Frankfurter Allgemeine Zeitung - 16.03.2020

(coco) #1
FRANKFURTER ALLGEMEINE ZEITUNG Feuilleton MONTAG,16. MÄRZ 2020·NR.64·SEITE 9

E


iner vonuns findetbeim Es-
sen (wir sind zu viert, derAb-
stand zum Nebentischbeträgt
gut anderthalb Meter), das Schließen
der Berliner Klubs habe auchsein Gu-
tes. Denn dasvorläufig eEnde der
„Tanzlustbarkeiten“, wie es im Amts-
jargon der Lokalbehörden heißt,kön-
ne zu einer neuen Besinnung führen,
einer Konzent rationdes zurStille ge-
zwungenen Individuums auf sich
selbstund, nun ja, einerAbkehr vom
Hedonismus, indem der Menschsei-
ner „Essenz“gewahr werdeoder so
ähnlich. Schweige nsenkt sichbei die-
sen Worten über denTisch. Wirwis-
sen nicht,wozu dasvorläufig eVerbot
derTanzlustbarkeitenführt.WirdBer-
li nnochBerlin sein? Einevonuns
sagt,Tanzen seiAusdruc kvon Frei-
heitundAusgelassenheit,manverges-
se den Alltag, wasdenn daran
schlecht sei?Berlin fehle etwas, wenn
nicht getanzt und gefeiertwerde.
Auch darüber denken wir nach. Ei-
gentlichaber fragen wir uns,waswir
überhauptwissen können über die be-
vorstehendenWochen. Wird auchbei
uns dieAusgangssperre kommen wie
in Madrid? Mussdie Bundeswehr ein-
greifen?Könnenwirmaßvollundsoli-
darisc hsein, wenn wir die wichtigsten
Hamsterkäufeerledigt haben?Wer-
den wirteilen lernen,Rücksi chtneh-
men und all das? EineSzene amTag
darauf gibt die Antwort. Die Käsefrau
aufeinem beliebten BerlinerWochen-
markt empfängt einevonuns mit den
Worten: „Duglaubstjanicht, washier
heutelos war!“ Der Markt sei bre-
chend voll gewesen, die Leutegierig
und gereizt, ständig sei sie zur Eilege-
triebe nworden, einmalhabe ein
Menschvor ihrgestanden, amKäse-
stand, und mitTränen in denAugen
gesagt:„Jetzt haben wir bald nichts
mehr zu essen!“ Dabei, so dieKäse-
frau, sei derganze Wochenmarktvol-
ler Essengewesen.Nur später,dasei
derMarktabgegrast undleergefressen
gewesen, als sei ein hungrigesHeer
hindurchgezogen. Später berichtet
eine Bekannte, in dreiverschiedenen
Supermärkten sei dasToilettenpapier
wiederaus gewesen,ein Typhabe vor
leerenRegalen gestanden und lautge-
schimpft, inwelchem Land er eigent-
lichlebe, daskeine Hygieneartikel
mehr verkaufe, und als erzur Antwort
bekam, er lebe in einem sehrreichen
Land, er solle sich nicht so aufregen,
da sei er schimpfend abgezogen. Die-
selbe Bekannteerzählte,imBioladen
seien allegetrocknetenHülsenfrüchte
geplündertsowie sämtlicheKonser-
venbis auf Ananas und Pfirsich, auch
allesMehl seiweg, alleveganen Brot-
aufstricheundfast dasgesamteFrisch-
gemüse,aberdas warauf demWo-
chenmarkt janicht anders.Wenn man
das gesehen hat–unsere krisenfeste
BevölkerunganeinemsonnigenMärz-
wochenende, gerade er st auf der
Schwelle zu einerstrengerenZeit –,
dannkannmansichdieBerlinerTanz-
lustbarkeiten nur schleunigstzurück-
wünschen,dazu daslautestedenkbare
Bummbumm und einengroßen,wei-
tenMantel desVergessens.

An der Schwelle


VonPaul Ingendaay

Das Verhängte mussangenommenwer-
den. Wo es um Leben undTodgeht,setzt
der Kunstgenussaus. MedizinischeNot-
wendigkeit verdunkelt den Spielraum
derPhantasie.ImErnstfallendetdieVor-
stellung,ohne dassder Vorhang fällt.
AlskleinemJungenfielAle xanderKlu-
ge die Rolle des Botenzu, der im Theater
diese plötzlicheUnterb rechung zuver-
künden hatte. Flüsternd, denn seine Bot-
schaf twar nur für das Ohr eines einzigen
ZuschauersbestimmtunddurftedenVor-
stellungsbetrieb nichtstören. SeinVater
warinHalberstadt der Theaterarzt, saß
vonAmts wegenimParkett. Wenn ihn
derRufderhöherenimSinnevonakuten
Pflicht ereilte, nahm derAbend gewöhn-
lichnocheinheiteresEnde,dennDoktor
KlugesFachgebietwar die Geburtshilfe.
Undwaser versäumthatte,warnicht ver-
loren,weil auf die Premiereeine zweite
Vorstellung folgte.
„Die Oper“, sagt Alexander Klugeam
Freitag inStuttgart, „istnicht der Opern-
abend.“Der typische Opernbesucher
kennt die Oper schon, die auf dem Pro-
gramm steht, und ihm sind auchandere
Operngeläufig. So erschließt sichihm
die OpernweltimWieder erkennen. Klu-
ge führtVerdi, denFavoritenseines Va-
ters,als Beispiel an. Der Mörder im „Ri-
goletto“undderGroßinquisitorim„Don
Carlos“ hätten dieselbe Musik.Also
schließe das Ohr:„Der Großinquisitor
istein Mörder.“ Mangeht in die Oper:
An diese alltäglicheFormel knüpftsich
ein Verdacht gegendie Gattung und ihr
Publikum. Die Oper,soscheint es,wen-
detsichanLeute, denen das einzelne
Werkgleichgültigist.KlugekehrtdiePer-
spektiveum: Fürihn macht es die Quali-
tät der Gattung aus, dassdas einzelne
Werk nicht für sichbesteht .Man geht in
die Oper,weil an jedemAbend dieganze
Gattung auf die Bühnekommt.
Im Württembergischen Kunstverein
hat Klugeeine Ausstellung eingerichtet,
die diesesGanze zum Gegenstand hat,
aber nicht im Sinne einerTradition,die
sichselbsterklären könnte. Auch umfas-
sendsteRepertoirekenntnis macht nicht
plausibler,wasinjederbeliebigenOpern-
aufführunggeschieht:Die Handelnden
singen. Oftversteht man nicht,wassie
singen.Viel un verständlicher ist, dasssie
singen. „Eigentümlichabwegig“ nennt
Klugediese Spielregel: „Machen Sie das
mal in einerVorstandssitzung!“
Vonseiner Initiation in dieseverrück-
te Welt erzählt Klugeauf seine Art, also
inFormder Anekdote.Er hättenicht hö-

rendürfen, waserzu hören bekam:Was
gespieltwurde, als er einmal denVater
herausholen musste, war„nicht jugend-
frei“ –Puccinis„Tosca“.Er platzte inden
zweitenAkthineinunderlebtedieFolter-
szene, die er mit seinen fünf oder sechs
Jahren nicht verstand. „Auchspäter
habe ichnicht vielverstanden.“
Klugeist wie Verdiein Meister der
WiederverwendungvonMotiven, und so
schickt er gleicheine Varianteder Ge-
schichtehinterher.Ein paar Jahrespäter,
als er schon Latein lernte, besuchteer
zwei Wochen lang dieNachmittagsvor-
stellung im Kino und sah vierzehnmal
die Verfilmung eines anderenWerksvon
Puccini, der „Kitschoper Butterfly“. Was
bracht edemGymnasiastendasKontrast-
prog ramm zu Ciceround Seneca?Wie-
derholtes Studiumvon„Madame Butter-
fly“ schufkeine Vertrautheit. „Es war
nicht mitVerständnisverbunden.“
Werden Kuppelsaal desKunstvereins
betritt, istumgebenvonfarbigenPappfi-
gurenundversteht,dasserine inemBüh-
nenbildsteht.Und sonstversteht man
nichts,wenn man nichtAbonnent der
Stuttgar terStaatsoperist.Was tun die
beiden bärtigen Alten? Der eine kniet,
der anderesitzt, und wie ein Arzt macht
sichder eine am Leib des anderen zu
schaf fen, aberreißt er ihm nicht mit bei-
den Händen das Bein entzwei? Man
wärenichtschockiert,aufeineFoltersze-
ne zustoßen, istals Operngänger auf
Marternaller Arten eingestellt. Hat Neo
Rauchhier den Pinselgeschwungen?
Nein, aus Tintorettos„Fußwaschung“
im Prado hat AnnaViebroc kdie beiden
Apostel in ausgesprochen drolligerStel-
lung herausgeschnitten. Dervermeintli-
cheBeinspalteristeinStrumpfauszieher.
Schonwährend der Ouvertüreließen
Jossi Wieler und Sergio Morabitoinih-
rerInszenierung der Berenike-Opervon
Niccolò Jommelli ihrPersonal vonZer-
sprengten und Gestrandetendie Kostü-
me wechseln. Die Oper:eine Kleider-
kammerfürWeltflüchtlinge.DieOpern-
vorstellung: eine General-Anprobe–je-
der Zuschauer spielt im Geiste durch,
welche Rolle für ihngedacht seinkönn-
te.JommelliwarWielersVorgänger als
Intendant unter Herzog CarlEugen von
Württemberg.EinerLegende zufolgeun-
tersagteernachder Premierealle weite-
renAufführungen,weil ihndieSzene, in
der sichdie HeldinvomSchatten ihres
totgeglaubtenVerlobten verfolgt wähnt,
zu sehr bewegt hatte. MitFilmcollagen
und Bilderserien führtdie Schau in

neunKapitelndie Kommentarbedürftig-
keit und damit die Modernität der Gat-
tung vorAugen. Klugearbeitet dabei
mit der Hypothese, dassindiesemFach
wissenschaftliche Erläuterungen allein
dasKommentarbedürfnisnichtbefriedi-
gen. Er versteht sic hals „Souffleur“. Als
montierte Erzählungenverwandeln sich
seine Kommentare den Originalen an.
Undflüstern dem Zuschauer ins Ohr,
dassdie Triumphmärsche inWahrheit
Fluchtwegekartieren. Indemdiese Deu-
tungen sicheng an dieVorlagen halten,
sollen sie sicheinnisten, in der Symbio-
se zu Ohrwürmernwerden. „DieWeis-
heitdesVirus: Es darfden Wirtnicht tö-
ten. Corona mussdas noc hlernen.“
HätteAlexander Klugeamwürttem-
bergischen Hof ein Engagement als
Kanzlergehabt, hätteerdem Patron
Jommellis vielleicht helfenkönnen,in
ein freiesVerhältnis zu seinem Erlebnis
der Überwältigung zu treten. Er hat für
die Opernpause das Genreder „Minu-
ten-Oper“ entwickelt, einer pointierten
Nach erzählung, die der Handlung eine
andereWendung gibt, ohne die Integri-
tätdes Werkes anzutasten. So gibt er der
Kitschoper Butterflyeinen Epilog bei,
der allerRührung den Garaus macht:
Ausdem Sohn der Schmetterlingsdame
soll ein amerikanischer Marineflieger
geworden sein, der 1943 beim Angriff
auf Tokio auchdas Holzhäuschen zer-
störte,indem er gezeugt worden war.
Klugehat derAusstellung den Titel
„Der Tempel der Ernsthaftigkeit“gege-
ben. Das Ernsthafte wirdimOpernhaus
verehrt,indemdasUnverständlichekulti-
vier twird:derStoff,ausdemdieTrauma-
ta sind,Rohstoff unmöglicherVergan-
genheitsbewältigung, dasAggregat mo-
tivloser Bosheiten undtörichter Zufälle.
Es is tKlugewichtig, dassman aus den
Fenster ndes Kunstvereins das Opern-
haus sieht.Gegenüber dem Kraftwerk
der Gefühle hat er einenTransformator
der Gefühle in Gedanken installiert.
EinstweilenwirdernichtinBetriebge-
nommen. Beim Mittagessen amFreitag
erhält Klugedie Nachricht, das sdie Aus-
stellung nicht eröffnetwerden darf.
„Man mussestragennac hden Regeln
derStoa.“DasistmittheatralischerWür-
degesagt.Aberschonimnächs tenAtem-
zugimprovisier tKlugedenPlaneinesBe-
helfsbetriebs.Dennschließlichgehterin
die Oper,weil er sie nichtversteht.„Ich
glaube nicht an die Macht des Schick-
sals. Ichglaube an die Möglichkeitvon
Notausgängen.“ PATRICKBAHNERS

Überdie WeisheitdesVirus


WieAlexander Klugedie Absageseiner Stuttgar terAusstellung erlebt


Z


weiJahrenachBeginn der Qua-
rantäne treffensich Menschen
fast nur nochauf Bildschirmen.
„Wiesosollte ichrausgehen?“,
fragt einTeenager.„Da mussman nur
alle Immunwerte neuchecken, undwenn
man zurückkommt,wirdman ausgezo-
gen, dann hartabgeduscht,und dann
mussman mindestens dreiTage in einer
Blase sitzen. Da bleibe ichlieber hier bei
dir.“ Die Liebeserklärung gilt einerMa-
schine. Denn derRoman „The Compani-
ons“ vonKati eM.Flynn, ein lakonisch-
poetisches Debüt,das am 3. Märzinden
VereinigtenStaatenerschienen ist, han-
deltnicht alleinvon denAuswirkungen
einer Pandemievon Kalifornien bis Sibi-
rien,sondern vorallem vomTrost ,den
Menschen bei Apparaten suchen,wenn
sie einandernicht mehrküssen (oder an-
rempeln) dürfen.Die „Companions“,
vondenen dasBucherzählt,sindeinebe-
sondereSorte Robote rmit Bewusstsein –
allerdingsnicht dem synthetischen, mit
dem sich Lehreund Technik de rKünstli-
chen Int elligen zbefassen,sondern einer
Kopiemenschlichen Erlebens.
DieWissens chaftkannbei Flynn zwar
nicht dasDenkensynthetisieren,aber
eineGesamtabbildungvonHirnzustän-
denineinem spezifischenMomenterstel-
len,einen Schnappschuss, ausdem dann
ein RechnerReaktionen auf neue Daten
und Gedankenextrapoliert; etwa so, wie
ein Foto sich im Computer animieren
lässt.LebendeMenschen sollennichtver-
doppeltwerden,man machtvonihnen
nur Hirnbilderder beschriebenen Art,
die er st dann inRobotergehäusen akti-
viert werden dü rfen,wenn dieUrbilder
totsind.Die FirmaMetis, die das ermög-
licht,gehört in „The Companions“ zu
den Profiteuren der Seuche (wieinunse-
rerWirklichkeit derzeit Streamingdiens-
te undVersandanbieter).
Flynns traurige,abernich thoffnungs-
lose Prosamusikist ausmehrerenStim-
mengewoben; die wichtigsteheißt Lilac,
eine Maschinemit Erinnerungen, die
versuchenmuss ,zwischenVergangen-
heit, lebendenMenschen un danderen
Companionseinen Wegdurch die Welt
derMassenkrankheitund du rch die Zeit
dana ch zu finden .Wennsie leise sein
will ,umnicht bemerkt zuwerden,denkt
sierührend über „mein Surren“ nach,
ihrehörba re,kleine Spur, undwennsie
umarmt wird,schämt sie sich, denn „ich
kann es nicht spüren“.Stolz is tsie aber
auch,nämlic hauf di eHilfe,die si eihrem
Teenager-Schützling Dahlia leistet: „In
derIsolationist es fü rLeute nicht leicht,
Mitgefühl zu entwickeln.Meine Nähe
hatDahlia aberdazu gebracht, nichtnur
an si ch zu denken.“

Siechtum ohne Sicherheit

Das Gleichnis im Herzen desTextes ist
kinderleicht zu verstehen: Dinge, die
fremde Seelen bergenund uns Gesell-
schaf tleisten, gibt es ja wirklich, wir nen-
nensiezu mBeispiel„Bücher“.„TheCom-
panions“ istkeine Apokalypse; behandelt
wirdetwadie Fragenachder Verantwor-
tung für die Epidemie eher nebenbei, die
grausigeAntwor tspielt fast keine Rolle,
dafür dieZeit nac hder Seuche und nach
einem „Rückruf“ der Companions, die
nichtmehrgebrauchtwerden,aberweiter-
lebenwollen und sichalso verstecken
müssen. Das pandemischeKatastrophen-
geschehen wird nichtalsAttraktionausge-
malt, sondernist Rahmenbedingung ei-
ner Tiefenbefragung menschlicher und
nichtmenschlicher Möglichkeiten.
Dasverbindetdiesen Romanmitdenli-
terarischbestenScience-Fictio n-Texten
über Weltkrisen, die seit der Jahrtausend-
wendeerschienensind,etwa dem imGen-
re maßstabsetzendenRoman„Gamechan-
ger“ (2019)vonL.X.Beckett, der zwar
mit obdachlosen Kindernbeginnt, die
vonmobilenGreifkommandos als mögli-
cheAdoptivmündel fürreiche Überleben-
de eines Zivilisationszusammenbruchs
vonder Straße geholt, aufVirengetestet
und im Krankheitsfall einfachweggewor-
fenwerden, dann abervorallem vomlan-
genWeg zurück zur Weltgesellschaft
nachdem Kollaps handelt.
So einKollaps kommt auchimRoman
„The Peripheral“(2014)vonWilliamGib-
sonvor (eineFortsetzung dazu namens
„Agency“ istgerade erschienen). Dort
heißt er „Jackpot“ und wirdsobeschrie-
ben: „Dürre,Wasserknappheit, Missern-
ten, Bienensterben, Wegbrechen anderer
Schlüsselarten, dieletztenSpitzenraubtie-
re verschwunden, Antibiotikanochun-
wirksamer als zuvor schon, Krankheiten,
die nie die eine, absolutePandemiewa-
ren, aberverbreit et genug, um historische
Ereignisse zu sein.“
Nüchtern klingt das,resignativ auch–
im zwanzigstenJahrhundertlasen sich
Bücher übersdenkbareSchnellsiechtum
hochentwickelter Gemeinwesennochwe-
sentlichaufgeregter;imStephen-King-
Wälzer „The Stand“ (1978, erweitert

1990) löscht ein ErregerunsereGattung
fast aus, den King „Captain Trips“ nennt.
Derzeit istes, wie man aufTwitter liest,
dem Schriftsteller garnicht recht,dass
verpeilte Spaßvögel das neue Coronavi-
rus, das diegegenwärtigeWeltgesund-
heitskrise ausgelösthat, „PrivateTrips“
nennen („Private“ bedeutet etwaswie
„Schütze“ oder „Matrose“ im Sinn des un-
terstenDienstg rads).
WerVerschwörungstheorien schätzt,
mag den Roman „Eclipse: Corona“
(1990)vonJohn Shirleyausgraben, den
dritten Band derTrilogie „A Song Called
Youth“,indereinWeltfaschismusbiologi-
sche Masseninfektionswaffengegen die
Opfer seines Rassismus einsetzt (das
Wort„Corona“ imTitelbeziehtsichaller-
dings auf eine Sonnenfinsternismeta-
pher). Die moderneUrmutter derText-
art, zu der alle hier bishergenannten
Schrif tengehören, istMaryShelley, die
nicht nur mit „Frankens tein“ (1818) die
neuzeitliche Wissenschafts- und Tech-
nikphantastik vorgeformt hat, sondern
mit „The LastMan“ (1826) aucheine Zu-
kunftswelt entwarf, in der eine neuePest
den Fortschritt frisst.Man hat dem Buch
fast zweihundertJahrelang of tvorgewor-
fen,darinwerd enicht genügendzu künfti-
ge Technik imaginiertund zu wenig Kul-
tur vonmorgen: die LeuteimBuchhören
immer nochMozart, lesen immernoch
Go ethe, fliegen im Ballon.

Werglaubt an Krankheiten?

Nunja,wir lebenin ShelleysZukunft,hö-
renimmer nochMozart, lesenimmer
nochGoethe undfliegen immer nochim
Ballon.Vorallem aberhat sich bei uns
mentalitätsgeschichtlichgenau dasentwi-
ckelt, wasShelleys Buchvoraussah:ein
Verkümmerndes Vorstellungsvermö-
gens im Blick aufGefahren, dieNaturei-
genschaften haben, dasheißt solche, die
man mit Debatteund Verwaltungallein
nichtinSchachhalten kann. Wasvielen
Stimmen,die sic himZusammenhang
mitdemneuen Coronavirus zuWortmel-
den, evident fehlt, sind sowohl erzählba-
re wie argumentfähige Begriffe vo nSta-
tistik,Verständnis fürVeränderungsra-
tenund einWahrscheinlichkeitsempfin-
den. Hinter diesen Mangelerscheinungen
deröffentlichenKommunikation,die
mitdiskursiver Fehlernährungzusam-
men hängen,steckt aber ein ärgeresPro-
blem: Sprachverarmung.
Kindernund anderen Unkundigen
mussman Gleichungenmittels Worten
erklä ren; niemandaußer Maschinen
lernt um gekehrtSprache per Mathe.Wo
aberdie Sprache zuKurznachrichteng e-
sch natterzusammenschnurrt, stellt si ch
dasein,was Karl Krau sbefürchtete, als
er in der „ Fackel“ vomJuli1934 schrieb:
„Denn selbst an di eGrippe glaubt einer
erst,wennersie ha t–wenigstens seit
derErfindung desMittels, dasihre
Kenntnisverbreitet.“
Das „Mittel“ derGrippenachrichten-
verbreitung, das er meinte,wardie P res-
se.Krauswollte hier mitteilen, dassder
Nationalsozialismus, um den es in jenem
„Fac kel“-Hef tging, nur entstehenkonn-
te,wodem Gemeinwesen die Phantasie
fehlte,sichauszumalen, wie schlimm die-
sespolitischeUnheil warund werden
konnte .Krausglaubte, dassdiesesDefi-
zitvon einerAusdrucksverderbni sher-
kam, die in modernen Massenmedien
grassie rt,daman dortinE ile, am indus-
triellen Fließband,Sätzebastelt, dieals
Ramschund Schund desWortes den Ge-
danken töten, weil dieseSätzenicht
mehr aus der Suche nachdem richtigen
Begrifffür de neinzelnen Sachverhalt
hervorgehen, sondernkonventionelle
Förmchenaufalle Dinge pressen,vonde-
nen si ehandeln.
Wo der Mitteilungsalgorithmus „Ko-
pieren undWeitersagen“ heißt, wirdÄu-
ßerungen ihreWahrheit aus der Satzge-
stalt gespült,unddas Publikum, dasüber-
all vonder Grippeodervom Faschismus
liest, „glaubt“ bald nicht mehr an sie in
demSinne,dass es sie als so blassund
durchsichtig empfindet, wie etwas
sprachlichschnellAbgenutztes,litanei-
haft VorgebetetessichimKopf ,imAuge,
imOhr au flöst. Fürs Internetgilt diese
Diagnose des„Fackel“-Herausgebersin
schwindelerregender Potenz: hier fällt
das KollektivhirninSchleichfieber.
Washilftdagegen? Gibt es ein Heilmit-
tel, eine Impfung?Nureines; es istnicht
leicht zu erlangen: DieNeuentdeckung
der Sprache als zwar abstraktes, aber le-
benswichtiges, unsichtbares Sinnesorgan,
dasvorausspürtundnachdenkt. Daskann
dermenschlichenOrientierunginderKri-
se sagen,wasesweiß, wenn man es lässt.
Ge genEnde von„The Companions“
steht eine Maschine viele Jahrenachder
Seuche da,wo früher trockenes Landwar,
in SanFrancisco,küstennah, und spürt,
denkt, sagt:„Die Fußballfelder sind leer,
aufgegeben, getränkt vonWasser,das
durch den Boden sickert.Sooder so, der
Ozeankommt.“ DIETMARDATH

DieImpfung


derSchrift


Die Kunstmessen desFrühjahrssind
in Europawegendes Coronavirus ab-
gesagt oderverschoben (F.A.Z.vom
14.März). Diegrößeren Galerien mit
Publikumsverkehr haben in Europa
und in Amerikavorübergehende
Schließungen, wenigstens Besichti-
gungen nachVereinbarung bekannt-
gegeben. Jetztreagieren dieglobal
agierendenAuktionshäuser,ammas-
sivsten dieFirmaChristie’s, die zum
Imperium des französischenUnter-
nehmersFrançois Pinaultgehört. Die
meistenStandorte werden geschlos-
sen, dievonMitteMärzbis MitteMai
in Parisund NewYorkangesetzten
Versteigerungen verschoben. Welt-
weit schließt Christie’svon heutean
27 Büros;geöffne tbleiben inredu-
zierterFormnur Amsterdam, Genf,
ParisundLondon.ÄhnlicheMaßnah-
men ergreiftdas Auktionshaus Phil-
lips, das derrussischen Investoren-
gruppe Mercurygehört. Sämtliche
Versteigerungen und Veranstaltun-
gensind weltweit bis MitteMai abge-
sagt.Das Haus Bonhams, das der
amerikanischenAuktionsfirma But-
terfields gehörtund die meistenVer-
steigerungen in Großbritannien ab-
hält, erklärtdagegen, bis aufweiteres
alle Verkaufsräume offenzuhalten
und mit denVersteigerungenfortzu-
fahren. rmg

Eine seiner
Gegengeschichten
zur Opernkonvention
lässtKluge
HelgeSchneider
erzählen.
Foto Alexander Kluge

„The Companions“vonKatie M. Flynn ist


das Buchder Stunde: Eine Epidemiedichtung


aus denTraditionstiefender Phantastik.


Auktionshäuser


schließenBüros

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