Frankfurter Allgemeine Zeitung - 16.03.2020

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FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 16.MÄRZ 2020·NR.64·SEITE 11


LutherundBeethoven–hat mandie bei-
den, die einanderanEnergie,Standfes-
tigkeit undTiefenwirkung soähnlichwa-
ren, jemals nebeneinandergestellt?Ist
jemals ein Augenmerkauf Beethovens
Kanon „Gott isteine festeBurg“, Werke
ohne Opuszahl 188,gelegt worden, ge-
schrieben 1825für einen Besucher aus
Preußen, den MajorvonDuesterloh,un-
terVerwendung der Anfangstaktedes
Credo-Hauptthemas aus der Missa so-
lemnis?DieserKanon dauertgesungen
kaum eine halbe Minute, aberein Indiz
isterschon.Is tdie 1807 inEisenstadt ur-
aufgeführte C-Dur-Messeein anderes?
„Die MessevonBeetho venist unaus-
stehlichlächerlichund abscheulich, ich
bin beschämt und wütend“, schrieb der
Auftraggeber,Fürst Nikolaus Esterházy,
brieflichüberdasWerk.Soähnlichhätte
sich1518auchderpäpstliche LegatCaje-
tanbei der Lektürevon LuthersThesen
wider denAblasshandel äußernkönnen.
Der einewarKomponist, übrigens ein li-
terarischhochgebildeter, der anderewar
Theologe,bekanntlich einsehrmusikali-
scher .Der eine erbteeine Rev olution,
die in einemNach barland ausbrach, als
erneunzehn Jahrealtwar, deranderein-
spirierte eine Rev olution,vonder er
sich, als sie in seinerNähe ausbrach, er-
schrockenabwandte. DerZorndes Fürs-

tengalt einerKomposition, die sichvon
den Traditionen geistlicher Musik so
weit entfernt hatte, dasserdarin einen
Affrontgegenüber derkatholischen Kir-
cheerblickte. Die Empörung desrömi-
schen Klerus überLuthersThesen wur-
zeltedarin, dassein auf Gehorsamver-
pflichteter Mönchsichöffentlichange-
maßt hatte, sein Gewissen zu befragen,
statt dasvonder Kir chelegitimierte Ver-

fahren käuflicher Sündenvergebung
schweigend hinzunehmen. Wasbeides
verband, Luthersöffentlichen Ein-
spruc hund Beethovens werkgewordene
Neuerung, wardie Ermächtigung des
Einzelnen gegenüber derKonvention,
der Auftr itt des Subjektsgegenden An-
spruc hder Autoritäte n.
Erhatin beidenFällen Wirkungenge-
habt, die inalle Welt au sstrahlten und
dies,wie immervermittelt ,nochheute
tun, bis hin inden Fernen Os ten, der
uns näher denn jegerückt ist. Das kom-
positorische Ichlegt bei Beethovendie

Fesseln ab,die Überlie ferung und Ge-
wohnheit ihmauferlegen;die Emanzipa-
tion des Individuums wirdbei ihmtö-
nende Gestalt.Insofer nist Beethoven,
der davonüberzeugtwar,dassjeder
MenschunmittelbarmitGottkommuni-
zieren könne, ein Erbe jenerLu-
ther’sche nAufklärung,die die Gläubi-
genvon de nRitualen derKircheauf das
Lesender Schriftverwies, die er als Of-
fenbarung Gottesverstand.
FürBeetho ventrat die Offenbarung
Gottes in derNatur hinzu; derKant-Le-
ser hielt es mit derzwiefachen Of fenba-
rung, die der Philosoph imAnblick des
Sternhimmelswie immenschlichenMo-
ralbewusstseingefunden hatte.Wenn er
in „ChristusamÖlberge“eine mythi-
sche Geschichteopernd ramatischsäku-
larisierthatte, soversetzteerin„Fide-
lio“ eine politische Geschichte z uletzt
ins Mythisch-Messianische; immer wie-
der brachteereinen eigenen Mythus
zum Tönen: dieser handeltevon dem
mit eigener Kraftaus der Dunkelheit
desLeidenszum Lichtder Gottesgewiss-
heitvordringendenEinzelnen.Dochdie-
sersollte nicht alleinstehen; dass er mit
vielenGleichgestimmtenlittund kämpf-
te,war die Botschaft jenerinstrumenta-
lenChöre,die der Sinfoniker immervon
neuem anstimmte. Siestifteten di eGe-

meinde der Hörerzum Kampfgegen die
Gewalten derFinsterni san, ohneeine
Gewähr des Sieges; Prometheusund
Christuswareninihnen einePerson.
WasLuther und Beethovenverbindet,
istein immanenter Protestantismus, der,
auf je eigeneWeise, auf denRechten des
Einzelnengegenüber den angestammten
Hierar chienbesteht.Dasbefähigtesie, ih-
renZeitalternRhythmus und Melodie als
tönenden Inbegriff eines gemeinschaft-
stiftendenWiderstands an die Hand zu
geben. Luther tatesmit jenem Choral,
denHeinrichHeineundFriedric hEngels
die Marseillaise des sechzehnten Jahr-
hunderts nannten, dem Lied „Einfeste
Burgist unser Gott“, Beethovenmit der
finalensinfonischenVertonungvonSchil-
lersFreuden-Hymnus„Alle Menschen
werden Brüder“.Sohaben sie ihrerZeit
undallenfolgendenein Maßvorgegeben.
Beethovensleidensgespeisteundfreu-
denfähigeEmphase steht fremd in unse-
remZeitalter blind entfesselter Utilitä-
ten, die im Begriff sind, sichgegen uns
zu kehren .Umso dringender brauchen
wir ihn.

Friedrich Dieckmann veröffentlicht
demnächstinder Edition Ornament,
Jena, den Band „Beethoven und das Glück“,
der auchdiesenText enthalten wird.

Es is tdie Lapidarität seinesAuftretens,
die verdeckt, dasshinter jederTatsachen-
beschreibung,die Claus Offe liefert, ein
starkersozialphilosophischer Antrieb
steht.Offehat den Habermas imKopf,
wie Habermas den Offe,seinen einstigen
Mitstreiter inStarnberg, als die jeweils
bessere–oder jedenfalls komplementäre
–Hälfte,die nicht ausgesprochen zuwer-
den braucht, um dauerpräsent zu sein.
Als Erforscher der Arbeitsgesellschaft
hat Offe langevor derFinanzkrise 2008
die Reduktionismen einer ökonomischen
Theorie alsWelterklärung auf dem Kie-


kergehabt. Offe liebtees, solche Flach-
heit, welche sichinTypologisierungen
vonDatenmaterialfern jeder philosophi-
schen Brechunggefällt, abzubürsten. Sei-
nelinken Instinkte, die schon in den Sieb-
ziger nimmer auchgegen dogmatische
Formen des Marxismus ausschlugen, ha-
ben ihn nieverlassen, in seiner frühen
Bremer und BielefelderZeit genausowe-
nigwie zuletzt anderHertieSchool ofGo-
vernance in Berlin, undkamen der Quali-
tätseiner Forschungsarbeit zugute. Als
Lackmustest genügt die Art, wie Offe das


ausgeleiertwirkende Thema der sozialen
Gerechtigkeit aufgreiftund auf seine ana-
lytischenKernehin erhellt.
Wasetwaantwor tetder Emeritus für
Politische Soziologie und Sozialpolitik an
der Humboldt-Universität auf dieFrage,
obdie GerechtigkeitsdebatteinIndustrie-
ländernnichtzueinem Luxusstreit gewor-
denist,wo die absoluteArmut doc habge-
schaf ftseiund es nurmehrrelativeArmut
graduell verschiedener Konsumniveaus
gebe? Noch 2017 parierte Offe,der Ver-
fechter desbedingungslosen Grundein-
kommens, dieseFrageimfür ihn typi-
schen Doppelschlag:empi rische Korrek-
turderDatenerhebungund sozialtheoreti-
sche Revision derFrages tellung.Zumei-
nen, so entgegnete er,seien 15 Prozent
der Kinder in Deutschland armutsgefähr-
det, und essteigedie Zahl der Obdachlo-
sen. ZumanderenwerdeGerechtigkeit
verfehlt, wenn sie Armut allein am Ein-
kommenmesse.DenndieLageder„Abge-
hängten“, des Prekariats,werdenun ein-
mal wesentlichdurch ihren Mangel an
„fat econtrol“ bestimmt, also ihreOhn-
macht bei der Bestimmung der eigenen
Lebensumstände: „Wer unter dem Re-
gime einer überwältigenden Flexibilität
nicht weiß, wasernoch alles hinzuneh-
men genötigt wird, der istnicht unbe-
dingt armanEinkommen, sehrwohl aber
an sozialer Sicherheit.“
Das bissigeUnderstatement Claus Of-
fes, diesesKämpfers gegendie Selbstab-
schaffung derPolitik,konnte man 1985
schon indieserZeitungkennenlernen,als
Offe,damals einVorreiter bei den Grü-
nen, seinekomplexe Verhältnisbestim-
mung vonMehrheiten -undMinderheiten-
regelgegen deren schrecklicheVereinfa-
chung durch Erwin Scheuchverteidigte.
Eine Marginalie, aberstilerhellend. Offe
brauchtekeinesechzigZeilen,umdieUn-
terstellung,erpropagiereeineMinderhei-
tenherrschaft, auffliegen und demUrhe-
ber auf dieFüße fallen zu lassen. Heute
wirdClaus Offe,der die Soziologiemit
philosophischen Mitteln attraktiv erhält,
achtzig Jahrealt. CHRISTIANGEYER

E


sist sechs UhrAbends, und auf
dem mitTrikolor egeschmück-
tenBalkon am Arco dellaPace
in Mailand hat sicheine ganze
Familie versammelt. Lautstimmen sie
das Lied„Azzuro“vonAdriano Celenta-
no an, und laut schallt„Azzuro“ auch
aus denFenstern und vonden Balkonen
der Nachbarhäuser.Eswirdgesungen
mit Inbrunst, mitPathos an diesem ers-
tenWochenende desvomCoronavirus
komplett stillgelegten Italiens. Jeder
singt, so gut er es ebenkann. Einer hat
eine Geige, ein anderer eine Klarinette
auf diese Bühne mitgebracht, in die sich
die Balkone und Fenster nun jeden
Abend um Punkt sechs Uhrverwandeln.
Es is teine Gesangsaufführung der be-
sonderen Art. Man singt, um zu sagen:
Wirsind da.
Die Kostüme der Chorsänger sind die
bequeme Kleidung der erzwungenen
Häuslichkeit;Hausanzug, Jogginganzug,
sogareinPyjamaistaufeinemderBalko-
ne zu sehen.Äußerlichkeiten sind die-
sen Sängernegal. Ihr eMelodiezieht
durchdieStraße underfülltsie füreinige
MomentemithoffnungsfroherLebendig-
keit.Nochvor kurzem hatteman im lär-
mendenMailandMomenteder Ruheher-
beigesehnt.Nun, da die Menschen ihre
Häuser nur nochinAusnahmesituatio-
nenund mitPassierscheinverlassen dür-
fen,hatsichStilleüberdieStadtgelegt.
Esis teineStille, inderdieAngstguthör-
bar is t. Sie is twie die Erinnerung an das
Echo eines Lebens,das schon jetzt einer

sehrweitentferntenVergangenheitanzu-
gehören scheint undvondem man nicht
weiß, wann man es wieder aufnehmen
können wird.Aber es entstehen auch
neue Bekanntschaften. DieNach barn,
denenmannieimTreppenhausbegegne-
te,weilalleimmervielzu beschäftigtwa-
ren, winken freundlichvomBalkon ne-
benan undstellen sichvor.
Ganz Italien würde sichindiesen Ta-
gendes Eingeschlossenseinsgern umar-
men, aber jetzt, da das nicht mehrgeht,
schließensiesicheinempatriotischenKa-
raokean. JedenAbend wirdinNeapel,
Rom, Mailand, Bologna, Florenz und vie-
len anderen Ortengesung en und Musik
gemacht, die Einladung dazu zirkulieren
in den sozialenNetzwer ken. Die Men-
schensingen Lieder, in denen sichdie ita-

lienische Seele wiederfindet; sie intonie-
renStücke vonVerdi, sie singen ihreNa-
tionalhymne „Fratelli d’I talia“ und das
Partisanenlied„BellaCiao“ oder Schla-
gerhits wie„Ma il cieloèsempr epiù blu“
vonRino Gaetano. In Neapelhörtman
auchdieFußballhymne„Ungiornoall’im-
provviso“ auf den Balkonen.Dortver-
stummt der Chor oftmals erst mit dem
letztenTageslicht .Andernorts untermalt
das LäutenvonKirchenglockendie Dar-
bietungen. Das Programm wirdvon Tag
zu Tagreicher .Über Musik istder Kon-
takt auc hdann nochmöglich,wenn alles
anderestillzus tehen hat.
Sie is taber nicht das Einzige,womit
man jetzt in Italienversucht, einander
nahzusein.Dieer ste UmarmungdesTa-
gesgibt es jetzttägl ichzur Mittagszeit.
Sie gilt den Ärzten, Krankenschwestern
undPflegerninden überfüllten Kranken-
häusern. DieUmarmung istein lauter
kollektiver Applaus, dervonTerrassen,
Balkonen und ausgeöffne tenFenstern
dringt. Er wirdbegleit et vonPfiffen, von
Rufender Dankbarkeit undWertschät-
zung für das,wasinden Krankenhäu-
serngeleistetwird. Unddann sind da
auchnochdie Regenbögen, die jetzt in
vielenFenstern erscheinen. Oftsind sie
vonKinderhandgemalt und überschrie-
ben mit denWorten „Andràtuttobene“
–„Alles wirdgut“.
Zuerst tauchten dieRegenbögen auf
AufklebezettelninMailandauf, als man
sichnochrelativfrei inderStadtbe wegen
konnte. Eine anonyme Dichterin klebte

siezuDutzendenandieEingängevonSu-
permärkten und an Schaufenster, wie um
jenen, diegezwungenermaßen für Besor-
gungenvordie Türmussten, beruhigend
ins Ohr zuflüstern:„Machdir keineSor-
gen“. Die Ideeverbreit etesichimganzen
Land, und nuntauchenRegenbogenbil-
der überall wie Pilze auf; sie hängenvor
Balkonen, inFenstern,anHaustüren.
Auc hdas is teine Antwort der Men-
schen darauf, einander Trostund Mut
nicht mehr durch körperliche Gesten
spendenzukönnen.Sie vollführen diese
Gestenjetzt mitStiftund Papier,lesbar
fürjedermann.Allebefindensichschließ-
lichindergleichenSituation.InderTheo-
rieweißdas natürlichjeder.InderIsolati-
on lauertjedoc hdie Einsamkeit, und die
istweitaus mächtiger als jedesTatsachen-
bewus stsein.Aktionenwiedasflächende-
ckende Malen vonRegenbogenbildern
oder kollektivesSingen und Klatschen
mögen auf den erstenBlickvor allem an-
rührend wirken. Ihr eBedeutungist aber
nicht zu unterschätzen. Sie führenden
Einzelnen in die Dimension der Gemein-
schaf tzurück, allenräumlichenTrennun-
genzum Trotz. Di eWidersta ndsfähigkeit
kann das nur erhöhen.
„Andràtuttobene“ –„alles wirdgut“
steht auchauf einigenFahrzeugen der
Buslinie, die in Mailand am Kranken-
hausvorbeifährt. Ärzte,Krankenschwes-
ternund Patientenkönnen die Botschaft
sehen,wenn sie mal einen Momentfin-
den, um aus denverriegeltenFenstern
nachdraußen zu schauen.

Jederis tunmittelbarzuGott


Gemeinschaftderwiderständigen Einzelkämpfer:Luther und Beethoven/ VonFriedrichDieckmann


BEGEGNUNGEN
MITBEETHOVEN

Anwaltder Abgehängten


Dem Soziologen Claus Offe zum Achtzigsten


Claus Offe FoitoLaif


Alles wirdgut:Die


eingeschlossenen


Menschen umarmen


einanderdurch Musik


und applaudieren


Ärztenund Pfle gern.


VonKaren Krüger,


Mailand


Wieman beiräumlicherTrennung Gemeinschaft schafft:Akkordeonspielerin auf einem Mailänder Balkon FotoRopi

„For tanstehen wirauf un dhauen ab“:Es
istschonsehr,sehrlangeher,dassderpoli-
tischeText eines Schriftsteller sähnli che
Erschütte rungen auslös te wieVirgini eDe-
spen tes’Pamphletüber dieVerleihung der
César- Filmpreise undden spontanenAus-
zugder SchauspielerinAdèleHaenel. Das
„Portr ät einer jungenFrau in Flammen“
mit Haenel in der Hauptrollewurde von
derJurynur mit einemTrostp reis bedacht.
Die Philosophin Sandrine Laugierwertet
dasals „Willen, dieFrauen zu demütigen“.
Dem „literarischenText“ vonVirginie De-
spentes bescheinigtsie „legitimeGewalt“
unddie„RückeroberungdervondenMäch-
tigenkonfiszierten Narration“ .Über alle
Diver genzenhinweg–Schleier,Prost ituti-
on,Leihmutterschaft–würd en sichdieFe-
mini stinne nmitde mAufrufzumAufstand
identi fizieren.
Als „Verweigerung, die Herrschaft
schweigend zu erdulden“, liestihn die Li-
teratursoziologin Gisèle Sapiro.Fürden
Story-Telling-ExpertenChristian Salmon
denunzierterdie „Macht über dieKörper
der Frauen“. Salmon unterstreichtseine
„ansteckende“Wirkung: „Diefeministi-
sche Rev olution istkein Gala-Diner“.
Yves Citton, Professor inVincennes,deu-
tetdas Pamphletals „Be weis, das sdie Li-
teratur nichttotist“.
VoreinemhalbenJahrhatteAdèleHae-
nel ihr Schweigen über einen erlittenen
sexuellen Missbrauchgebrochen und eine
Kampagne gegenRomanPolanski lan-
cier t.ImVorfeldde rCésar-Verleihun gtra-
tendieausschließlichmännlichenVerant-
wortlichen, denen ihr Alter,Vetternwirt-
schaf tund Sexismusvorgeworfenwurde,
zurück. Dem Abgang vonHaenel bei der
Zeremoniefolgtejener vonLeïla Slimani,
deren Roman über den Kolonialismus
ganz oben auf den Bestsellerlistensteht.
Aufihnen istauchnochimmer der Be-
richt„Le consentement“ vonVanessa
Springorazufinden, über ihren Miss-
brauc hals junges Mädchen durch den pä-
dophilen Schriftsteller Gabriel Matzneff.
Im Gegensatz zurFilmbranche istdas
Verlagswesen in denvergangenen zwei
Jahren zu einem „Imperium derFrauen“
(„L’Express“)geworden. Weil amerikani-
sche VerlageWoody Allens Memoiren
nicht publizieren wollten, sprang der
größtefranzösischeVerlagskonzernmit
seinen amerikanischen Imprints ein. In
Frankreichwardas Erscheinen beimVer-
lag Stock,der zu Hachettegehört, ge-
plant, und dessen Leiter,Manuel Carcas-


sonne, hält daranfest,die französische
Ausgabe auchgegen sichmeldendenWi-
derstand Ende April auf den Markt zu
bringen.
Der EssayistMathieuLainé eiltPolans-
ki der weil mit Marcel ProustzuHilfe. In
„Contre Sainte-Beuve“ plädiertProustfür
die strikteTrennungvon Biographie und
Werk –auchweil er Nachteilewegensei-
ner Homosexualität befürchtete. Mit zahl-
reichen ÄußerungeninInterviewsundsei-
ner vonHistorikern gerügten Darstellung
der Dreyfus-Af färe hat Polanski den Ein-
druckerweckt,dassseinFilmüberdenun-
schuldigenjüdischen Hauptmann auch
eine Antwortauf dieVergewaltigungskla-
genist.In„ Intrige“ spielt seineFraudie
Geliebtedes Antisemiten, der dieWahr-
heit sagt.
Vom„Blut undKot an ihren Schwän-
zen, mit denen sie vergewaltigen“,
schreibt Virginie Despentesinihrem
Pamphlet. Die Autorinweitet die Atta-
ckegegen dieUngerechtigkeit der Preis-
vergabedurch die patriarchalischeFilm-
akademievon Anfang an zum Angriff
auf angeprangertePolizeigewalt und die
vonder Regierungunlängst beschlossene
Rentenreformaus. Isabelle Barbéris, Au-
torineines Essays über„Die Kunstder
politischenKorrektheit“, bezeichnet De-
spentes’Text als „rachsüchti ge Logor-
rhö“.Die Autorin schütte, durchsetzt mit
viel Jargon, Ressentiments zusammen
und konstruiereeinen Sündenbock. „Ab-
hauen, aberwohin?“, fragtder Kunsthis-
torikerThomas Schlesser. Vorder Tyran-
nei und demTerror de rMinderheiten,
dieeinstdie Zensur beklagten und sie in-
zwischen praktizieren, warnen Philoso-
phen und Kolumnisten.
HaenelsAbgang un ddessen literari-
sche Verklärun gzum Aufstand hinter der
feministisch enAvantgarde spaltenFrank-
reichwie einst die Dreyfus-Affäre. Auch
dieEinmütigkeitderFrauen istlängs tda-
hin. EinemAufruf vonAnwältinnen für
die Beibehaltung derUnschuldsvermu-
tung undder Verjährung halten dieAn-
klägerinnender sexuellen Gewalt –
Schriftstellerinnen, Therapeutinnen, Ju-
ristinnen–die „Lügenvermutung“ entge-
gen, der die Opfersystematischausge-
setzt seien.Täglichgeht derKampf mit
Petitionen, Gastbeiträgen, Interviews
weiter .Jüngste Folge: Ein Appellzur Soli-
darität mitdem Streik in einem Hotelun-
terdem Titel„Auchfür Zimmermädchen
istdie SklavereizuEnde.“

DerG esangderitalienischenSeele


Die StaatsoperUnterden Linden in Ber-
lin sieht sichgezwungen, den Livestream
vonMozarts „Idomeneo“ am22. Märzab-
zusagen. Die Premiereunter der Leitung
vonSir SimonRattle darfnachder neues-


tenAnordnung des Berliner Senats auch
vorleerenRängen nicht mehrstattfin-
den. Der Probenbetrieb isteinges tellt.Ab
Dienstagwerde es aber einen Online-
Spielplan mitAufzeichnungen aus dem
Repertoiredes Hausesgeben. Siewerden
kostenlos auf der Websitezugänglich
sein. Das Programm der kommenden
Spielzeitwerdeam25. Märzonline be-
kanntgegeben. jbm.

ImZweifel gegen


denAngeklagten


Parisstreit et überVirginieDespentesundzelebriert


dieMacht derLiteratur /Von Jürg Altwegg, Genf


StaatsoperBerlin


sagtLivestreamab

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