLEN


Englische Woche,


na und?


ac.· Der FC St. Gallen
befand sich vor derPause
wegen des Coronavirus auf
einem Höhenflug. Er
drängte den Meister YB an
denRand einer Niederlage
und verteidigte dieTabel-
lenführung, derTrainerPeter Zeidler
sagt: «In der zweiten Halbzeit spielten
wir Powerplay.» Die Ostschweizer be-
wiesen, dass sie auch für Big-Point-
Spiele im eigenen Stadion genug Ner-
venstärke haben. Nun also der Unter-
bruch, mitten im Flow.
Die erste Spielabsage, jene derPar-
tie in Sitten, kam Zeidler gar nicht so
ungelegen. «So hatten wir Zeit, um
das emotionale Ende des YB-Matchs
zu verarbeiten.»Jetzt aber gilt es, die
Anspannungim Team hochzuhalten.
Am Samstag absolvieren die St. Gal-
ler einTestspiel inVaduz ohne Publi-
kum. Zeidler sagt,er mache sichkeine
Sorgen, der Fleiss der Spieler mache
ihm Mut. Der tiefe Altersdurchschnitt
im Kader sei vielleicht einVorteil.Er
merke, wie gross die Lust sei, sich im
Training zu verbessern, das erleichtere
die Situation.
St. Gallen pflegt einen aufwendigen
Spielstil, hat im Kader nicht die Breite
wie YB, und doch hat Zeidlerkeine
Angst vor englischenWochen, die seine
Spieler nicht gewohnt sind: «MeineJun-
gen erholen sich schnell. Mit einem
hohen Rhythmus im Meisterschaftsfinale
hätten wir so etwas wie eine WM.» Aber
wie soll diesesFinale aussehen? Zeidler
mag sich nicht zu sehr mit Eventualitäten
beschäftigen. Er hört vieles in diesenTa-
gen, so auch das: Mankönne ja das Pro-
gramm verkürzen, das letzteViertel der
Meisterschaft streichen. DieFinalissima
in Bern gegen YB entfiele dadurch. Zeid-
ler weiss, dass dieses Szenariokaumein-
treffen wird. Mit einemAugenzwinkern
sag t er: «Aber vielleicht gibt es ja eine
vorgezogene Modusreform.»


Ausharren

und hoffen

Es kursieren die verrücktesten Geschichten – doch


noch versuchen die Schweizer Fussballklubs, der


Meisterschaf tspause mit Gelassenheit zu begegnen


bsn.· Der Schweizer Profifussball ist
lahmgelegt. Nachdem der Bundesrat vor
einerWoche Veranstaltungen mit mehr
als 1000 Personen verboten hatte, ent-
schied sich dieSwiss Football League
gegen Spiele vorleeren Rängen – und
für dieVerschiebung dreierRunden.
Wann diese nachgeholt werden,ist un-
gewiss. Die Gestaltung des neuen Spiel-
plans hängt wesentlich davon ab, ob der
Bundesrat dasVerbot für grössereVer-
anstaltungen bis in den April verlängert.
Die freiwillig-unfreiwilligePause tan-
giert die Klubs in verschiedensten Be-
reichen. Die meisten suchen sichTest-
spielgegner, wobei nicht alle verraten,
wann und wo siePartien austragen. Der
FC Basel versucht, die Ambiance eines
Wettbewerbsspiels weitestmöglich zu
simulieren,es wird beispielsweise einen
Speaker geben, dem niemand zuhört.
Bei Xamax hingegen herrscht die Mei-
nung vor, dass sich Meisterschaftsspiele


vor Zuschauern ohnehin nicht simulie-
ren lassen.
Was alle vereint: eine gewisse Demut
der Situation gegenüber, etwas Gelas-
senheit – und finanzielleFragen, über
die die einen offenreden, die anderen
weniger. In Luzernist schonausgerech-
net worden, dass ein Geister-Heimspiel


  • vereinfachtgesagt – eineViertelmillion
    Frankenkosten würde. DenYoung Boys
    geht bereits jetzt Geld aus der Mantel-
    nutzung des Stadions verloren, der FC
    Basel nimmt mit dem Europa-League-
    Heimspiel gegenFrankfurt rund 1,5
    Millionen ein – oder eben nicht.Vor
    allem aber gilt:Vieles wird erzählt die-
    ser Tage, es gibt Geschichten von alsbald
    leeren Kassen, von nahender Zahlungs-
    unfähigkeit – doch näher besehen, klagt
    sein Leid noch niemand wirklich. Noch
    harren sie aus und hoffen, die Schweizer
    Fussballklubs – in dieserPause, von der
    niemand weiss, wie gross sie wird.


ALBERTSTAUDENMANN, YB

Einbussen


auch im Stadion


bsn.· Albert Stauden-
mann hatsich längst vom
Glauben verabschiedet,
dass es in seinemJob auch
einmal ruhige Phasen gibt.
Der Berner führt seit 2010
die Medienstelle der
Young Boys, er ist der dienstälteste
Kommunikationschef der Liga, mittler-
weile gehört er zur YB-Geschäftsleitung.
In den letztenTagen folgte intern Son-
dersitzung auf Sondersitzung, extern
Anfrage auf Anfrage, obwohl doch gar
nichtFussball gespielt wird.Wenn der
Bundesrat und die Liga dieses und jenes
beschliessen, ereilen StaudenmannFra-
gen jeglicher Art– jemandwollte wis-
sen, ob YB vorübergehend den Betrieb
einstelle. Natürlich nicht.
Aber der Betrieb läuft anders, in
jeder Hinsicht. Zwei Testspiele im
Stade de Suisse sind angesetzt worden,
gegen Kriens (6. März) undWinterthur
(13. März), unterAusschluss der Öffent-
lichkeit; damit dieFans doch etwas da-
von haben, wird YB die Spiele auf der
Klub-Website live übertragen. Und
wo im Stade de Suisse sonst einKom-
men und Gehen herrscht, gehen weni-
ger Menschen ein und aus. In dendiver-
sen Räumlichkeiten des Stadions finden
jährlich biszu 1000 Veranstaltungen im
Event- undKongressbereich statt,von
kleinen Sitzungen bis zu Seminaren
grosserFirmen. Doch solche grösseren
Versammlungen scheinen derzeit meh-
rereUnternehmungen zu vermeiden–
von den Anlässen, die vor dem15. März
im YB-Stadion hätten stattfinden sollen,
sind laut Staudenmann rund 80 Prozent
verschoben oder abgesagt worden. Der
Schweizer Meister hat sich in den letz-
ten Jahren finanzielleReserven geschaf-
fen. Aber früher oderspäterwürde sich
alles auswirken, ob Geisterspiele oder
abgesagteFirmenanlässe. Staudenmann
sagt: «MehrereFirmen sagen:Wir kom-
men wieder, wenn alles vorbei ist.»

ROLAND HERI, FC BASEL

Plus oder minus


1,5 Millionen


bsn.· Es ist quasi ein Le-
ben in zweiWelten. Am
nächsten Donnerstag
spielt der FCBasel im
Hinspiel der Europa-
League-Achtelfinals bei
EintrachtFrankfurt.Das
Super-League-Heimspiel gegen den FC
Sion indes, das für den darauffolgenden
Sonntag angesetzt gewesen wäre, findet
nicht statt.Für den19. März wiederum
ist das Eintracht-Rückspiel inBasel ge-
plant – diesePartie dürfte wieder vor
Fans stattfinden, falls der Bundesrat das
Verbot fürVeranstaltungen mit mehr als
1000 Personennicht über den15. März
hinaus verlängert. Dem FCB gingen mit
einem Europa-League-Geisterspiel
rund 1,5 MillionenFranken verloren,
wie der CEORoland Heri grob schätzt.
Zuverlässige Berechnungen fallen
schwer, da derVorverkauf noch nicht
läuft für eineVeranstaltung, von der nie-
mand weiss, unter welchenPrämissen sie
überhaupt wird stattfinden dürfen.
DenAlltag der ersten Mannschaft ver-
sucht der FCB so zu gestalten, als herr-
sche «courant normal». Am Samstag wird
der FCB im St.-Jakob-Park gegen Schaff-
hausen vor leerenRängen testen – «wir
werden demTeam möglichst vielGe-
wohntes bieten», sagt Heri, «ein Speaker
wirdreden, die Grossleinwand wird lau-
fen». Es beschäftige ihn,dass inFrankfurt
noch vor vollem Haus gespielt werden
dürfe, in Bern undBasel aber nicht, sagt
Heri – «aber ich stelle auch fest, dass der
GenferAutosalon abgesagt wird oder die
Leipziger Buchmesse. Da ist es nicht so
wichtig, was wir persönlich denken.» Und
danach sagter doch, was er persönlich
denkt: dass ihm das Coronavirus weniger
Sorgen bereite als im Zusammenhang mit
dieser Situation dieKommentare gegen
Flüchtlinge, die Forderungen, die Gren-
zen zu schliessen,«diesesVirus derFrem-
denfeindlichkeit und Hartherzigkeit be-
schäftigt mich viel mehr».

ALAIN GEIGER, SERVETTE FC

Auf der


gewohnten Basis


ram.· Alain Geiger hat als
Spieler und später auch als
Trainer viel erlebt. «In den
achtzigerJahren erwischte
mich und die halbe Mann-
schaft von Servette eine
üble Grippe nach einem
Trainingslager in Côte d’Ivoire, wir
mussten drei Meisterschaftsspiele absa-
gen», sagt Geiger, «aber das ist nicht ver-
gleichbar mit der Situation heute.» In
Ägypten,Tunesien, Marokko und in all
den anderenLändern, wo er in seiner
langenTrainerlaufbahn schon arbeitete,
erlebte der 59-Jährige noch nie einen
Unterbruch des Spielbetriebes mit offe-
nem Ende. «Es ist höhere Gewalt, wir
müssen die Situation verstehen und
haben sie akzeptiert», sagt Geiger. Er
sagt das mit derRuhe desWeitgereisten,
der sich Lebensklugheit angeeignet hat.
Im Unterschied zur Saisonvorberei-
tung gibt es derzeitkein Ziel, «wir tun
so, als würden wir uns auf das Spiel
gegen YB inzweieinhalbWochen vorbe-
reiten, aber eben – wir müssen so tun, als
ob, weil niemand weiss, ob diePartie am


  1. März stattfinden wird», sagt Geiger.
    An diesemWochenende plant er, ein
    Testspiel gegenLausanne auszutragen,
    aber das sei gar nicht so einfach. Denn
    auch einTestspiel muss hinter geschlos-
    senenTüren stattfinden.Das bedeutet
    wiederumAufwand, weil sich auch vor
    einem geschlossenen Stadion mehr als
    tausendFans versammelnkönnen.
    ZehnPunkte holte Servette in den
    fünf Spielen derRückrunde, der Auf-
    steiger zeigte beschwingtenFussball.
    Der Schwung in denFrühlingist nun da-
    hin. «Das ist ein Nachteil,keine Frage»,
    sagt Geiger, «aber wir versuchen, auf
    der gewohntenBasis zu arbeiten, die
    Mannschaft weiss ja, was es braucht für
    einegute Entwicklung.» Die Ungewiss-
    heit ist für alle gleich. Es ist eine men-
    tale Herausforderung, wie sieselbst
    Geiger noch nie erlebt hat.


STEFAN SANNWALD, FC ZÜRICH

Schwierig ist


die Ungewissheit


cen.· DerTeamarzt des
FC Zürich hat vor einer
Woche unter den Spielern
ein Merkblatt verteilen
lassen, das die wichtigsten
hygienischenMassnahmen
zusammenfasst, die das
Bundesamt für Gesundheit empfiehlt.
Nicht allen Empfehlungen kann das
Team folgen; «social distancing» ist aus-
geschlossen in einer Sportart, in der es
gezwungenermassen zuKörperkontakt
kommt. Spieler und Staff wurden darauf
hingewiesen, dass grössere Menschen-
ansammlungen oder öffentlicheVeran-
staltungen zu meiden sind. Sannwald
sagt, die Spieler würden der Bedrohung
durch dasVirus mitRespekt begegnen,
Panik stellt er nicht fest.
Der stellvertretende Chefarztder
Schulthess-Sportklinik in Zürich hält
sich einmal proWoche bei der Mann-
schaft auf, er telefoniert aberregel-
mässig mit der medizinischen Abtei-
lung des FCZ vor Ort. «Zeigtein Spieler
auch nur andeutungsweiseSymptome
einer Erkältung, muss er zu Hause blei-
ben», sagt der Arzt.Das Gleiche gilt
natürlich, wenn im Umfeld des Spielers
jemand amVirus erkrankt.Falls es zum
«worst case»kommt, wie Sannwald sagt,
und sich ein Spieler ansteckt, müssten
die ganze Mannschaft und alle, die mit
ihr inKontakt gekommen seien, zwei
Wochen pausieren.
Anders als andereTeams hat der
FCZ zurzeit praktischkeine Verletzten,
die nun mehr Zeit zur Genesung hätten.
In den vergangenenWochen sind meh-
rere Langzeitverletztezurückgekom-
men. Statt Blessuren auszukurieren,
biete dieWettkampfpause demTeam
Gelegenheit, sportliche Aspekte inten-
siver anzuschauen, sagt der Arzt.
Was Sannwald spürt: dass es für alle
schwierig ist,ein en Umgang mit der
Ungewissheit zu finden, wie es in den
nächstenWochen weitergeht.

«Meisterschaftsspielelassen sich nicht simulieren», heisst es aus Neuenburg– und doch wird hier und daversucht, vor leeren Rängen etwasNormalität zu leben. JEAN-CHRISTOPHE BOTT/ KEYSTONE

42 43

Free download pdf