Frankfurter Allgemeine Zeitung - 16.03.2020

(coco) #1

SEITE 16·MONTAG,16. MÄRZ 2020·NR. 64 Wirtschaft FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


Gestern nocheine Messegeplant,heu-
te abgesagt. Ebengedacht, Irankönne
zu einem neuenAbsatzmarkt derZu-
kunftwerden, falschprognostiziert.
AufeinenSiegeszugdesFreihandelsge-
setzt?Weit gefehlt.Gehofft,man kom-
me mit einer schrittweisen Digitalisie-
rungsstrategie im eigenenUnterneh-
men voranund könne deshalb auf ein
traditionell-gemächliches ChangeMa-
nagement setzen? OderCorona sei ein
Bier? DieFälle zeigen es auf den ersten
Blick: Meistens kommt es anders, als
mandenkt.DieVeränderungsgeschwin-
digkeitinPolitik,WirtschaftundGesell-
schaf that so starkzugenommen, dass
man Mitarbeiter heuteandersführen
muss: Esgehtdarum,reaktionsschnelle
Teams zu bilden, die wirklichfunktio-
nieren und die zudem auf nachvollzieh-
bareZielefüralleihreMitgliederfokus-
siertsind. Führungskräfte wissen, dass
so ein Satz erheblichleichtergeschrie-
ben als umgesetzt ist.
Deshalb hatRené Es teban sein Buch
„Do EpicStuff–Führung nachdem
Ende des Change-Management“ ge-
schrieben.Um es gleichvorwegzuneh-
men: Das Buchist gut, denn es inspi-
riert, und es istschlecht, denn es nervt
ein wenig. Es istlesenswert,weil es die
Türzueiner modernerenPersonalfüh-
rung weit öffnet. Es is tetwas anstren-
gend zurezipieren,weil der Leser die
ganze Zeit geduzt wird–und derTitel
leider auchdeshalb ernstzunehmen
ist, weil der Autorallzuverliebt inengli-
sche Begriffeist:Wenn„Leader“ ihrem
Team nur „Purpose“ geben können,
dann ist„epic stuff“ vielleichtdoch
schwerer zu erreichen, als derAutor
glaubt.Wenn man aber dazu bereit ist,
über diese unnötigeSprachverhunzung
hinwegzulesen, wirdeserheblichbes-
ser.
Inhaltlichist es zunächstwichtig,
kur zzusagen, wasdieses ChangeMa-
nagement ist, das Esteban in der heuti-
genZeit fürveraltet hält.Dabei handelt
es sic hnatürlichauchschon wiederum
einen nicht notwendigen Anglizismus.
Versuchen wir es also auf Deutsch:Ver-
änderungsmanagementwirdseit min-
destens 40 Jahren in der Betriebswirt-
schaftslehrediskutiertundin Unt erneh-
men praktiziert. Dabeigeht es um die
OptimierungvonStrukturen und Pro-
zessen, um sehr viel Organisatorisches.
Esteban hingegen rücktvorallem die
Mitarbeiterund ihr eFührungskräfte in
den Mittelpunkt seiner Betrachtungen.
Seine These: Mitarbeiterwerden durch
denSinnundden ZweckihresTunsmo-
tiviert, und erst dadurch werden sie zu
Höchstleistungen (eben „epicstuff“) fä-
hig. Diesen Sinn solltenFührungskräf-
te st iften, die wiederum andersführen
müssen als in derVergangenheit.Denn
Hierarchien allein bringen nicht mehr
viel.
Es gehe darum, in funktionierenden
Teams gemeinsamvoranzuschreiten –
und dabeiständig dieFragezuklären,
ob sic hdie Mitglieder des jeweiligen
Teams wirklichmiteinander verstün-

den. Dabei sollteder je weiligeChef im
Auge behalten,dassessichlohnt,Mitar-
beiter ndie Wertschätzung des bisher
Erreichten spüren zu lassen, und auch
berei tdazusein,mitBlick aufdie erwar-
tete nVeränderungen als Erstervoran-
zuschreiten. Mankönnteauchsagen,
die Chefssollen sichvorbildlichverhal-
ten. Wiehäufig in derartigen Büchern
führt dies zu einer Lebensberatung für
Führungskräfte;geht es um Dinge, die
eigentlichselbstverständlichsein soll-
ten, es allzu häufig aber nicht sind.
Es hagelt Hinweis auf Hinweis: Ent-
spannt undgelassengelteesamgroßen
Thema, amgroßen Ziel dranzubleiben.
Hektische Betriebsamkeit seikein Qua-
litätsmerkmal. NegativeGedanken
müssten im Keim erstickt werden.
Denn aus Gedanken würden Worte,
Handlungen, Gewohnheiten, schließ-
lichwürden sie Teil des Charakters.
Aber kann man den,wenn es soweit
schongeko mmen ist,tatsächlichnoch
verändern–und wenn ja, wie?Aufsol-
cheFragengibt es keine befriedigende
Antwort. Wichtig sei es, zu klären, wie
das Team mitRückschlägen umgehe –
und zu erkennen, dassesauchineiner
Leitungsfunktion nicht darum gehe,
perfekt zu sein: „Nur dannkann man
wahres Selbstbewusstsein entwickeln“,
schreibt Esteban. Stimmt,eskönnte
nur sein, dassesbei der einen oder an-
deren Führungskraftmehr als ein Buch
braucht, um auf diesemWegvoranzu-
kommen. Das gilt auchfür die übrigen
hilfrei chenHinweise, wenn siedennbe-
herzigtwerden: Gut sei es, das Engage-
ment vorzuleben, das man auchvon
den anderen erwarte. Hierarchie sei
zwar wichtig, aber damit allein bekom-
me man die Mitarbeiter nicht hinter
sich. Transparenz müssevoneiner Füh-
rungskraftnicht mehr als Bedrohung
empfundenwerden, sondernals Aus-
druc keiner neuen Offenheit imUm-
gang miteinander.Denn es sei wichtig,
zu den Menschen hinzugehen und in ei-
nen Dialog mit ihnen zukommen.
Dabeigeltees, auc hauf die eigene
Sprache zu achten:Wiewahr! „Wer auf
seine Sprache nicht gut achtet,der ach-
tetauchnicht auf seine Gedanken und
am Ende auchnicht auf seineTaten“,
schreibt Esteban –und man wünschte
sich, dassein Autor, dertatsächlichprä-
ziseschreiben kann, diesmiteinerKon-
zentration allein auf die deutscheSpra-
chenochstärker beherzigt hätte.Nun
istdie Welt derWirtschaf timAlltag
zwar voller Anglizismen.Aber werhat
nicht schon einmal die Erfahrungge-
macht, dassesgerade in einem Dialog
mit demTeam Möglichkeiten gibt, sich
hinter Anglizismenzuverstecken, an-
statt auf DeutschKlartext zureden?
Denn darumgeht es. Im Buchwie im
realen Leben. Es giltetwa szuerrei-
chen, auf das man mitStolz zurückbli-
cken kann. CARSTENKNOP

René Esteban: Do EpicStuff! Führung
nachdem Ende des Change-Manage-
ment ,CampusVerlag, Frankfurt,NewYork
2020, 270 Seiten, 35 Euro.

D


as Jahr 2020versprac heines
dieser langweiligen Jahrezu
werden, ein Jahr des Durchmo-
gelns.EinbisschenpolitischeUnsicher-
heit ,ein bisschenAmerika-China-Riva-
li tätund sicherlichein bisschenZeit für
die politischen Entscheidungsträger,
über langfristigeProjektenachzuden-
ken. Dannkamdie Coronavirus-Epide-
mie, ein typischer schwarzer
Schwan–und jetzt müssen
sichdie Entscheidungsträger
übersHier und Jetzt denKopf
zerbrechen. Die wirtschaftli-
cheFolgewar zuerst ein Han-
dels- und Produktionsschock
für China. Ein schwerer
Schlag für die China-Expor-
teure. Dannwaresein Beben
an denFinanzmärkten und
ein Ölpreisschock. Jetzt sind
wir mit einemKonsumschockaus dem
Lehrbuch konfrontiert, da die Maßnah-
men zur Eindämmung desViruszum
wirtschaftlichenStills tandinnahezual-
len Ländernmit sekundären Corona-
Ausbrüchen führen, vonItalien über
die Vereinigten Staaten bis hin zu
Deutschland.
Um es klar zu sagen:Wirwerden Re-
zessionseffektenicht vermeiden kön-
nen,voneinemhalbenbis zuvollendrei
Prozentpunkten des BIP.InDeutsch-
land könnte2020 dieWirtschaftsleis-
tung um 0,7 Prozent schrumpfen,wenn
wir vonmäßigen Einschränkungen aus-
gehen.
Alle wirtschaftspolitischen Maßnah-
men können lediglichdie Tiefeund
Schär fe derRezession abmildernundsi-
cherstellen, dasseine U-förmigeErho-
lung folgt undkeine echteFinanzkrise,
dieunsdienächstenzehnJahr ebeschäf-
ti gt.Esgibtkeine Superhelden.DieAuf-

gabe derFinanzpolitikistes, diemedizi-
nischeVersorgung sicherzustellen so-
wie eine Insolvenzwelle und den An-
stieg der Arbeitslosigkeit zu verhin-
dern. Soziale Sicherheitsnetze undNot-
fallhilfen zurÜberbrückung vonZah-
lungsausfällen sind essentiell. Es ist
nichtdieZeit,kleinlichzusein;wirmüs-
sen aber auchnicht mit Geld um uns
werfen.Wirmüssenaberklar-
stellen, dasswir bereit sind,
alles zu tun,wasimmer nötig
ist. Wirdürfenden Menschen
nicht das Gefühlgeben, dass
Wirtschaf tund Gesundheit
gegeneinander ausgespielt
werden.
Die Aufgabe der Geldpoli-
tikis tes,den Angstfaktorein-
zudämmen, Liquiditätseng-
pässe zuvermeiden undFi-
nanzstabilität sicherzustellen. DasFi-
nanzsystemmussreibungsloslaufen,
da sonsteinigeschwächereMarktteil-
nehmergefährde twerdenkönnten. Er-
warten wir nicht mehr.Die Überreak-
tionenderMärkteauf das Maßnahmen-
paket der EZB–die ehrlicherweise tat,
wasgetan werden musste–zeigt die
Nervosität im System. Die Krise istan-
dersals dievon2008: Wirsehen,was
auf uns zukommt, und wir haben die
Mittel dagegen. Es istnicht einfachfür
politische Entscheidungsträger,jedes
Mal dieWelt zu retten. Das Risikozu
enttäuschenis tgrößeralsda szuberuhi-
gen, insbesondereinunserer fragmen-
tiertenund nichtkooperativenWelt.
Wirmüssen aber dieVernetzung der
wirtschaftlichen Akteurebewahren,
um dieWirtschaf tnachder Pause wie-
der neu zustarten. Vertrauen istalles.
Wirschaffendas.
DerAutorist Chefvolkswirtder Allianz.

K


ommt es wie jetzt zu einem
massiven Ausbruch vonIn-
fektionskrankheiten, sind
Regierungen am Zug. Ihre
Behörden können Ein-
schränkungen des öffentlichen Lebensan-
ordnen.KompletteStädtekönnen unter
Quarantänegestellt werden, um auf diese
Weise die Ausbreitung einerKrankheit zu
verhindern.InChina wurden in den letz-
tenMonatenganzeRegionenisoliert,um
die Ausbreitung des Coronavirus einzu-
dämmen.Auch in Italien undweiteren
Länderngehen die Behörden inzwischen
ähnlic hrigorosvor.
Wirhabeneshier mi teiner Situationzu
tun, in der dieBürgerdarauf vertrauen,
das sMaßnahmenzurBekämpfungder
Krankheitergriff en werden, die ärztliche
VersorgungvonErkrankten sichergestellt
wirdund die wirtschaftlichen Folgen der
Epidemie gemildertwerden, wenn der
Konsum zurückgeht undaufder ganzen
Welt Lieferkettenzusammenbrechen.
Ausall diesen Gründen istdas Vertrau-
en der BürgerinihreRegierungenvon
größter Bedeutung. Bei einerPandemie
müssen die Bürgerdarauf vertrauenkön-
nen, dassdie Anordnungen der Behörden
begründet,angemessenundsinnvollsind.
Andernfallswerden sie sie nicht befol-
gen. Die Bürgermüssen davonausgehen
können, dassdie „Händewaschen“-Emp-
fehlungnicht bloßein Spruchist,dersie–
inAbwesenheitvonImpfstoffenund wirk-
samenBehandlungsmöglichkeiten–inSi-
cherheit wiegen soll. Sie müssen darauf
vertrauen, dasssie im Krankheitsfall um-
gehend professionell behandeltwerden.
Sie müssen überzeugt sein, dassdie Krise
ohne bleibende Beeinträchtigungen der
Wirtschaf tvorübergehen und nicht zu ei-
ner nachfrageinduziertenRezession füh-
renwird.
Es is tnicht leicht, diesesVertrauen
während einerEpidemie aufrechtzuerhal-
ten. Selbst in China,woKritik nichtge-
duldetwirdund dieRegierungstolz auf
ihreHandlungsfähigkeit verweist, hat
das Vorgehender Behörden inWuhan
für Unmut gesorgt .Inden Vereinigten
Staaten (und ingeringerem Maß viel-
leicht auch in Europa)wirddas deutlich
schwieriger sein,weil die Menschenwe-
nig Vertrauen in denStaathaben.
Seit Ronald Reagan wirdden Amerika-
nerngebetsmühlenartiggepredigt:„Der
Staat is tnicht die Lösung, sonderndas
Problem.“Unddas glauben die Leute. Ei-
ner Studie von2015 zufolgesind nur 23
Prozent derAmerikanerbereit, demStaat
„immer“ oder „fastimmer“ zuvertrauen.
59Prozent offenbarteneinenegativeEin-
stellung zumStaat.
WarumwirddemStaatsovielMisstrau-
en entgegengebracht? Das hat fraglos his-
torische Gründe. In Amerikaherrscht
eine Ideologie der Eigenverantwortung,
auchwenn dies seit vielen Jahrenweitge-
hend eine Chimäreist.Die Staaten, deren
Bürgerbesondersstolz sind auf ihreAuto-
nomie,sindzugleic hbesondersabhängig
vonSubventionenausBundesmitteln.Mis-
sissippi,Louisiana,TennesseeundMonta-
na,all esam tZentrenstaatsfernerRepubli-
kaner ,führen die Liste der Empfänger
vonZuschüssen ausWashington an. Es
hat aber auchmit Mis strauen gegenüber
den Eliten zu tun–staatliche Programme
gelten alsAusdruc keiner elitärenPolitik,
die jedermannfördert, nur nicht die hart
arbeitenden (männlichen?)Weißen.

D


as Gerede vonstaatlicher
Misswirtschaft, das von
Ökonomen gern ange-
stimmt wird,bringt uns
nicht weiter .Wer vorWirt-
schaftswissenschaftlernauf staatli che
Eingriffezusprechenkommt,wirdun-
weigerli ch Hohngelächter ernten.Mil-
tonFriedman,der Generationenvon
Ökonomen beeinflusst hat, zumal sol-
che, die rechte Positionenvertr eten,
schrieb: „Diegroßenzivilisatorischen
Leistungen sind nicht in Amtsstuben er-
dacht worden.“Under fügte hinzu: „Ein-
stein hatseineTheorie nicht auf Anwei-
sung einesBeamten entwickelt.“ Ein selt-
samesArgument, dennEinstein warin
seinen frühen JahrenAnges tellter des
Eidgenössischen Pate ntamtsinBern,
und hätte er seine Theorie nichtveröf-
fentlicht, wäre er einPara debeispielfür
vergeudeteSteuergelder.
VieleÖkonomen,vielleicht sogar die
meis ten, sind der Ansicht, das sstaatliche
Anreizenierichtigfunktionierenundstaat-
licheEingriffe daher, obschon oftnotwen-
dig, meistschlech tdurchgeführ twerden.
Aber schlecht bezogenworauf?Das Pro-
blem ist, dassesfür viele Dinge, für die

der Staat zuständig ist,keinen Ersatz gibt
–obwohl viele Regierungen natürlich
mehr tun, als sie tun sollten,etwa eine
Fluglinie betreiben wie in Indien oder
eine Zementfabrik wie in China. Dies
wirdbesondersdeutlichinGesundheits-
krisen, wie wir sie aktuell erleben.Wenn
ein Tornado hereinbricht,wenn Urein-
wohner ärztlichversorgt werden oder
Branchen schließen müssen, gibt es meist
keine „Marktlösung“.
Aufgabe desStaates istesnicht zuletzt,
Probleme zu lösen, dierealistischerweise
niemand anderes lösenkann. Um Ver-
schwendungvonSteuergeldernnachzu-
weisen, mussman zeigen, dassdie glei-
cheSache andersund besser organisiert
werden kann.Tatsächlichkann abernicht
bewiesenwerden, dassdie Privatisierung
staatlicher Dienstleistungen zuweniger
Misswirtschaftoder zu einemverbesser-
tenAngebo tgeführthat.
Vergleiche zwischen privaten und öf-
fentlichen Angebotendergleichen Dienst-
leistungfallen sehrgemischt aus: In In-
dien sind Privatschulen billiger,aber die
Schüler schneidengenauso schlecht ab
wieSchüleranstaatlichen Einrichtungen.
Privat eVermittlungsagenturen für Lang-
zeitarbeitsloseinFrankreic hsindschlech-
terals staatliche Arbeitsämter.

Ein Grund für die Skepsisgegenüber
staatlichen Eingriffen i st die verbreit ete
Annahme, überall herrscheKorruption.
DieVorstellungvonBeamten,dieauf Kos-
ten der Steuerzahler ein bequemes Leben
führen, finden viele Menschen empö-
rend. Aber sie steht, wie auchimmer be-
gründet, oftimMittelpunkt politischer
Kampagnen. Die These lautet: Wenn es
nur den nötigen politischenWillen gäbe,
könnteKorruption beseitigtwerden. Das
istnatürlichnicht ganz falsch–wie kann
Korruption verschwinden, wenn der
StaatschefhöchstpersönlichineinemKor-
ruptionssumpfsteckt?

D

ie Vorstellung,Korruption
ließe sichallein mit gutem
Willen beseitigen,geht an
der Realität vorbei undver-
kennt unsereMöglichkei-
ten, dieses Problem in denGriff zu be-
kommen. Ebenweil der StaatDingetut,
für die sich der Markt nicht interessiert,
kann er empfänglich fü rKorruption wer-
den. Nehmen wir nur die Bußgelder für
Umweltverschmutzung: DerVerursacher
würde einem Mitarbeiter derUmweltbe-
hördesoforteinenAnteildes Bußgeldszu-
stecken, um die Sache aus derWelt zu
schaf fen. Wäre es da nicht besser,wenn
ein profitorientiertesPrivatunternehmen
die Bußgelder eintreibt?Wahrscheinlich
nicht, da dieFirmajamöglichstviel Ge-
winn machen will.Wiedas Beispiel der
sogenanntenSteuerpacht zeigt, bei der
ein Staat Steuernund BußgeldervonPri-
vateneinziehen lässt,besteht hier das Ri-
siko, dassdann auchjene Bürgerzur Kas-
se gebetenwerden, diegarnicht abgabe-
pflichtig sind.
Ein anderes Beispiel istdie Situation
der Krankenhäuser in dergegenwärtigen
Corona-Krise. Eskönntesehr verlockend
für Klinikdirektoren sein, einerreichen,
aber minderschwer erkranktenPerson für
GeldZugangzurBehandlungzuverschaf-
fen. In diesemFall geht es umRationie-
rung. Sobald ein Gutrationiertwird, be-
steht dieVersuchung, sichden Zugang
einfac hzuerkaufen, wie die jüngsten
Skandaleinamerikanischen Krankenhäu-
sernzeigten.Nurein sehrstarkerStaat
kann das unterbinden.
Ganz allgemein kann man sagen,dass
wiruns dem Diktat desMarktes oftnicht
beugen,weilwir uns vonsozialenVorstel-
lungen leiten lassen.Esgibtkeine reine
MarktlösungfürdasEinziehenvonBußgel-
dern.Und in derNotaufnahme mussjeder
versorgtwerden,weil wi rwollen, dassdie
Bedür ftigstenbehandeltwerde nund die
Ausbreitung der Krankheitgestopptwird.
Sobal daberjemandnachMarkt gesetzen
vorgeht, entstehtdie Versuchung, es mit
denRegeln nichtsogenau zu nehmen. Da
es Aufgabe desStaatesist,regulie rend in
denMarkteinzu greifen, istder Kampfge-
genstaatlicheKorruptio nselbs tbei be sten
Absichten eine endlose Anstrengung.
Deshalb istesoft unfair ,Beamteund
Politiker als unfähigeDummköpfeoder
korrupte Widerlingeabzustempeln, wor-
an Ökonomenvermutlich nichtganz un-
schuldig sind. Oftist es sogar ausgespro-
chen schädlich.
Erstens führtesdazu, dassjeder Vor-
schlag, denStaat zustärken, auf sofortige
Ablehnungstößt, selbstwenn derStaat,
wie im heutigen Amerika, offensichtlich
gebraucht wird. In denVereinigtenStaa-

tenist das Vertrauen gegenüberStaatsbe-
dienstetenaußerordentlichgering. Nur
26 Prozent dervonuns Befragten bekun-
deten„einiges“ oder „großes“ Vertrauen
in denStaat (Ökonomen schneiden übri-
gens nic htvi elbesserab).Daserklärtviel-
leicht, warumsowenigeglauben, der
Staat könne die Lösung sein.
Zweitens wirkt sichdas auf diePerso-
nalsituation im Staatsdienstaus. Ein gut
funktionierenderStaat brauchtqualifi-
ziert eMitarbeiter.Angesichts des
schlechtenRufs, denderStaatindenVer-
einigtenStaaten hat, isteine Beamten-
laufbahn für talentierte jungeLeuteaber
nicht sonderlichattraktiv.Wir sin din
mehr als zwanzig Jahren Lehrtätigkeit
keinem einzigenStudenten begegnet, der
eine Tätigkeit imStaatsdienstanstrebte.
Das kann zu einemTeufelskreis führen:
Wenn nur Minderbegabteind en Staats-
dienst gehen, haben wir am Ende einen
schwachen Staat, für den niemand arbei-
tenwill. InFrankreichdagegengenießt
der Staatsdiensthöchs tesAnsehen. Die
Bestenun dKlügstenmachen dortKarrie-
re.Vorallem inKrisenzeitensindkompe-
tenteLeuteunerlässlich.
Drittens: Wenn angenommenwird,
dassdie meistenBeamte nentweder käuf-
lichoder faul (oder beides) sind,liegt es
nahe, ihnenkeine Entscheidungsgewalt
zu übertragen–und auf dieseWeise jed-
wedes Engagementzuverhindernund en-
gagierte Leute abzuschrecken. Das wirkt
sichunmittelbar auf die Handlungsmög-
lichkeitenvonStaatsdienern aus. InPa-
kista nzeigte sichjüngst bei einem Expe-
riment, dassEinkaufsleiter in Kranken-
häusernund Schulen, denenetwasmehr
finanzieller Spielraum zugestandenwur-
de, für Artikel des täglichen Bedarfs
günstiger ePreise aushandelnkonnten.
Das führte zu enormen Einsparungen
vonSteuergeldern.
Vorallem aberhat das Mantravom
korruptenund unfähigen Staat genau
jeneabgestumpftenBürgerhervorge-
bracht, die, ob in Amerika, Russland
oder Israel, auf Berichtevon massiven
AmtsvergehengewählterPolitiker nur
mit einemAchselzuckenreagieren. Die
LeutehabenimGrundegelernt, nichts
anderes zu erwarten, und es interessiert
sie auchnicht mehr.Die Ge wöhnung an
Korruption in kleinem Maßstabist der
Nährboden fürBestechlichkeit in gro-
ßem Maßstab.
Niemandweiß,wiesichdieaktuelle Co-
rona-Krise entwickeln wird.Wenn wir sie
hinter unsgelassen haben, sollten wir uns
daran erinnern, wie wichtig ein funktio-
nierenderStaat is t. In wirklichschweren
Zeitensindwirdaraufangewiesen. InKri-
sen wie dergegenwärtigenwerden wir
den Preis für die unablässigeVerunglimp-
fung desStaates und seiner Institutionen
bezahlen. Damit inNotzeiten ein gutre-
gierterStaat für uns da ist, müssen wir in
normalenZeiten einen solchenStaat for-
dernund aucherwarten.

Esther Duflo istProfessorinfür Armutsbe-
kämpfungund Entwicklungsökonomie am Mas-
sachusetts InstituteofTechnology (MIT).
AbhijitV. Banerjee istProfessorfür Volkswirt-
schaftslehre,ebenfalls am MIT.Die Autoren
wurden 2019mit dem Alfred-Nobel-Gedächt-
nispreis fürWirtschaftswissenschaften
ausgezeichnet.

Ausdem EnglischenvonMatthiasFienbork.

DasSuperhelden-Syndrom


VonLudovic Subran

WIRTSCHAFTSBÜCHER


DERVOLKSWIRT EUROPLATZFRANKFURT


VonguterFührung


WieVorgesetzt esichheuteverhalten sollten


IllustrationPetervonTresckow

Glaubtanden Staat!


Esther Duflo Fotodpa

AbhijitV. Banerjee FotoBloomberg

Die Corona-Krise führt


vorAugen ,wie wichtig


es ist, dass Bürger ih ren


Regierungenvertrauen.


Dasständig eGerede


vonschlechter Politik


schad et nur, mahnen


dieNobelpreisträger


AbhijitV. Banerjee


und Esther Duflo.

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