Frankfurter Allgemeine Zeitung - 16.03.2020

(coco) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG, 16.MÄRZ 2020·NR.64·SEITE 13


E


sgibt vielerlei Themen,
die man lobenund zu de-
renLob auchBücher
schreibenkönnte. Unddie
könnten sichmit gleichem
RechtumdiesenLeipziger
Buchpreis bewerben wie jenes, dasvon
dem Lob der Melancholie handelt und
dessen Verfasser jetzt hier vorIhnen
steht.
Waskönnte man allesloben?AufAn-
hieb fällt mir da ein:Das Lob der freien
Rede. Das Lob der offenen Gesellschaft.
Das Lob desUmweltschutzes. Das Lob
des Liberalismus. Das Lob des Dialogs.
Das Lob der Einsicht.Das Lob einerPoli-
tik,die sic hdem entfesseltenKapital wi-
dersetzt.Undsoweiter .Ein Thema aktu-
eller als das andere, zumalin unserervon
Kris en geprägtenZeit.Dabeihandelt es
sichaber nicht nur um eineKrise der
Wirtschaf tund desFinanzwesens,deren
Auswirkungen seitgeraumerZeit welt-
weit spürbar sind.Das, wasimBereich
der Wirtschaf tund des Geldmarktes pas-
siertist,hattenicht nur wirtschaftliche
Ursachen.Die auslösendeUrsache der
Krise warinWahrheitetwas, wasich als
den zunehmendenVerlustder menschli-
chen Wertebezeichnen möchte.Undsie-
he da, schon nähernwir uns dem Thema
der Melancholie.
Schon langevor dem Herbst 2008war
zu beobachte n, dassGeld, Profit und
schneller Erfolg zumfast alleinigen Maß-
stab geworden ware n. Nicht nurimFi-
nanzsektorundimWirtschaftsleben,son-
dernauchaufdemGebietder Kultur.Die-
ser Prozesssetzteimletzten Drittel des
vergangenen Jahrhundertsein, un dzum
letzten Jahrzehnt des zwanzigstenJahr-
hunderts beschleunigtesichder beispiel-
lose, fast perverse Siegeszug dervonih-
renpolitischenSchrankenbefreitenWirt-
schaf t. Seitdemsetzt das,wasman in Fi-
nanzkreisen als „Marktfundamentalis-
mus“ bezeichnet, seinen Siegeszugfort.
Als wäre nichtsgeschehen. Dergegen-
wärtigeLauf derWelt wir dvon denglei-
chen Prozessen bestimmt, die schon den
Ausbruc hder Krisevon2008 ausgelöst
hatten. Halten wir unsvor Augen, dass
die Beschleunigung der Klimakatastro-
phe durch nichts mehr aufzuhalten ist.
Die traditionellen,großen Parteien von
vor1989 brechen heuteweltweit endgül-
tig ein, sind in der Krise. DerglobaleKa-
pitalismuserschwer tzunehmenddas de-
mokratische Funktionierender National-
staaten,wasvor allem in der östlichen
Hälfte Europas of fenkundig wird,wo die
demokratischeTradition ohnehinwenig
ausgeprägt istoder garnicht existier t.
Heutetriumphiertder Marktfundamenta-
lismus, und in seinem Schlepptau wu-
chernimmer mehr jenepolitischenFun-
damentalismen, die demFundamentalis-
mus desKapitals denKampfansagen.
Hinter denKulissen jedochgehen Markt-
fundamentalismus und politischerFunda-
mentalismus allen scheinbaren Unter-
schieden zumTrotzHandin Handmitein-
ande rund bes tärken sichgegenseitig. Bei-
der Hauptfeind istder Liberalismus. Ich
weiß, wovonich rede, denn ichkomme
aus einem Land,indem die illiberale De-
mokratie, diese widersinnigeQuadratur
des Kreises,erfunden wurde. Der Markt
und das unkontrollierte Geld werden an-
gebetet, alle Manifestationendes Libera-
lismus zugleichangeg riffen.
Hier möchteich abernicht über diege-
genwärtig ePolitik meines Heimatlandes
sprechen;ich möcht emeine Freude über
den Preis davonnicht trüben lassen. Las-
senSie michlieberzu denvorhinskizzier-
tenBuchti teln zurückkehren.Würdealso
jemand die Bücher schreiben,wären sie
alle aktuell und im Geiste der europäi-
schenVerständigungwürdigeBewerber
um den Leipziger Buchpreis.
Dochwas hat ein Buchmit demTitel
„Lob derMelancholie“unter ihnen zu su-
chen?
Um dieseFrage zu beantworten, möch-
te ichersterläutern,wasich unterMelan-
cholieverstehe.Wasist Melancholie?Mir
ergehtesdamitwiedem heiligenAugusti-


nus mit derZeit, als er schrieb:„Was ist
Zeit? Wenn niemand michdanachfragt,
weißic hes;wennic heseinemFragenden
erklärenwill,weißichesnicht.“Dasselbe
lässtsichauchüber die Melancholie sa-
gen. Es isteiner der ältestenBegriff eder
europäischenKultur,andem im Laufe
der Jahrhundertedie widersprüchlichs-
tenVorstellungen haftete n. Beim Durch-
blätternmedizinischer Bücher aus dem
neunzehnten Jahrhundertfällt auf, wie
der Begriff der Melancholiegerade we-
genseiner Vieldeutigkeit zunehmendvon
demderDepressionverdrängtwurde,des-
sen weltweit eExpansionbis in unsere
Tage fortdauert. DenBegriff der Melan-
cholie zu eliminierengelang jedoch
nicht .Woauchimmer wir dasWort hö-
ren, spitzen wir sofortdie Ohren.
DieMelancholie wurdevonEpoche zu
Epoche andersgedeutet; das Wort selbst
hielt sichdennochhartnäckig.Wasdafür
spricht, dasseseinen gemeinsamen Nen-
ner,einen gemeinsamen Grundzugge-
ben muss.Die herausragenden Heroen
der Antike, dieverrückten Gottesleugner
des Mittelalters, dieKünstler derRenais-
sance mit ihrenweit überdurchschnittli-
chen Fähigkeiten, später diegelangweil-
tenMüßiggänger,die in sichgekehrt
nachinnen lauschen odertagaus, tagein
überdieVergeblichkeitallerDinge sinnie-
ren–denn sie alle wurdenvonihren je-

weiligenZeitgenossen als Melancholiker
beurteilt: Sie alle sindsichdarin ähnlich,
dass sie sichvon derWelt ab wenden,wie
es auchder Melancholiker Jaques in
Shakespeares„Wie es euchgefällt“ tut.
Sie wenden sichab, verlieren dieWelt
aber nicht aus dem Blick. Sie betrachten
sievielmehraus einemanderenBlickwin-
kelund sehensie in einemanderen Licht.
Wo auchimmer die Melancholie auf-
tauchtund wie auchimmer sie definiert
wird, in derRege ldeutet sichinihr der
dunkleSchatten der jeweiligenWelt an.
Vergessen wir nicht:Ursprünglichsteht
dasWortmit der Farbe SchwarzimZu-
sammenhang. Dem Melancholiker er-
scheint dieWelt in einer Projektion, die
den gewohnten Lauf der Dingeverwir rt.
InwelcherZeit auc himmer siegelebt ha-
ben, nievermochten die Melancholiker
die je weiligeEinrichtung derWelt als
eineendgültigezusehen. Die Melancho-
lie wirft den Schatten des Zweifels auf
jede nochsoselbstsicher anmutende Er-
klärung. Dabeiversucht gerade unsere
Zivilisationständig, uns mit endgülti-
genErklärungen zu blenden.Sie is tfel-
senfestüberzeugt, dasssichfrüher oder
später für alleseine Erklärung wirdfin-
denlassenundalleszulösenseinwird,
sogar eine Verlängerung des Lebens.
Der Melancholi kerteilt diese universel-
le Selbstsicherheit nicht.Für ihn istdas

Unbekanntenicht etwas, wassichbei
entsprechenden Kenntnissen früher
oder später entschleiernlassen wird,
sonderndas innerste Zentrum des
menschlichen Daseins und Denkens.
Undwas is tdieses Unbekannte? Etwas,
worinjedes Leben eingebettet ist. Nie-
mals sind wirvollständig Herrunseres
Lebens; es gibtetwas, wasstets über uns
hinausgeht.

D


er Menschist dadur ch
Mensch, dasseru mdie
bruchstückhafte Natur
seines Daseinsweiß: Er
wirddurch seine Geburt
aus etwasheraus geris-
sen und durchseinenTod abermals aus
etwasherausgerissen. Die Erkenntnis
dieser Splitterhaftigkeit erst hat den
Menschen zum Menschenwerden las-
sen.Esist nichts anderesals unserWis-
sen um unsereAusnahmesituation in der
Welt –unserWissen um Geburtund
Tod. Unddas is tauchschon derAugen-
blick derGeburtder Melancholie.Wis-
sen und Melancholie sind untrennbar
miteinanderverbunden. Sowaresbe-
reits bei den Menschender Steinzeit,
und so istesauchheute,dasicheine
neueZivilisationzuentfalten beginnt,
dieauchunsereverwegens tenVorstellun-
genüberflügeln wird.

DiesesWissen wollteich im heuteprä-
miertenBuch„Lob der Melancholie“um-
reißen. Michbeschäftigtedabei die Krise
unsererZeit, zu deren Hauptmerkmalen
für michdas Vergessengehört. Wenn
eine gegebene Zivilisationvergisst,wie
zerbrechlichihr Sein ist, wie außerge-
wöhnlich, wie einmalig ihreSituation
nicht nur innerhalb der Menschheitsge-
schichte, sondernauchimUniversum ist,
wie verschwindendgering die ihr zuge-
messeneZeit im Vergleichzur universel-
lenZeitlosig keit ist, wennsi edasalsover-
gisst,bemächtigt sichihrer der Hochmut,
die Hybris, und sie nimmt auf nichts
mehr Rücksicht .Bei Terroris tenpflegen
wir an einsamhandelnde,fanatischeTä-
terzudenken. Indessen leben wir alle,
ohne dasswir uns dessen bewusst wären,
inmitten einer gewaltigen, terroristi-
schen Verschwörung, ja sind daran selbst
beteiligt, gehören zu denTätern. Wir
alle, ohneAusnahme.Auch ich.Wiralle,
die wir Teil der heutigen Zivilisation
sind. Einer Zivilisation, die unter Beru-
fung auf den immergrößer werdenden
Reichtum die BewegungenvonKapital
und Geldentfesselt hat,geradesoals hät-
te sie sic hverschworen.Unddas Ziel hat
kosmische Dimensionen. EinigeGenera-
tionen noch, und das Ergebnis wirddie
Vernichtung allen menschlichen Lebens
auf diesem Planetensein.

Undhiermeldetsichundmahntdie Me-
lancholie. Sieverhilftuns zu etwas, was
man allzu leichtverliert: der Offenheit.
Sie hilftuns zu erkennen, dassesetwas
gibt, wasüber uns hinausgeht, dasswir
nicht allmächtig sind, dasswir tr otzunse-
rerMacht und unserer Errungenschaften
vonetwas abhängig sind,worauf wirkei-
nen Einflusshaben. Eine Krise tritt dann
ein, wenn diese Offenheit nachlässt oder
aufhört. Dann wähnt man sichungeheuer
stark, hält sich dank seines materiellen
Reichtums, seiner instrumentellen Ver-
nunft, seiner politischen Macht zu allem
fähig. Dabei erinnertman an Baron
Münchhausen,wenn er sich an seinem ei-
genen Zopf emporheben will. Es hat in
der Geschichtevermutlichnochnie einen
solchenÜberflussanmateriellenundkul-
turellen Güterngegeben wie heute.Und
dochspürenwiralle, dassetwas unwieder-
bringlichzuEnde gegangen istund wir
voreiner unabsehbarenZukunftstehen.
Wiediese aussehen wird, davonhaben
wir keine Ahnung. Lob der Melancholie?
Ja, mankann siegarnicht genug loben.
Ichsprac hzuBeginn meinerRede vom
Verlustder menschlichenWerte. Man be-
müht sich,etwasdagegen zu unterneh-
men –mit Taten, mitWorten. Oder mit
Büchern. Dieser Leipziger Buchpreis
zeigt–wirftman einenBlickaufdie Liste
der bisherigen Preisträger –, dassesnoch
Inseln gibt,wo man versucht, dem allge-
meinenZeitgeis twirksam entgegenzutre-
ten, gerade imNamen der menschlichen
Werte. Das sesdieses Jahr auchmir gege-
ben ist,Aufnahme auf dieser Insel zufin-
den, darüber freue ichmichaufrichtig
und dankeder Jur yaus ganzem Herzen,
und Ihnen dankeich,dassSie mir zuge-
hörthaben.

Ausdem Ungarischenvon Akos Doma.
DerLeipziger Buchpreis zurEuropäischen
Verständigung, der LászlóF. Földényi in die-
semJahr fürseinBuch„Lob derMelancholie“
zuer kannt worden ist, wirddem Autorwegen
derAbsag eder LeipzigerBuchmesse erstim
kommendenJahr verliehen.

Ob dieseKugeldurch den Ringgeht? Undwas, wenn dieReiter aus denWolken auf uns kommen?Lucas Cranachmalteseine „Melancholie“ 1532 imWissen um allgegenwärtigeGefahren. FotoInterfoto

MünchhausensZopf


WarumMelancholie undWissen Geschwistersind: Ungehaltene Dankesrede zum


Leipziger Buchpreis zur EuropäischenVerständ igung. VonLászlóF.Földényi

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