Frankfurter Allgemeine Zeitung - 16.03.2020

(coco) #1

FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Politik MONTAG, 16.MÄRZ2020·NR.64·SEITE 5


D


ie goldeneKuppelder Al-Nur-
Moschee in Christchurch leuch-
tetinder Mittagssonne.ImF lur
hängt einSchild: „Lächelt, ihr
werdet gefilmt“, mit einem Smileydane-
ben. Die Moschee hat seit dem Anschlag
imvergangenenJahreinneuesSicherheits-
systemmitetwa zehnÜberwachungskame-
rasinstallier t. Neue Türschlösser wurden
eingebaut, dieTeppiche,Fensterscheiben
und Wandfarbe sind ebenfallsneu. Durch
die Gängekommt dem Besucher die sanf-
te StimmedesVorbetersentgegen.Amhin-
terenEnde des Gebetssaalsverneigen sich
mehr als 20 Männervoreiner Wand in
Richtung Mekka.Aufeinem Stuhl sitzt ein
Mann, neben ihm liegen Krücken. Er hat
immernochKugelreste in seinemKörper.
Regelmäßigmüssen die Bleiwerte in sei-
nem Blutgemessenwerden.
Es warziemlic hgenau dieseTageszeit,
als derTerroris tBrentonTarrant vorei-
nem Jahr involler Kampfmontur in die
Moschee eindrang und begann, auf die
Muslime zu schießen. Der 28 Jahrealte
Mohammed, der seinen Nachnamennicht
nennen möchte,warandiesemTagauch
in der Moschee. Er berichtet,amRand der
Gebetshalle sitzend,dassdasLichtdamals
in ganz ähnlicherWeise durch die Dach-
fensterderMoscheeaufdenTeppich gefal-
len sei wie heute.Nachdem das Gebetbe-
gonnenhatte, ware nzunächstaus dem
Flur die Schüsse zu hörengewesen.Zum
ersten Mal sah Mohammed den Schützen,
als er am Eingang desRaumes stand. Die
Schüsse dröhnten nun inkurzen Abstän-
den durch die Halle. Erst gingen sie in die
andereRichtung, dannkamen sie immer
näher.Der Täterschossgezielt auf einen
drei Jahrealten Jungen aus Somalia, der
neben Mohammed stand. Ein Freund
starb einigeMinutenspäter auf demPark-
platz vorderMoschee.„Alser starb,schau-
te ichinseineAugen“, sagt Mohammed.
Zwischen200und 400 Menschensollen
an demTaginder Moscheegewesen sein,
darunteraucheinigeKinder.Dieer sten
Minuten derAttacke übertrugTarrant live
auf Facebook mit einerKamera, die er an
seinemKörper befestigt hatte.Kaltblütig
schos seraufdieMenschen,auchaufdieje-
nigen, die schonregungslos am Boden la-
gen. Nach ein paar Minuten ging er zu-
rück, um eine neueWaffeaus seinem
Auto zu holen.Der er steNotrufging um
13.41 Uhr bei derPolizei in Christchurch
ein. Erst 36 Minuten später wurdeTarrant
gefasst. 49 Menschenwarentot,51v er-
letzt .Inden folgendenTagenund Wochen
drehten sichdie Zahlen um. Seither sind
es 51 Tote und 49Verletzte. Es sindZah-
len, die demTäteroffenbar wichtigwa-
ren. „Wie viele habe icherwischt?“, fragte
er die Polizisten nachseiner Verhaftung.
Es handelte sichumeinen derschwers-
tenrechts extremi stischen Anschläge der
Geschichte. Er hatNeuseeland fürimmer
verändert.„Das Endeder Unschuld“ hieß
esdamalsauf TitelblätterneinigerZeitun-
gen. Für Neuseelandwarder Anschlag ein
Scho ck,weil mansichhier stetsweitweg
gefühlt hatte vonden Pr oblemen anderer
Länder.Das Land hatnur fünfMillionen
Einwohne r; sie fühlensicheinanderver-
bunden.DieMordra te istniedr ig,der L e-
bensstandar dhoch, undselbstunter Frem-
den spricht mansichüblicherweisemit
demVornamen an. Selbst das Coronavirus
hat Neuseelandbisher einigermaßenver-
schont. Essindnur achtFällenachg ewie-
sen. Dennochhat di eRegierungvonPre-
mierministerinJacinda Arderndie für den
Jahres taggeplan te Gedenkveranstaltung
wegendes Virusvorsichtshalberabgesagt.

ImVerlauf des Tageskommen trotzdem
immer wieder Menschen an die Moschee,
um Blumen abzulegen und ihreTrauer
undSolidarität auszudrücken. Aber es
sind weit weniger als ein Jahr zuvor.Es
sind auchweniger bewaffnete Polizisten
vorder Moscheestationiert. Der Chor ei-
ner Mädchenschule stimmt ein Lied an.
ZurMittagszeitfinden sichetwahundert
Mitgliederder Mo torradgang„TuTangata
Riders“ ein. Auf demParkplatz vordem
Gotteshaus führen sie einen Hakaauf,
den kämpferischen Tanz der Maori, der in
diesemFallSolidaritätundTraueraus-
drückt .EinEhepaarinFahrradfahrermon-
tur kommt vorbei und legt am Eingang ei-
nen StraußBlumen ab. DieFrau sagt:
„Wir hätten niegedacht, dasssoetwas bei
uns passierenkönnte.Vielleichtwaren
wir naiv,weil wir dachten,Neuseeland
würde immer friedlichbleiben.“
Tatsächlichist der Terroris tBrenton
Tarrant Australier undkein Neuseeländer.
Aber er hatteinden vergangenen Jahren
viel Zeit in Neuseelandverbracht. Ur-
sprün glichkamerausderKleinstadtGraf-
tonimaustralischen Bundesstaat New
SouthWales. Mit dem Erbe, das er nach
dem Todseines Vaters bekommen hatte,
warerdann aber mehrereJahredurch die
Welt gereist. Unteranderem besuchteer
die Balkan-Länder.Ersoll Kontakt zur
rech tsradikalen Identitären Bewegung in
Österreichsowie zu bekanntenNeonazis
in Australien aufgenommen haben.Aber
es gibtkeine Anzeichen dafür,dasserAn-
gehörigereiner Gruppewaroderdassihm
anderebei seinerTatgeholfen hätten.
Der Rechtsextremisthatte aber auch
nicht in einemVakuum gelebt.Inseinem
HeimatlandAust ralien warntder Geheim-
dienstmittler weile deutlichvor der Bedro-
hung durch denRechtster rorismus: „Über-
all in Aust ralien treffen sic hinVoror ten
kleineZellen, salutieren denNazi-Flag-
gen, inspizierenWaffen, machenKampf-
tra iningundteilenihr ehasse rfüllteIdeol o-
gie“, sagtevorkurzem MikeBurgess,der
GeneraldirektordesGeheimdienstesAsio.
Auch in Neuseeland hatteesvor dem An-
schla gAnzeichen für zunehmenden Hass
auf Muslimegegeben. Es gibt muslimische
Vereine, die jahrelang davorgewarnt hat-
ten, nac heigenen Angaben aber nieernst
genommenwurden.UndgeradeinChrist-
church sollen immer wieder sogenannte
WhiteSupremacists auf getaucht sein.Vor
dem Jahrestag wurde ein 19 Jahrealter
Mannverhaftet, der auf einemVideo mit
der Al-Nur-Moschee im Hintergrund Dro-
hungen ausgesprochen hatte.
Mittlerweile is tesKonsens, dassdie Si-
cherheitsbehördende nRechts extremismus
zu sehr als lokales Problemgesehen haben,
nichtals Teil de sinternationalenTerroris-
mus. „Aber wie sich herausgestellthat, or-
ganisierensichdie Rechtenonline.Sie tau-
schen Informationenaus. Siehetzeneinan-
derauf, diese Greuel zu begehen“, sagt
Paul Buchanan,einFachmannfürTerroris-
musbekämpfung inNeuseeland. AufInter-
netplattformenwie 4chanund 8chan, auf
denenauchTarrantaktivgewesenwar,wur-
de damals offenzum Mord an Muslimen
aufgerufen.Dortwurdeauch das Videodes
AnschlagsvonKommentarenbegleit et wie
„Schieß nocheinmalauf ihn!“oder
„Schnapp dirdasKind!“.
Der AustralierTarrantgehörtzuden
ersten Terroristen, die ihren Anschlagge-
filmt und inszenierthaben wie einen Ego-

shooter. Wiesein Vorbild, derrech tsradi-
kale nor wegischeAttentäter AndersBrei-
vik,der im Jahr 2011 auf der Insel Utøya
77Menschengetöte thatte, veröffentlichte
Tarrant auchsein eigenes „Manifest“ im
Internet. In dem 74 Seiten langen Schrift-
stückbezeichnetsichder Autorselbst als
Rassist. Er verbreitet die Theorie des „Re-
placement“,wonachdie Menschen mit
weißer Hautfarbe nachund nachdurch
dunkelhäutigeEinwanderer ersetzt wür-
den. In rechtsextremistischen Kreisen
wirderseit dem Anschlag als Heldgefei-
ert. Im Internet bezeichnen ihn manche
als „Saint“, als Heiligen.„Wenn Anders
Breivik der Gott derRechtsextremisten
ist, dann istdieser Kerl Tarrant Jesus
Christus. Sieverehren ihn,weil er einen
hohen ‚Kill Count‘ hat“, sagt Buchanan.
Spätere Atte ntat eund Atte ntatsversu-
che, darunterder Anschlag auf eine Syn-
agogeinHalle, sindvonseinerTat inspi-
riertworden.Aber es gibtaucheine entge-
gengesetzteBotschaft, die aus demAtten-
tat her vorgegan genist,eine des Mitgefühls,
des Zusammenhaltsundder Vergebung.
ÜberNeuseelandhinausistmittlerweileFa-
ridAhmed bekannt, der in dem Massaker
seine Ehefrau HusnaAhmed verloren hat-
te.Der Neuseeländer, der seit einemUnfall
im Rollstuhl sitzt, hatteschon in denTagen
nachdemAnschlagerklärt,dasser demTer-
roristen für seineTatvergeben habe. So
kurz nach dem traumatischen Erlebnissen
und denVerlus tseiner Frau erschien das
wie ein ungeheurerAkt der Selbstlosigkeit.
FaridAhmed ist dadurch berühmtgewor-
den.IndervergangenenWochebesuchteer
Sydney undtrafdortauchdendortigenPre-
mierminister Scott Morrison.

B


esucher empfängtAhmed in die-
senTageninseinemPrivathaus in
einemVoror tvon Christchur ch.
DortsitztermiteinemweißenGe-
wand un deinerschwarzen Kappe auf dem
Kopf in seinem Rollstuhl .Auf einem
Schreibtischhinter ihmsteht das Buch, das
erseit demAnschlag über sichund denTod
seinerFrau geschrieben hat. „Husna’sSto-
ry“lautet der Titel. Ahmed sagt, der An-
schla gsei ein Weckruffür Neuseeland und
die ganze Welt gewesen. DerWesten habe
bis dahinvorallem auf den islamistischen
Terrorismus geschaut. „Aber dass einer
nichtunterdemBannerdesIslamssoetwas
tut, sondernunter demBanner derweißen
Rasse, damit hatten siewohl nichtgerech-
net.“Erf indet abernicht, dassdie Neusee-
ländervordemAnschlag„naiv“waren.Das
besse re Wortsei „selbstzufrieden“.
Seit dem Anschlag plädiertAhmed da-
für,nicht mit Hass,Wutoder Verzagtheit
auf denTerror zu reagieren. Denn diese
Gefühle führten zukeinen Lösungen. Ihm
selbsthabe diese Haltung auchgeholfen,
mit demVerlustklarzukommen. „Ich spü-
re keine Wut. Ic hkann schlafen. Ichhabe
keinen Bluthochdruck“, sagt er.Das Ge-
fühl übertragesichauchauf die Menschen
in seinemUmfeld, seineTochter ,seine
Freunde. Die Bilder des Grauens habe er
irgendwoinseinem Hinterkopf wegge-
schlossen, sagtFaridAhmed. Das istaller-
dingseineMethode,die beidenwenigsten
funktioniert. Fast jeder Überlebende hier
kennt diese Momenteund kleinen Ereig-
nisse, die den Schreckenzurückholen.
FürFaisalSayedist esdasGeräuschvon
Schuhsohlen, die auf Schottertrete n, das
bei ihm blitzartigeRückblenden auslöst.

Der 31 JahrealteMann, dervoreinigen
Jahren aus BombaynachNeuseelandge-
kommenwar, warandem Tagdes An-
schlags in Linwood in der zweiten Mo-
schee, die derTerroris tangeg riffen hatte.
BrentonTarrant wardorthingefahren,
nachdem er in der Al-Nur-Moschee sein
schrecklichesWerk beendethatte. Nach
seiner Ankunftlief Tarrant um die Mo-
schee herum und eröffnete das Feuer auf
jeden,denersah.Zusammenmitrundein-
hundertGläubigenkauerte Sayedauf dem
Teppich des Gotteshauses. Zwischen den
Schüssen knirschten dieStiefel desAtten-
täter sauf dem Boden.FüreinigeMinuten
warendas laut Sayeddie einzigenGeräu-
sche, die zu hörenwaren: die Schüsse, die
Schreie der Getroffenen, das Knirschen.
Bisdahin habeesanderMoscheekeiner-
lei Sicherheitsvorkehrungengegeben. „Für
uns inNeuseelandwarSicherheit nieein
Thema.“Doch das habe sich voreinem
Jahrschlagarti ggeändert. Früher habe er
sich nie umgeschaut,wennjeman dhinter
ihm lief.Nundrehe er sich unwillkürlich
um.Aber Sa yedsagt au ch,dasssichseit
demAnschla getwas zumPositi venverän-
dert habe. DieunsichtbareMauer ,die lan-
ge ZeitzwischenderMehrheitsgesellschaft
undder muslimischen Minderheit bestan-
denhabe,werde nunhäufiger durchdrun-
gen. De rAnschla ghabeMitgefühlund Zu-
neigungfür di eGemeinde hervorgebrac ht.
FürihreReaktion auf dasAttentat ist
vorallem die PremierministerinJacinda
Arder nweltweitgelobt worden. Die 39
JahrealteRegierungschefin warkurz
nachder Attacke vordie Pressegetreten.
Ihr erstes Statement dauerte nuretwa
zwei Minuten. Sie sprachvon ei nem der
„schwärzestenTage für Neuseeland“. In
den Tagendanachsucht esie die Nähe zu
den Muslimen. Sie umarmte, spendete
Trost. Manche kritisiertensie dafür,dass
sie dabei selbstein Kopftuc htrug. Andere
lobten es als Akt der Solidarität.Sie wei-
gertesichaußerdem, denNamen desTer-
roristen auszusprechen, um ihm seinen
Wunsch nachnotorischer Berühmtheit
nicht zuerfüllen.Auchdiese Haltung fand
bei vielen Menschen Anklang.
DieRegierungbracht eaußerdem kon-
kretepolitischeVeränderungen aufden
Weg. DasWaffengesetz wurdeverschärft.
Mittle rweile sindhalbau tomatis cheWaf-
fen, wie sie derAttentätervon Christ-
churchbenutzt hatte,sowie Schnellfeuer-
magazine verboten.EineUntersu chungs-
kommissionwurdeeinberufen,umdieHin-
terg ründe desVerbrechensaufzuklären
undbisAprileinenBerichtvorzulegen.Au-
ßerdem rief Ardern den „Christchurch
Call “ins Leben. Darinverpflichteten sich
einige Regierun genundvorallemInternet-
unternehmen,gegen dieVerbreitungvon
TerrorvideosundHassb otschaf tenvorzuge-
hen. Zudemhattedie Regierung ein eneue
Antiterrorstrategie ausarbeitenlassen.
DerFreitagistder Tag,an demdie Mus-
lime an die Opfer desTerroranschlags er-
innern.Viele Angehörigegehen auf den
Friedhof in Linwood, auf dem die meisten
der Opfer des Anschlags begraben liegen.
Männer in langen Gewändernstehen zwi-
schen den Gräbernund murmeln Gebete.
Eine Frau des Sicherheitsdienstes, der
zum Jahrestagden Friedhof bewacht,
schaut ihnen aus derFernezu. Sie legt
Wert auf dieFeststellung, dassder Täter
ein Australier ist.„Aber er hat seineTat
auf unserem Boden begangen.“

Akt des Mitgefühls: Das Mitglied einer Motorradgang umarmteinenÜberlebenden des AnschlagsvonChristchurch. Foto AP

UnvergessenerTerror


frs. MOSKAU.Noch vorkurzem hieß es,
Russlands Präsident Wladimir Putinwer-
de seinVerfassungsreformpaket voraus-
sichtlichamsechs tenJahres tagder Anne-
xion der ukrainischen HalbinselKrimun-
terzeichnen, dem 18. März. Dochseit Pu-
tin das MitteJanuarvorgestellteProjekt
am vergangenen Dienstagineiner exakt
choreog raphiertenSpezialoperation in
der Duma, demUnterhaus, um einenPas-
sus er gänzen ließ, der ihm denVerbleib
im Präsidentenamt bis ins Jahr 2036 er-
möglicht, lief der Prozessnochschneller
als zuvor ab.WieimZeitraf ferbilligten
Unter- und Oberhaus dasPaket, er steres
ohne Gegenstimmen,abermitEnthaltun-
genvon 43Kommunisten, letzteres mit
nur einer Gegenstimme.EsfolgtenAb-
stimmungen inRegionalparlamenten, für
die eigentlichimRefor mprojekt ein Jahr
vorgesehenwar. Die Staatsnachrichten-

agenturTassmeldete gar, alle 85Regio-
nalparlamente–die Versammlungen der
besetztenKrim undderdortigenStadt Se-
wast opol eingerechnet–hätten binnen
zwei Tagendas Paketgebilligt. Vereinzelt
gabesG egenstimmen aus denReihen der
Kommunistenund vonJabloko-Abgeord-
neten, allerdingsistdie liberalePartei nur
in wenigenRegionalparlamentenvertre-
ten. Im Moskauer Regionalparlament
schlug die Jabloko-Abgeordne te Darja
Bessedinaunteranderemironisch vor, Pu-
tin denTitel„Seine Hoheit Lebenslanger
Präsident“zuverleihensowieeinenvorge-
sehenenPassus zur Ehe als Bundvon
Mann undFrau umzuformulieren zum
„BundvonMann,Frauund WladimirWla-
dimirowitschPutin“. Bessedina wurde
das Wort entzogen.
Schon am Samstagunterzeichnete Pu-
tin dasReformpaket,und nochamAbend
meldete dasVerfassungsgericht, dasses
sichtrotz desWochenendes zu einer au-
ßerordentlichen Prüfungssitzungversam-
melt habe. Soetwashatteesbislang nur
im Rahmen derrechtlichenVerbrämung
der Krim-Annexiongegeben. Transparent

soll die Sitzung nicht sein: Es handele sich
schließlichnicht um einenRechtsstreit
zwischen Gegnern, „denen die Offenheit
garantiertwerden muss“,teiltedas Ge-
richtmit. Bis zu siebenTage sollten die
Richter unter demVorsitz des alten Putin-
Vertrauten Valerij Sorkin zurVerfügung
haben, um dieweitreichenden Änderun-
genzuwürdigen; dochwürde es ange-
sichtsder Eile,mit derPutinsPersonalsei-
ne Lo yalität demonstriert, anUnbotmä-
ßigkeitgrenzen,einesolche Fristauszurei-
zen. Auch Misstöne wurdenvermieden:
Während derverhältnismäßigkontrover-
sen MoskauerRegionalparlamentsdebatte
fielen Internetund Übertragung aus.
Putins Machterhaltsoption über das
Jahr 2024 hinaus(wenn seine aktuelle
Amtszeit abläuft,wobei dieVerfassung
bislang einerneuerlichen Kandidatur
nachzweiPräsidentschaftenentgegen-
steht) findetsichineiner sehrgewunde-
nenFormelinArtikel81desVerfassungs-
projekts.Sieistscheinbarallgemeingehal-
tenund verschleiert, dassnur für Putin
die Anzahl der bisherigen Amtszeiten
„auf nullgesetzt“ wird.Nungeht es dar-

um, genügend Massen zu mobilisieren,
dieam 22.AprilPutinsReformprojektbil-
ligen. Ein Mindestquorum für die Gültig-
keit der Abstimmunggibt es indes nicht.
Auch Russland ergreiftgerade immer
mehr Maßnahmengegendas grassierende
Coronavirus. Es gibt mittlerweile Dutzen-
deFälleinmehrerenLandesteilen,vonde-
nen die allermeistenRückkehrer aus Ita-
liensein sollen. Bürgerdieses Landeswer-
den mittlerweile nicht mehr nachRuss-
landgelassen,esgibtstrikteBeschränkun-
genimFlug- und Bahnverkehr.Allerdings
soll dasVirusder Volksakklamation im
April nicht entgegenstehen. „Ichglaube,
dass, ungeachtet aller Befürchtungen zum
Coronavirus, eine solchegesamtrussische
Abstimmung stattfinden muss“, sagtenun
ValentinaMatwijenko,die Präsidentindes
Oberhauses. DemonstrationengegenPu-
tinsVerfassungsprojektwerdenun terHin-
weis auf Infektionsvorbeugung nichtge-
nehmigt.AmSamstag löstenEinsatzkräf-
te eine Protestaktionvorder Lubjanka
auf, dem Sitz des GeheimdienstesFSB im
ZentrumvonMoskau.Rund 50Personen
wurden, teils unter Prügeln, abgeführt.

DerAnschlagauf zwei


Moschee nin


Christch urch hat


Neuseela nd veränder t.


Diemuslimische


Gemeindeversucht,


ihrTrauma zu


verarbeiten.


VonTill Fähnders,


Christchurch


Machterhaltim


Zeitraf fer


BRIEFE AN DIE HERAUSGEBER


Herzlichen Dankfür Ihretägliche Glos-
se,diean dieKriegsereignissevon
erinnert. Der Alliiertenangriff auf die
mit Flüchtlingen aus Pommernund
Westpreußen überfüllteStadt Swine-
mündeamfrühlingshaften12. März
vor75Jahren–mit strahlendblauem
Himmel–hätteabereinen ausführliche-
renBerichtverdient –auchumdie Ver-
söhnungsarbeit desVolksbundes Deut-
sche Kriegsgräberfürsorge in der
deutsch-polnischenJugendbegegnungs-
stätteauf demGolmzuwürdigen.Jedes
Jahr versammeln wir uns auf dem
Golm,umamJahrestagmit vielen Hin-
terbliebenen der Opfer zugedenken.
Zeitzeugen berichten, wie sie nachih-
rerFluchtaus Danzig am 12.März
auchinSwinemünde nur durch ein
Wunder erneut dem Grauen entkom-
men konnten. IhreAngabe der Opfer-

zahl mit „mehr als 1000“ istaber auf je-
den Fall beschönigend. In der wissen-
schaftlichen Literatur nennt zum Bei-
spiel Rolf-DieterMüller vomMilitär ge-
schichtlichenForschungsamt 3000 bis
4000 Tote,HelmutSchnatz kommt in
seiner peniblenForschungsarbeit über
den Angriff auf Swinemünde auf 4500
Tote.Der Volksbund Deutsche Kriegs-
gräberfürsorge nennt eine Anzahlvon
mindestens 4500Toten. Es kommt ge-
wissnichtaufgenaue Zahlenan(einTo-
terist schon einerzuviel), aber den-
nochgelingt dieVersöhnungüber den
Gräbernnur,wennwirauchwirklichje-
dem Kriegsopfer seinenNamen auf ei-
nem Grabstein zurückzugebenversu-
chen–dazu solltenwirdieTodesanzahl
kennen.

REINHARDWEGENER,SCHWERIN

Dieinder F.A.Z. vom5.Februar wie-
dergegebene Äußerung vonKardinal
Müller mit seinemVergleichdes syno-
dale nWeges mitdem Ermächtigungs-
gesetzausderNazizeitist nichtnur em-
pörend,weil si eeinenverleumderi-
sche nund he rabsetzendenDuktushin-
sichtli ch desdringenden Bedürfnisses
derdeutschenKatholiken nach einer
Überprüfung der hergebrachten Lehr-
meinungen enthält, sondernsie stellt
darüber hinauseinen historischunzu-
lässigen Zusammenhang dar.
Zunächs tist KardinalGerhar dLud-
wigMüllerdarin zu widersprechen,
dersynodaleWegseikir chlichnicht au-
torisiert. Er übersieht, dass dieses In-
strument auf der Bischofskonferenz in
Lingen imFrühjahr2019ins Lebenge-
rufenwurde .Damit hat dieses Instru-
mentwenigstensdie Autorität des deut-
sche nEpiskopats.
Den synodalenWegkritischzube-
trachten istselbstv erständlic hlegitim,
aber dochwohl nur mit sachlicherKri-
tik. Siche rist richtig, dass sichfür die-
sesInstrument,bei de msichBischöfe
und Laienauf Augenhöhe begegnen,
keine Vergleiche in derVergangenheit
derkatholischen Kircheherleiten las-
sen. Aber washindert gläubig eMen-
schen, denVersuchvon neuenWegen
im Geiste Jesu Christizubeschreiten?
Der synodaleWegringt doch um die
Beant wortung elementarer Lebensfra-
gendes Gottesvolkes unterWahrung
desEvangeliums; eswill dabeiEmpfeh-
lungen für daskünftigekirchliche Le-

ben erarbeiten, ohne der Kircheeigen-
mächtig bestimmte neue Rege ln zu ok-
troyieren oder dasEvangeliumumz u-
schreiben.Die Beratungsergebnisse
sollen auch demPapstnur als Empfeh-
lungender deutschenKatholik en vor-
gelegt werden, ohne dasssie au toma-
tischRechtskraf tfür sic hbeansp ru-
chen. Das Ermächtigungsgesetz hatte
mit derAbscha ffung derDemokratie
einevöllig andere Zielrichtung und
Wirkung,sodass es schonvöllig ab we-
gig erscheint,esmit dem synodalen
Wegzuvergleichen.
Eine kirchlicheAutoritätwie Kardi-
nal Müller sollte in seinen öffentlichen
Äußerun genseineramtlichen Stellung
gemäßsachlichund nichtpolemischar-
gumentieren.Die angesprocheneÄuße-
rung vonKardinal Müller istjedenfalls
füralleKatholiken,die sichmitdem sy-
nodalenWegidentifizieren, diskrimi-
nierend,und sie fälltletztlichange-
sichts ihrer offensichtlichenUnange-
messenheit auf denUrheber zurück.
Die eigene Disqualifikation des Urhe-
bersdieserspalterischenÄußerung ist
abernicht die einzigenegativ eWir-
kung, sondernführtauchdazu,dass
sichimmermehr bekennendeKatholi-
kenangesichtsdes übersteigerten Kon-
servatismus bestimmterKlerikervon
der Amtskircheabwenden. HatKardi-
nal Müller diesbei seinerÄußerung
mitbedacht?Er sollteals Kir chenmann
„Hüterder Schafe“sein und sie nicht
spalten.

PROFESSORDR.JUR.WERNERSCHMEKEN,
PADERBORN

ZurBerichterstattung über die Organ-
spende: Eigentlichhaben „Tempolimit
auf Autobahnen“ und „Organspende“
überhauptnichts miteinander zu tun.
Dennochgibt es jetzt eine Gemeinsam-
keit.Sowohl eine Geschwindigkeitsbe-
schränkung als auchdie Widerspruchs-
lösungwurdennämlichvondenBundes-
tagsabgeordnetenauf demokratischem
Wegmit Mehrheit abgelehnt.Mit an Si-
cherheit grenzenderWahrscheinlichkeit
wirdesaber durch diese Entscheidun-
geninbeiden Bereichen zuTodesfällen

kommen, die mit Tempolimit bezie-
hungsweiseWiderspruchslösung hätten
vermieden werden können. Gerade bei
der Organspende haben sichdie Parla-
mentarier die Entscheidung unbestrit-
tennicht leichtgemacht.Dies gilt es zu
respektieren.TrotzdemmussimInteres-
seder Betroffenen versucht werden,
nachder nächstenBundestagswahl
beide Gesetze zuFall zu bringen.Wir
Wähler haben es in der Hand.

THEO SAUER,WERNECK-MÜHLHAUSEN

Ichbin vonder Entscheidung des Bun-
destages, die Widerspruchsregelung
zur Or ganspende abzulehnen,totalent-
täuscht.Als „Lebendspender“einerNie-
re vor10Jahren mussteund habe ich
mir vorder Entnahme auchGedanken
über diese Aktion machen müssen. Si-
cherlic hwar meine Entscheidung eine
freiwillige. Allerdingswäre ohne meine
Spende die Empfängerin der Niere
höchstwahrscheinlich nicht mehr am
Leben.
Warum, so frageich mich, soll man
nicht erwarten können, dasssichjeder
Deutsche aucheinmal in seinem Leben
mit der Frageauseinandersetzt und
sichentscheiden muss, ob er imFalle
seinesTodes bereitwäre,seine Organe
zu spenden? Ichempfinde dievonden
Gegnernder Widerspruchsreglung im-
mer wiedervorgetragene Meinung,
dassdamit das „Selbstbestimmungs-
recht“aufgehoben wird,weder in Ord-
nung nochnachvollziehbar.Der Gipfel
wardie Aussageder ehemaligen
GesundheitsministerinSchmidt „Jeder
mussdie Freiheit haben, sichauch
nicht entscheiden zuwollen“.
ImLaufeeinesLebensmussmanvie-
le Entscheidung treffenoder auchMaß-
nahmen derPolitik hinnehmen, wie
zum BeispielSteuernzahlen.Vielleicht
sollteauchhier einmal Selbstbestim-
mungsrecht eingefordertwerden! So
nachdem Motto„mein Geldgehört
mir“! Undnicht demFinanzminister.
Für mich istdie Diskussion hinsicht-
lichder Or ganspende aucheine ideolo-
gische. Bei der,soBaerbockvonden
Grünen,könnenwiruns nichtmitande-
renLändernvergleichen,weil dor tan-
geblichalles andersist als hier.Warum
eigentlichnicht? Weil wir wieder ein-
maldieMoralweltmeistersind undmei-
nen, besser zu sein als andere?

Geht es aber umCO 2 -Werte,dann
sindVergleiche(zumBeispielSkandina-
vien) sofortbei der Hand, und auch
dortvorhandeneUnterschiede werden
aber verschwiegen. Aber das passt
dann natürlichauchnicht in die eigene
Diskussionskette und damit einherge-
hende Ideologie.Undesmutet schon
seltsam an, dassdie Mehrheit der Deut-
schen, laut einerUmfrage, für dieWi-
derspruchsregelung sind, die Mehrheit
des Bundestagesaber nicht.Vielleicht
sollten sichdie Abgeordneteneinmal
ein Beispiel am israelischenParlament
nehmen, das im Jahr 2010 klareStel-
lung zugunstender Or ganspende bezo-
genhat.Das dortigeGesetz schreibt
eine sehr dezidierte Vorgehensweise
vor. Unteranderem heißt es dort, dass,
wennzweiPatientenauf einSpenderor-
ganangewiesen sind, der/die mit einem
Spenderausweisvorgezogen wird. Das
istzwarweltweit einmalig, zeigt aber,
dassesauchandersgeht!
Aber wenn die deutschen Bundes-
tagsabgeordnetenbei einerOrganspen-
dedie Selbstbestimmungdes Einzelnen
so hochhalten, warumeigentlichdann
nicht auchbei derSterbehilfe?Warum
istesso, das swir uns gerneauf andere
verlassen?
Bereits heutesind wir an windstillen
Tagenauf (Atom?-)Strom ausNach bar-
ländernangewiesen, lehnenaber eige-
neAtomkraftwerke ab.ÜberEurotrans-
plant erhalten wir mehr Organe, als wir
abgeben, sind aber anscheinend nicht
inderLage, daranetwasändernzuwol-
len. Undbei der angesprochenenSter-
behilfemussein anderes Land aufge-
sucht werden, um die „Selbstbestim-
mung“ zu verwirklichen. Manchmal
habe ichdas Gefühl, wir leben auf ei-
nem anderen Stern.
WALTER MARHENKE,PARTENHEIM

VersöhnungüberdenGräbern


KeineVergleicheinderVergangenheit


WirWählerentscheiden


SelbstbestimmungbeiSterbehilfe

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