Frankfurter Allgemeine Zeitung - 16.03.2020

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SEITE 6·MONTAG, 16.MÄRZ2020·NR.64 Ereignisse und Gestalten FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG


D


er BundestaginBonn ist
am 28. Oktober 1969 bis
auf den letzten Platz be-
setzt .Zum er sten Mal in
derGeschichteist einSo-
zialdemokrat Bundes-
kanzler gewo rden. WillyBrandt gibt seine
Regierungserklärung ab. Sie isteine
deutschlandpolitische Sensation. Brandt
sagt,wieerderDDRbereitsvorabvertrau-
lichsignalisierthat:„Auch wenn zwei
Staaten in Deutschlandexistieren,sind sie
dochfüreinander nichtAusland; ihreBe-
ziehungen zueinanderkönnen nurvonbe-
sonderer Artsein.“ Mit dieser Formel
brichtderneueKanzlereinjahrzehntelan-
gesTabu. Bislang wirdder östlicheTeil
Deutschlandsvonden bundesdeutschen
Politiker nals SBZ,Zone oder „sogenann-
te DDR“ bezeichnet.
Auch im ba yerischen Pullach,wo der
Bundesnachrichtendienst(BND) seinen
Sitz hat, beginnt an diesemTagdie neue
Ostpolitik.Ein Analystlegt einenVer-
merkan, in dem er fragt, „ob in Zukunft
vonuns aufVeränderungenRücksicht ge-
nommenwerden sollte, denen dieAussa-
gekraf tder überkommenen Bezeichnun-
genfür den anderenTeilDeutschlands un-
terworfenist“. Der Beamtegibt zu beden-
ken, das sesschwierig sein dürfte, bei den
Bonner Lesernder BND-Geheimberichte
„weiterhinVerständnis für die Bezeich-
nung ,SBZ‘ zu finden“. DerVorschlag
setzt sichnicht sofortdurch.Inden BND-
Papierentauchen in denkommenden Mo-
naten dieBegriffe„Pankow“oder„sowjet-
zonal“weiter auf.
In Ost-Berlin wirddie Sprachänderung
in Bonn derweil aufmerksam registriert.
Der BND erfährtvon einem höheren
SED-Funktionär,dassBrandts Formulie-
rung vonzweideutschen Staaten in der
Führungsspitze der Parteipositiv aufge-
nommenworden sei. Ebenso positiv sei
wahrgenommenworden, dassBrandt das
Wort „DDR“ ohne Einschränkungen be-
nutzt habe.„Aus beiden Punkten“, so die
SED-Einschätzung, „lasse sichdie Hoff-
nung ableiten, dassdaraus weiter eSchrit-
te zur Verständigungfolgen“. DerRegie-
rungswechsel biete der DDR die Gelegen-
heit, mit der Bundesregierung ins Ge-
spräc hzukommen. Sie erwartedeshalb
„in absehbarer Zeit“ einen Brief von
Brandt.
Um sichein Bildvonder Lageinder
DDR zu machen, istBrandt auchauf den
Bundesnachrichtendienstangewiesen.
DerGeheimdienstist indieersten zögerli-
chendeutsch-deutschenKontakt evonAn-
fang an eingebunden. Präsident Gerhard
Wessel berichtet wöchentlichimKanzler-
amt über die Lageinder DDR.Außerdem
schickt er immerwieder einzelne Berichte
nachBonn und nimmtAufträge aus dem
Kanzleramt entgegen.
Dochdem Auslandsgeheimdienstfeh-
len in dem abgeschotteten Land die Spit-
zenquellen. Diewenigen undvagenInfor-
mationenreichen oftmals nicht, um ein
klares Lagebild über dieVorgängeund
Überlegungen in der SED-Spitze zu erhal-
ten. So wirddie Bundesregierung immer
wieder durch Vorstöße der DDR über-
rascht.
Am18. Dezember1969fahren zweiAb-
gesandteaus Ost-Berlin am Bonner Bun-
despräsidialamtvor. Siehaben einenBrief
des Staatsratsvorsitzenden Walter Ul-
bricht an Bundespräsident GustavHeine-
mann und den Entwurffür einenVertrag
zwischen der Bundesrepublik Deutsch-
land und der DDR in derTasche. In dem
Vertragsentwurfwirdvorgeschlagen, zwi-
schenbeidendeutschenStaatendiplomati-
sche Beziehungen aufzunehmen. In Bonn
und Ost-Berlin sollten Botschafteneröff-
netwerden. Anschließendwäre die DDR
zu einem Gewaltverzichtsabkommen be-
reit.Und beide Staaten sollten sichge-
meinsamumeineAufnahmeindieVerein-
tenNationen bemühen. Gleichzeitig solle
die Bundesrepublik den Anspruchaufge-
ben, ganz Deutschland zurepräsent ieren.
Mit der aktiven „neuenWestpolitik“
Ulbrichts hat in Bonn niemandgerechnet.
Hattenicht erst drei Tage zuvor der BND
berichtet,„dassdie DDR in der innerdeut-
schenAuseinandersetzung auf offizieller
EbeneweiterhingrößteZurückhaltungge-
genüber Bonn üben wird“? Ost-Berlin er-
warte„Taten“ der Bundesregierung. Dass
in Ost-Berlin ein Machtkampf zwischen
Ulbricht und Erich Honecker, die unter-
schiedliche deutschlandpolitischeVorstel-
lungen haben,tobt, bekommt in Pullach
niemand mit.
Der BNDversucht, Informationen zu
den Hintergründen der Initiativeaus der
SED-Führung zu erhalten.Kurz vorJah-
reswechsel erfährtder Geheimdienstvon
einem „leitenden SED-Funktionär“, dass
die Partei darauf spekuliere, „dassBonn
den Ball aufgreife und dann beikonkreten
Verhandlungen in Schwierigkeitengera-
tenwerde“. Die DDR, so die Quelle,wer-
de weiter offensiv bleiben, den Bundes-
kanzler direkt zu Gesprächen auffordern
und einenTermin vorschlagen. EineWo-
chespäter meldetder BND: Ein „höherer
SED-Funktionär“ habevertraulichmitge-
teilt, dassder Vertragsentwurfvon Ul-
bricht „persönlichinspiriert“, „aber zu-
sammenmitdenSowjetsvorbereitet“wor-
den sei. Die SED-Führunggehe da von
aus, dassBrandt in seiner bevorstehenden
Rede zur „Lageder Nation“ den Ost-Berli-
ner Vorschlag „nicht in Bauschund Bogen
ablehnenwerde“. Vielmehr erwartedie
SED nachder Rede „konkretere Kontakte
für den Beginn derVerhandlungen“.
Tatsächlichist Bran dtsRedeMitteJanu-
ar 1970 die öffentliche Antwortauf Ul-
brichtsVertragsentwurf. Brandt nimmt
den Ball aus Ost-Berlin auf und gibt ihm
eine andere Richtung und ein anderes
Ziel. Erwolle die Einheit derNation da-
durch wahren, „dassdas Verhältnis zwi-
schen denTeilen Deutschlands aus derge-
genwärtigenVerkrampfung gelöstwird“.
Sein Ziel sei es, durch ein geregeltes Ne-
beneinander zu einem Miteinander zu
kommen. Brandtgeht in die Offensive:
„Die Bundesregierung schlägt derRegie-


rung der DDRVerhandlungen auf der Ba-
sis der Gleichberechtigung und Nichtdis-
kriminierung über denAustauschvon Ge-
waltverzichtserklärungenvor.“
Am 22. Januar schickt Brandt einen
BriefnachOst-BerlinundbietetderDDR-
Führung, ohne UlbrichtsVertragsentwurf
zuer wähnen,einenoffenenMeinungsaus-
tauschund Verhandlungen an. Brandt
schlägtvor: Die „nachdem Grundsatz der
Nichtdiskriminierung zu führendenVer-
handlungen“ sollten „Gelegenheit zu ei-
nem breit angelegten Meinungsaustausch
über dieRegelung aller zwischen unseren
beidenStaaten anstehendenFragen, dar-
unter denengleichberechtigter Beziehun-
gen, geben“. Jede Seitemüsse aber frei
sein, „alleihrrichtig erscheinenden Erwä-
gungen,Vorschläge, Grundsätze und Ent-
würfe vorzubringen“. Die Bundesregie-
rung wünsche, „inVerhandlungen über
praktischeFragen zuRegelungen zukom-
men, die das Leben der Menschen imge-
spaltenen Deutschland erleichternkön-
nen“. Die SED-Funktionärereagieren
nachBND-Informationen „irritiert“ auf
Brandts Brief. Sie müssten „den nächsten
eigenen Schritt nun erst nochüberlegen“.

E

ndeJanuar erreichen den
BND Signaleaus Ost-Ber-
lin, dassBrandts Brief be-
antwortetwerden soll: Ein
„höherer SED-Funktionär“
habe vertraulichmitgeteilt,
dassdas Politbüroüber den Brief berate.
Zwar seien nochkeine Einzelheiten be-
schlossen, esstehe aberfest,dassdie DDR
Verhandlungen im Prinzip zustimme und
der Bundeskanzler zukonkreten Vorschlä-
genaufgefordertwerde. ZweiWochen spä-
terliegen demBND Details zumgeplanten
Antwortbrief vor. Der Geheimdienstbe-
ruftsichdabeiaufvertraulicheAngabenei-
nes „maßgeblichen SED-Funktionärs“.
BrandtsVorschlagfüreinGewaltverzichts-
abkommenwerdezwaraufgeg riff en, aber
mit der völker rechtlichen Anerkennung
der DDR inZusammenhanggebracht.Als
der BND die Meldung nachBonn schickt,
istsie allerdings überholt.
AbermalssindzweiDDR-Abgesandtein
Bonn vorstelliggeworden. Diesmalist das
Kanzleramt ihr Ziel. Das Schreibenvon
DDR-MinisterpräsidentWilli Stoph, wel-
ches sie dorteinem Beamten überreichen,
enthält die üblichenForderungen, aber
aucheinenkonkreten Vorschlag. Stoph
geht auf die OfferteBrandtsein, Verhand-
lungen aufzunehmen, und erklärtdie Ge-
spräche zur Chefsache: Er halte es „für er-
forderlich“, dasserund der Bundeskanzler
„zu direktenVerhandlungen zusammen-
tref fen“. Brandt solle „möglichstbald“ in
die „Hauptstadt der DDR, Berlin“,kom-
men. Stoph schlägt sogar Datumund Uhr-
zeit vor.
Voneiner plötzlichen Einladungwarin
der BND-Meldungkeine Rede. Der Ge-
heimdienstanalysiertspäter: „Pankow
möchteprüfen, inwieweitdieBundesrepu-
blik bereit ist, ihreOstpolitik durchKonzi-
lianz gegenüber der DDR zufördern.“
Brandt antwortetStoph und schlägt ein
TreffenimMärzvor.Zuvor solltenUnter-
händler das Gipfeltreffenvorbereiten.
Laut BND istdie DDR-Regierung über-
rascht: Sie habe nicht damitgerechnet,
dassBrandt aufStophs Schreiben positiv
reagiert.„MitRücksichtauf dasangestreb-
te Entspannungsalibi sowie im Interesse
der damitverbundenenVerleumdungsab-
sichtenwäre es Ost-Berlin sogar nicht un-
lieb gewesen, wenn die Bundesregierung
den Gesprächsvorschlag Stophs zurückge-
wiesen hätte.“Trotzdem habe die Annah-
me der Einladung–soein „zuverlässiger
Meldungshinweis“ –inOst-Berlin „trotz
gegenteiliger Erwartungen und ungeach-
tetder damitverbundenen Risiken–Opti-
mismus ausgelöst“.
Im BND gibt esgleichzeitig Befürchtun-
gen, das GipfeltreffeninOst-Berlinkönne
„Pank ow reizen, dem Besuchaus der Bun-
desrepublikgerade demonstrativ alle nur
erdenklichen pr otokollarischen Ehren an-
gedeihen zu lassen“.Mit Ehrenformation
und Nationalhymnekönntedie DDR die
Zweis taatlichkeit öffentlichdemonstrie-
renund symbolischdie stets gewünschte
Anerkennungdurch dieBundesrepubliker-
langen. Docheine BND-Quelleaus Ost-
Berlin beruhigt:Die DDR-Regierungver-
steheeineReiseBrandtsinderDDRalsAr-
beits- und nicht alsStaatsbesuch. Eswerde
keinen protokollarischen Aktgeben. „Der
Bundeskanzler brauche daher nicht zu be-
fürchte n,das serüberraschendenVerlegen-
heiten ausgesetztwerde.“ AndereQuellen

sprechendagegenvonPlanungenfüreinen
„großen Empfang mit Ehrenkompanievor
dem Staatsratsgebäude“, solltesichBrandt
dazu entschließen, Ulbrichteinen Höflich-
keitsbesuch abzustatten.
Nach kompliziertenVorgesprächenzwi-
schen denUnterhändlernbeider Staaten
einigen sicham12. Märzbeide Seiten dar-
auf,das erstedeutsch-deutsche Gipfeltref-
fenam19. MärzinErfurtstattfinden zu
lassen.Wohl auc hsowjetischer Druckund
der Unmut der osteuropäischen Bündnis-
partner hat zu dieser Entscheidung der
SED geführt. Da die Bundesregierung be-
reit gewesen sei, auf einen anderenVer-
handlungsortals Berlin auszuweichen, so
ein „gewöhnlichgut orientierterpolni-
scher VertreterinBerlin“, hätten „dieVer-
treter eines hartenKurses imPolitbüro
der SED einen schweren Stand gehabt“.
Die SED mussnun die thüringische Be-
zirkshauptstadt binnenweniger Tage für
dasTreffenundeinen internationalenMe-
dienansturmvorbereiten.Auch der BND
hat nun viel zu tun. Er mussnicht nur die
Vorgängeinder SED-Führung aufklären,
sondernauchdie Situation in Erfurtins
Visier nehmen. Ihmgelingt es, Anweisun-
gender Agitationskommission des SED-
Politbüros zu bekommen. Danachsei die
öffentliche Meinung in der DDR darauf
vorzubereiten, „dassvon demTreffenmit
Vertretern der derzeitigen BonnerRegie-
rung nicht viel zu erwarten ist“. In Be-
triebsversammlungen sollten dieAgitato-
rensogar behaupten: „Das Ziel der SPD-
Führung isteine spätereEinverleibung
der DDR in die Bundesrepublik Deutsch-
land bzw.die Liquidierung der DDR.“
Und: Der einzigeUnterschied zwischen
der CDU und der SPD sei die „sozialisti-
sche Fassade“derSPD.Vorallem befürch-
te die SED „falsche Hoffnungen in der Be-
völkerung“. EineVorgabe für die Genos-
sen in den Betrieben lautedeshalb: „Ge-
gendas Bonner Schlagwortvon den
menschlichen Erleichterungen istmit
dem Argument zu agitieren, dassdie
DDR-Bevölkerung Erleichterungen nur
aus einer Erhöhung der Produktivität und
derdamit verbundenenStärkungde sStaa-
tesbeziehenkann und nicht aus Almosen
der Bundesrepublik Deutschland.“

Z

weiTagevor dem Gipfel-
tref fenfindetimKanzler-
amt die letzteLagebespre-
chung mit BND-Präsident
Wessel statt.Erreferiert
zwanzig Minuten undkann
den Anwesenden ein mitgeschnit tenes Te-
lefonat zwischen SED-Propagandachef Al-
bertNorden und Alois Bräutigam, dem 1.
Sekretär der SED-Bezirksleitung Erfurt,
präsentieren.„1000Genossenoderwievie-
le Du für nötig erachtest“, will Norden
dem ErfurterStatthalterzur Verfügung
stellen, „damitnicht etwa die Kleinbürger
–besondersdainder Gegend Bahnhof,
‚Erfur terHof‘ usw.–damit nicht Kleinbür-
gerdas Bil dbeherrschen ...“.Die Infor-
mation, dassdie Telefonleitung eines
SED-Spitzenfunktionärserfolgreichange-
zapftwordenist, istsobrisant, dassWessel
die kleine Runde ausdrücklich auf den
Schutz solcher Quellen hinweist.„Werden
sie bekannt,wirdDDR sie sofortstopfen.“
InErfurtlaufen gleichzeitigdieletztenVor-
bereitungen für das Gipfeltref fen. Brandt
und Stoph sollensichimHotel „Erfurter
Hof“ treffen. Dortsind mehrstündigeGe-
sprächegeplant.
EinenTagvor demTreffenmeldetder
BND das Ergebnis einergeheimenUmfra-
ge der SED unter der DDR-Bevölkerung.
Danachhätten 70 Prozent der Arbeiter
auf dieFrage, ob die DDR ihrVaterland
sei, mit „nein“geantwortetund „Deutsch-
land“ als ihrVaterland bezeichnet. Fürdie
SED-Führung sei das Ergebnis „katastro-
phal“. Deshalb habe dortdie Tendenz be-
standen, dasTreffenzwischen Stoph und
Brandtkurzfristig scheiternzulassen. Ho-
necker, der Ulbrichts deutschlandpoliti-
sche Vorstellungen ablehnt, „habe imPo-
litbürotriumphierend darauf hingewie-
sen“, so der BND, „dasserder Einzigege-
wesen sei, der sichgegen dasTreffenvon
Brandt und Stoph ausgesprochen habe“.
An demTagvor demTreffenschickt
der BND mehrereMeldungen nachBonn.
Der Geheimdienstmeldetmit Blick auf
die DDR, „dassdie Er regung in der Bevöl-
kerung nochimmer zunimmt“. Offenbar
braut sichetwas zusammen. Deshalb, so
der BND, „wachsen die agitatorischen
und administrativen Anstrengungen der
Partei“. So müsse die SED „energischge-
gendie Parole vorgehen, es lohne sich, so-

fort nachErfurtzureisen,weil dor taus
propagandistischen Gründen imAugen-
blick–ähnlichwie gewöhnlichzur Messe-
zeit in Leipzig–die Schaufenster und Lä-
den gefüllt seien“.
FürBrandt und die Bundesregierung ist
bis zuletzt unklar,welche Absichten die
SED-Führung hat.Inder „Nachrichten-
dienstlichenFührungsorientierung“vom


  1. Märzschreibt der BND: „Das Mel-
    dungsbild lässt nochkeinen eindeutigen
    Schlusszu, ob die SED-Führung in Erfurt
    eine einmaligeKonfrontation sucht oder
    demErfurterTreffenweiter efolgenzulas-
    sen bereit ist.“Und: Brandtweiß nicht,
    wasihn in Erfurterwartet: ein or ganisier-
    terParteiaufmarschoder Demonstratio-
    nen vonJugendlichen?WenigeStunden
    späterrolltderSonderzugdu rch denEiser-
    nen Vorhang in ein unbekanntes Land.
    Schon am Morgenregistriertder BND
    in Erfurt, dassder Absperrgürtelumdas
    Bahnhofsviertelnicht umfassend ist. Eine
    halbe Stunde vorder Ankunftdes Sonder-
    zugs istder er steSicherheitsgürteldurch-
    brochen. EineStraßenbahn, die die Sicht
    auf den Bahnhofsvorplatzverdeckensoll,
    aber nachlautstarkem Protestder Erfur-
    terwegfährt, ist„das auslösende Mo-
    ment“. 4000 bis 5000 Menschenstürmen
    nun Richtung Hotel. In dieser Mengehät-
    tensichnachBND-Informationen auch
    1000 SED-Genossen befunden, „die auf-
    tragsgemäß ‚Pfui Brandt‘riefen“.


A

lsBrandtum9.30 Uhr zu-
sammen mitStoph den
Erfur terHauptbahnhof
verlässt und diewenigen
MeterüberdenBahnhofs-
vorplatz zum „Erfurter
Hof“ schreitet,brechen alle Dämme. Der
PlatzwirdendgültigvondenMenschenge-
stürmt .Ist das eineSED-Inszenierung?
OderhatdieParteidie Kontroll everloren?
AufFernsehbildernist Brandts ungläubi-
ger, erns terBlickzusehen. Die beiden De-
legationenretten sichschließlic himletz-
tenAugenblick ins Hotel. Die Mengeju-
belt und schreit undfordertschließlich
„WillyBrandt ansFenster!“.
Genau um 9.45 Uhr zeigt sichBrandt
schweigend am Hotelfens ter. Die Men-
schen auf dem Platz schreien auf, jubeln,
winken–niemandkann sie hindern. Der
Korrespondent der „New York Times“ be-
richtet:„Es warein Aufschreitief aus dem
Innersten, der sichand ie Deutschen in al-
lenTeilendesLandesrichtete undzubesa-
genschien: ,Wir sind einVolk!‘“
Für die SED istder spontane Jubel für
Brandt unter denAugender Weltöffent-
lichkeit eineBlamage.Der BND zitiertei-
nen ZK-Funktionär:„Wir haben eineNie-
derlag eerlitten.“ DiePartei steht vorei-
nem Problem:Wiesollen dieVorgängeauf
demBahnhofsvorplatzdeneigenenGenos-
senundderBevölkerungerklärtwerden?
Zwar wirdinden DDR-Medien nicht über
denZwischenfall berichtet,dochdie Nach-
richtverbreitetsichüber westliche TV-
und Radio-Stationen.Nach BND-Informa-
tionen schickt die SED-Bezirksleitung
nochamAbend eine „Direktive“ an die
Funktionäre. Die Genossen empfehlen ih-
renAgitatoren, für die „programmwidrige
Begrüßung“ desKanzlers„westliche Jour-
nalistenimBündnis mitverkleidetenPro-
vokateuren undfeindlichen Elementen“
verantw ortlic hzumachen.
Nachdem die SED die Ordnung auf
dem Bahnhofsvorplatz und in der Erfur-
terInnenstadt wiederhergestellt hat, be-
ginnen dieFestnahmen. Der Bundesnach-
richtendienstist über dieZahl derFestge-
nommenen detailliertinformiert. Nach
seinen Angabenwerden bis zumNachmit-
tagzirka 30 Menschenfestgenommen.
Zwei Tage nachdem Gipfeltreffenweiß
der Geheimdienstvon 119 „überwiegend
jugendlichenPersonen“, die in Gewahr-
sam genommen wurden.
Aber das deutsch-deutsche Gipfeltref-
fenist nochnicht zu Ende. Eine ähnliche
Blamagewie auf dem Bahnhofsvorplatz
willdieSED amNachmittaginderKZ-Ge-
denkstätteBuchen wald nicht nocheinmal
erleben. DortwirdBrandt zu einer Kranz-
niederlegung erwartet.Auf Brandtwartet
eine gelungene DDR-Inszenierung, die
ihn inVerlegenheit bringt.All das,was
sichBrandt für Erfurtverbetenhatte,wird
in der Gedenkstätteaufgeboten: Zwei Sol-
daten der Ehrenkompanie derNationalen
Volksarmee tragen den bundesdeutschen
Kranz in den Glockenturmzum ewigen
Feuer,weiter eUniformierte mit Stahl-
helm undKalaschnikow bilden das Spa-
lier.Dahinterstehen schweigende Men-
schen, rote Fahnenwehen im eisigen
Wind. Alles wirkt wie einStaatsbesuch.
Brandtistineinepr otokollarischeFallege-
tappt. Indem er das Protokoll, die Fahnen,
Hymnen und Soldatenrespektiert, so das
Kalkül derSED-Genossen,zolltersymbo-
lischdie erhoffteAnerkennung. Der BND
hatteden Kanzler nichtgewarnt. Den Be-
suchinder Gedenkstättehatte ihm ein
neuer Mitarbeiter vor geschlagen. Sein
Name: Günter Guillaume,Top-Spion der
DDR-Staatssicherheit, Deckname „Han-
sen“. Es istunklar,obGuillaume aus eige-
nem Antrieb den Gedenkstättenbesuch
vorgeschlagen oder ob er imAuftragge-
handelt hat.
Nach dem Gipfeltreffenstellt der BND
aucheine „Beurteilung des ErfurterTref-
fens dur ch Pankow“zusammen. Die Ana-
lyse beruht auf „internen Informationen
aus demFührungsapparat“ der SED. Da-
nach werdedasTreffenzwiespältig bewer-
tet: Einerseitsglaube die DDR, sie habe
politischen Gewinnverbuchenkönnen,
andererseits hätten sichunerwartet
Schwächen der eigenenPositiongezeigt.
Der BND istsichdeshalb sicher:„Fürdie
mitteldeutsche Bevölkerung wirddies in
nächs terZeit eine spürbareVerhärtung
des innenpolitischenKurses der SED zur
Folgehaben.“Ein JahrspäterstürztHone-
cker seinen Mentor Ulbricht.


Der Verfasser,ein His toriker, arbeitetals
Journalist beim MitteldeutschenRundfunk.

Angezapft: Der Bundesnachrichtendiensthörtmit. Abbildung BND

Inszenierung oderKontrollverlust? Brandt in BegleitungvonWilli Stoph,
demVorsitzenden des Ministerrates der DDR Abbildung BStU

Undnun? Brandt undStoph sind im „ErfurterHof“ verschwunden, die gut bewachteMengeharrt aus. Abbildung BStU

Im März1970 reistBundeskanzler


WillyBrandt (SPD) zum ersten deutsch-


deutschen GipfeltreffennachErfurt.


DerBundesnachrichtendienstist in


die Vorbereitungeneinbezogen.


Dochdie Informationenaus Pullach


sindoft widersprüchlich.


VonDr. Jan Schönfelder


WillyBrandt


ansFenster!

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